Tomi Ungerer, geboren
1931, stammt aus einer Straßburger Uhrmacherfamilie. Er verpatzte die Reifeprüfung,
trampte dafür durch ganz Europa und veröffentlichte erste Zeichnungen im legendären
‚Simplicissimus’. Mitte der 50er Jahre ging er nach New York, wo sein unaufhaltsamer
Aufstieg als Zeichner, Maler, Illustrator, Kinderbuchautor und Werbegrafiker begann.
Nach einigen Jahren auf einer Farm in Nova Scotia, Kanada, lebt er heute mit seiner
Familie im Südwesten Irlands und in seiner Heimatstadt Straßburg, die ihm 2007 ein
eigenes Museum gewidmet hat. Der Elsässer hat ein Werk hervorgebracht, das an Vielfalt
kaum zu überbieten ist. Seine Plakate und Zeichnungen haben in ihrer Schärfe Epoche
gemacht. Die mittlerweile fast über 100 Kinderbücher aber, mit denen in den späten
fünfziger Jahren alles begann, zählen mit unvergesslichen Titeln wie ‚Die drei Räuber’
oder ‚Kein Kuss für Mutter’ sowie ‚Otto’ zu den Klassikern dieses pädagogischen Genres.
Herr
Ungerer, Sie blicken auf eine weit über 60 Jahre erfolgreiche, künstlerische Tätigkeit
zurück und gelten heute weltweit als ein Multitalent, als einer der besten Zeichner
unserer Zeit. Aus Ihren Werken kann man erkennen, dass Sie den Humor, die Satire beherrschen,
die Menschen, vor allem die Kinder, lieben. Vielleicht sind Sie aber auch jemand,
der sich jeglicher Einordnung entzieht, für manche sogar ein nicht ganz bequemer Freigeist.
Beginnen wir mit letzterem: hängt das zusammen, mit Ihrer Familie, Ihrer Erziehung
oder weil Sie Elsässer sind?
„Ja das hängt mit alldem zusammen. Der frühe
Tod meines Vaters, die Faschisten, die Nazis, das Elsass. All dies hat mich geprägt.
Wir Elsässer können gut vergleichen und später im Leben viel mehr Verständnis haben
für andere Minoritäten, die es noch zwanzig Mal schlimmer erlebt haben, als wir, wie
zum Beispiel die Juden, die Zigeuner und heute viele Menschen auf der ganzen Welt.
Ich leide an Weltschmerz, mein großes Problem ist mein Zorn, der überträgt sich dann
auf meine satirischen Zeichnungen, Ich sage immer, mir ist eine Barrikade lieber als
ein Stau”.
Sie haben Ihr Glück zunächst in der neuen Welt gesucht und auch
gefunden. Dann aber trieb Sie das Heimweh wieder nach Europa zurück. Seither leben
Sie abwechselnd in Straßburg und Irland. Was ist das, das Heimweh, für einen Menschen,
der stets das Neue sucht?
„Ja also Heimweh, wissen Sie, das ist ganz relativ.
Im Moment habe ich Heimweh nach dem Ozean und nach meiner Familie. Aber ich muss
immer sagen, meine Wurzeln liegen im Elsass. Wir Elsässer sind ‚Chamälionisten’. Wir
können uns sehr leicht überall adaptieren. Ich habe gelernt, dass es mit dem Lächeln
fast keine andere Sprache braucht. Und das ist das, was ich in Irland so sehr liebe:
es ist ein Land des grünen Lächelns”.
Vor wenigen Jahren konnten Sie eine
schwere gesundheitliche Krise mit drei Herzinfarkten und einer Krebserkrankung überwinden
und haben erneut zu Ihrer alten Produktivität zurück gefunden. War es das positive
Denken, war es der Humor, war es der feste Glaube, dass Sie da herauskommen werden?
„An
erster Stelle, das Akzeptieren. Man muss einfach akzeptieren, was auf einem zukommt.
Ich liebe die Herausforderung. Zum Beispiel mit dem Krebs, da habe ich gesagt: Tumor
mit Humor. Ich glaube, mit dem Humor kann man vieles, vieles überwinden. Ich bin glücklich,
Solange ich noch lesen, arbeiten und denken kann”.
Sie haben einmal den
‚Mut zur Hoffnungslosigkeit’ als Ihre Lebensphilosophie bezeichnet. War das reiner
Galgenhumor?
„Nein, nein. Wissen Sie, schon seit meiner frühen Kindheit
musste ich lernen, die negativen Elemente des Lebens zu positivieren. Und das kann
ich mit meinem Willen tun. Aus der Hoffnungslosigkeit ist für mich eine Energiequelle
geworden. Und wenn ich zweifle, dann ist das Zweifeln bei mir ein positives Zweifeln.
Das bedeutet: alles ist möglich. Alles ist akzeptabel. Man muss sogar den Zweifel
positivieren”.
Vor vielen Jahren haben Sie den Tod einmal als Quelle der
Kraft bezeichnet. Sehen Sie das im Alter genau so?
„Ja sicherlich. Wissen
Sie, ab dem Moment wo man geboren ist, ist man zum Tode verurteilt. Und ich war schon
ein paar Mal tot und ich habe sogar eine Sehnsucht nach dem Tod. Ich erinnere mich,
dass ich dabei kein Sündengefühl mehr hatte, kein Schuldgefühl mehr. Ich habe nie
in meinem Leben so intensiv eine Schuldfreiheit gefühlt, als wenn ich im Koma lag.
Und das ist eine enorme Erfahrung”.
Es ist bekannt: neben Ihrer künstlerischen
Arbeit setzen Sie sich sehr für soziale Aktionen ein, zum Beispiel für die Integration
von Ausländern, für jugendliche Straftäter, für Aidspatienten, für an Krebs erkrankte
Kinder. Kann man als Ironiker und gelegentlicher Zyniker ein echter Philanthrop sein?
„Also,
entweder ist man Mensch oder nicht. Und wenn man Mensch ist, dann muss man Mitmensch
sein. Ich bin wirklich ein Moralist, ein Humanist und Pazifist auch im politischen
Sinn. Ganz besonders in den letzten 25 Jahren, bei dem Aufbau der Freundschaft zwischen
Frankreich und Deutschland. Das ist für mich eine Riesenmission gewesen. Und ich habe
dieses enorme Glück, dafür sogar anerkannt zu werden. Am Anfang war es schon schwierig
– von der französischen Seite her – da habe ich sogar Todesdrohbriefe gekriegt. Kommst
du zurück nach Frankreich, wirst du erledigt….Aber die Zeiten ändern sich. Wissen
Sie, in der alten Zeit habe ich gesagt: Elsass ist wie eine Toilette, immer besetzt.
Das sage ich jetzt nicht mehr….das hat sich geändert. Und ich habe gegen den französischen
Zentralismus und den Jacobinismus kämpfen müssen”.
Sie brachten 40.000
Zeichnungen zu Papier und haben über 150 Bücher veröffentlicht, die meisten davon
sind hervorragende Kinderbücher. Sie ergreifen darin immer Partei für die Rechte der
Kinder auf Eigenständigkeit, auf Neugierde und Selbstverwirklichung. Die Helden Ihrer
Kinderbücher sind alles Antikonformisten, so wie Sie.
„Ja, ganz genau. Die
meisten Kinderbücher, heute, haben kein Lebensmaterial mehr zum Inhalt. Da ist alles
so idealistisch. Mein jüngstes Buch hingegen ‚Die blaue Wolke’ handelt über den Bürgerkrieg.
‚Freunde, Freunde’, das handelt über einen kleinen Schwarzen in einer weißen Nachbarschaft,
also über den Rassismus. ‚Otto’ ist ein Buch über einen kleinen Juden und einem kleinen
Deutschen. Da sieht man Szenen aus dem Krieg, wie ich sie im Colmarer Brückenkopf
erlebt habe. Aus diesen Erfahrungen muss man etwas lernen. Aus der Geschichte, muss
man etwas lernen, sonst hat die Geschichte keinen Sinn. Kinder sind keine Idioten.
Man muss ihre Empfindsamkeit schätzen. Kinder müssen respektiert werden, sie haben
das Recht, Meinungen zu haben”.
Eine Lebensweisheit von Erich Kästner
– dessen Preisträger Sie geworden sind – lautet: ‚Nur wer erwachsen wird und Kind
bleibt, ist ein Mensch’. Sind Sie ein Kind geblieben?
„Ja, unbedingt. Ich
glaube, das ist fast eine Disziplin, die man beherrschen sollte: ein Kind zu bleiben.
Oder besser: die Welt durch die Augen eines Kindes zu empfinden. Ich bin ein ewiges
Kind geblieben.”.
Da gibt es noch mehrere geistige Verwandtschaften zwischen
Ihnen und Erich Kästner: Sie sind beide weltbekannt und haben weltberühmte Kinderbücher
geschrieben. Sie sind beide Moralisten, der eine ein schreibender, Sie vorzugsweise
in zeichnender Weise. Beide sind Meister der Ironie und der Satire, beide mit einem
unterschiedlichen Schuss Zynismus behaftet. Beide schreiben und karikieren in sozialkritischer
Absicht, um vor allem den jungen Lesern zu lehren, was gerecht und schlecht ist in
dieser Welt. Beide sind und waren leidenschaftliche Pazifisten. Und beide verband
ein problematisches Verhältnis zu ihrer Mutter, deren abgöttische Liebe zu Ihnen,
Herr Ungerer, Sie beinahe erdrückte.
„Ich wurde übergeliebt, weil ich auch
der Jüngste war in der Familie. Und das mochte ich eigentlich nicht. Und darüber habe
ich auch wieder ein Kinderbuch herausgebracht: ‚Kein Kuss von Mutter’, von einem kleinen
Jungen, der sich wehrt, von der Mutter geküsst zu werden. Darauf habe ich so viele
Briefe erhalten von Müttern, die sich bei mir bedankten, dass sie jetzt endlich ihren
Bub verstehen konnten. Das war schon auch autobiographisch. aber ich bin für meine
Mutterliebe sehr dankbar, sonst wäre ich nicht das, was ich bin”.
Wenn
man mit und über Tomi Ungerer spricht, kann man seine satirischen und erotischen Arbeiten
für die Erwachsenen nicht ausklammern. Sie haben in ihren Karikaturen menschliche
Sehnsüchte und Begierden ironisch, mitunter sarkastisch glossiert und dabei die Pornographie
gestreift.....Gedanken sind gottlob frei, aber wenn man sie konkretisiert, legt man
sie in Ketten, oder?
„Ja, wissen Sie, wenn man die Pornographie anklagt,
dann muss man die Pornographie auch zeigen und benützen. Besonders die Feministen
vor vielen Jahren, haben das total missverstanden. Zum Beispiel mein Buch über die
Mechanisierung des Sexes, das ist fast ein klinisches Buch. Das sind Symptome. Wenn
man die Symptome unserer Zeitalters und die perverse Welt zeigen will, dann müssen
auch die Zeichnungen über diese Perversität gezeigt werden”.
Es ist Ihnen
vorgeworfen worden, dass Sie dabei die Frauen diskriminieren.
„Nein, dann
wäre ich nicht verheiratet. Genau im Gegenteil: schon damals in New York, war ich
einer der ersten, die die Frauenbewegung unterstützt haben. Ich war besonders für
die Rechte der Frauen sehr engagiert”.
Gibt es Dinge, an die Sie glauben,
oder an denen Sie nicht zweifeln?
„Ja, ganz einfach. Das ist der gute Wille.
Und der Respekt vor den anderen, die Menschen zu nehmen, wie sie sind. Der gute Wille,
ist etwas sehr, sehr wichtiges.”
Es ist eine der großen Grundfragen der
menschlichen Existenz überhaupt: hat der Mensch eine Seele und was passiert mit ihr
nach dem Tod?
„Ja, das ist die große Frage. Und da muss ich sagen: Ich glaube,
der Mensch ist viel zu neugierig, er will alles erklären, alles wissen, der Mensch
hat seine Arroganz, anstatt einfach zu akzeptieren und zu warten. Mit seinem Gewissen,
natürlich. Aber die Seele….wissen Sie, ich habe eine Erfahrung gemacht: ich war so
jung, als mein Vater gestorben ist. Ich habe immer dieses Gefühl gehabt, dass er
mir alles gegeben hat, alle seine Talente. Und in meinem ganzen Leben, in schlimmeren
Zeiten, habe ich ihn immer an meiner Seite gespürt. Gäbe es so ein Gefühl, wenn es
keine Seele geben würde? Ich habe Ihnen schon gesagt, mein Zweifeln ist positiv. Also,
warum soll es sie nicht geben”?
Sie sind Botschafter des Europarates für
Jugend und Erziehung. Wie lautet Ihre Botschaft für die Kinder – wie für die Erwachsenen?
„Meine
Botschaft für die Kinder ist, dass es im Leben immer wieder die Möglichkeit gibt,
sich zu verbessern und aus seinem Leben ein Erfolg zu machen. Und der Mensch muss
lernen, seine Ängste überwinden zu können. In meinen Kinderbüchern haben die Kinder
nie Angst. Die Erwachsenen ja, aber die Kinder nicht.”
Gibt es Dinge, die
man nicht sagen, sondern nur zeichnen kann?
„Man kann manchmal mit ein paar
Strichen eine ganze Philosophie auf’s Papier legen. Das kann manchmal viel stärker
wirken als viele Seiten in einem Buch”.
Wenn man Sie nach Ihrem Innersten
fragen würde, als was würden Sie sich am ehesten bezeichnen?
„Als Sucher,
ich bin ein Sucher. Und das ist viel Arbeit, viel Arbeit”.