2011-11-03 14:55:27

Griechenland, die Krise und die Kirche - unser Dossier


RealAudioMP3 Es sei „immer schwierig, wenn jemand etwas von seinem Besitzstand wieder abgeben muss“. Das sagt Jörg Schill, einer von Zehntausenden Deutschsprachigen, die in Griechenland leben. Schill gehört zum Pfarrgemeinderat der deutschen Pfarrei von Athen, ist auch Vorsitzender der „Freunde der griechischen Kulturstiftung in Berlin“.


„Die Frage des Besitzstandes heißt nicht: Ist es zuviel oder ist es zuwenig. Jeder richtet sein Leben ein nach einem gewissen Besitzstand, also Gehalt oder Vermögen. Und in den letzten Monaten wurde eben doch massiv darauf gedrängt, die überhöhten Einkommen, Gelder, Pensionen zu kürzen. Das heißt: Die Bevölkerung leidet subjektiv und objektiv.“


Dieses Volk wurde gekauft


Aber hätten sich die Griechen nicht von vornherein bescheiden müssen, statt immer höhere Gehälter oder Renten zu kassieren? Nein, so kann man das nicht sehen, glaubt Jörg Schill: „Dieses Volk wurde bewußt über viele Jahre und durch viele Regierungen gekauft. Es gibt nachweislich Programme, etwa für eine Restrukturierung der Baumwollindustrie, deren Gelder etwa zum Kauf von Autos verwendet wurden – also systemwidrig.“ Und keiner habe sich dagegen gesperrt, auch die Geldgeber von der EU hätten sich nicht um die Verwendung der Gelder gekümmert. „So – wenn Sie jemanden in Versuchung führen... Sie kennen ja das Vaterunser.“


Wie könne die Bevölkerung nun ihre Enttäuschung und ihren Zorn zum Ausdruck bringen? „Doch nur dadurch, dass sie auf die Straße geht.“ Denn sonst gebe es wenig Protestmöglichkeiten, weil im Moment ja auch keine Wahlen anstünden. Oder noch nicht. Denn da ist ja noch diese Volksabstimmung, die der Athener Regierungschef angekündigt hat.


Schill hält das Rettungspaket, das der Brüsseler EU-Gipfel vor ein paar Tagen für Griechenland zusammengestellt hat, für sehr gelungen. „So, und nun kommt die große Überraschung: Der Ministerpräsident Papandreou kommt nach Hause, geht vors Parlament, erzählt, was in Brüssel geschehen ist, und sagt dann am Schluß seiner Rede, nun rufe ich das Volk zur Abstimmung auf, ob dieser Weg richtig ist oder falsch. Hätte er doch gesagt: Soll mal das Volk abstimmen, ob meine Regierung die richtige ist oder ob eine andere Regierung das bessere Konzept hat! Dann hätte man das in Europa vielleicht noch verstanden, wenngleich er dies ja schon vor einem halben Jahr hätte sagen können!“


Referendum? Nur Taktik

Jörg Schill vermutet einen rein taktischen Winkelzug Papandreous; das Volk sei, so sagt er, „konsterniert und weiß nicht, was es tun soll“. Es sei ja auch nicht im einzelnen informiert über die finanziellen und politischen Folgen seiner Entscheidung bei einem Referendum: „so dass diese Abstimmung eigentlich eine Abstimmung darüber ist, was gerade jeder so denkt und so meint... ohne genügend Informationen zu haben.“


Das Leben in Griechenland sollte man sich – anders als das Bild, das man jetzt manchmal über die Medien vermittelt bekommt – derzeit nicht als Chaos und Götterdämmerung vorstellen. „Inzwischen merkt man außer Demonstrationen relativ wenig; allerdings sind zunehmend Geschäfte im Zentrum von Athen geschlossen. Doch die Restaurants sind unverändert voll, und auch wenn der Lebensstandard jetzt reduziert ist, merkt man das noch nicht so sehr.“ Er als Deutscher habe überhaupt keine Probleme: „Ich werde inzwischen eher positiv angeschaut als negativ, wie noch vor einem halben Jahr.“ Das liege daran, dass die Griechen erleichtert sind über die Bemühungen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel um ein EU-Rettungspaket für Griechenland: „Also, inzwischen wird die Bemühung um Griechenland auch in Griechenland anerkannt. Deswegen ist es ja umso überraschender, dass Papandreou auf einmal hinter alles ein großes Fragezeichen setzt!“


Von den 11,3 Millionen Griechen sind etwa 91,5 Prozent Christen, 5,8 Prozent sind Muslime, der Rest meist Nicht-Religiöse. Unter den Christen stellen die Orthodoxen mit fast 92 Prozent den Löwenanteil. Der Anteil der Katholiken beträgt 1,5 Prozent; die übrigen sind Protestanten unterschiedlicher Bekenntnisse. Seit vor ein paar Jahren ein neuer orthodoxer Erzbischof in Athen sein Amt antrat, hat sich die Kirche aus dem politisch-gesellschaftlichen Tagesgeschäft etwas zurückgezogen, beobachtet Dr. Schill aus Athen. Das war klug, findet er. „Also, die orthodoxe Kirche ist nicht mehr so politisch aktiv wie in der Vergangenheit. Dass natürlich eine Kirche, die sehr vermögend ist, die aber wenig Cash hat, nicht darauf bedacht ist, Vermögen gegen Cash umzuwandeln (was ja auch nur schwierig geht), kann man sich natürlich vorstellen. Und auch da gilt: Wer halt bislang verwöhnt worden ist, den schmerzt es natürlich, wenn er plötzlich mit einer solchen Krise konfrontiert wird.“ Die Kirche halte sich „bedeckt und aus allem heraus“. Natürlich gebe etwa bei der Einweihung einer neuen Straße oder der Amtseinführung des neuen Finanzministers auch ein orthodoxer Geistlicher seinen Segen, aber das bedeute keine kirchliche Einmischung ins Politische: „Das ist kein Widerspruch, das ist auch für mich als Katholik kein Widerspruch. Wenn ich an meine katholische deutsche Zeit zurückdenke, da waren auch bei großen Ereignissen Bischöfe oder der Ortspriester zugegen.“

Finanzkrise macht die Griechen nicht frömmer


Werden sich die Griechen jetzt unter dem Druck der Finanzkrise wieder auf ihren orthodoxen Glauben besinnen und dort Kraft schöpfen für die harten Zeiten? Jörg Schill ist da skeptisch: „Die spirituelle Anbindung an die Orthodoxie sehe ich nicht so ausgeprägt. Ich glaube nicht, dass eine Umkehr erfolgt wegen der Werte der Orthodoxie; ich glaube, es ist nicht so viel anders als bei uns in der katholischen Kirche. Was hier zu einer Umkehr bewegt, ist der Verstand: Die Griechen sind eine Mischung aus kopf- und emotionsgesteuert, und manchmal kommen die Dinge zusammen.“ Vor allem in der jüngeren Generation macht Schill den Willen aus, aus dem Tal der Tränen wieder herauszukommen. „Die sagen: Wir werden es packen, wir werden die Mentalität ändern. Wir werden sie ändern müssen, um überhaupt eine Chance in der Zukunft zu haben. Das ist ein Großteil der Jugend, der in diese neue Richtung denkt.“ Die Älteren hingegen sind zu einem Umdenken aus seiner Sicht nicht mehr bereit oder in der Lage: „Weil sie halt verwöhnt bzw. verdorben worden sind und auf dieses Pferd gesetzt worden sind. Sie haben sich natürlich auch gerne draufsetzen lassen, das ist gar keine Frage!“ Immerhin, auch bei der deutschen Wiedervereinigung habe ja der Prozess des Umdenkens seine Zeit gebraucht, so Schill – in Griechenland sei das ähnlich.


Eine Politikerkaste, die ihr Volk gekauft hat. Eine Staatskirche mit glorreicher Vergangenheit, die sich jetzt wegduckt. Und ein Volk, in dem einige jetzt zu einer Umkehr bereit sind und viele andere demonstrieren. Und „beide haben nicht unrecht“, so Schill. „Ich habe neulich mal bei einem Vortrag gesagt: Wäre ich ein Grieche, dann würde ich mit auf die Straße gehen!“ Das war ein Vortrag vor Auslands-Griechen in Deutschland. „Da nicken die und sagen, das verstehen wir, wir sind ganz Ihrer Ansicht!“ Wie es jetzt für Griechenland weitergeht, will Schill nicht vorhersagen. Immerhin: „Ich glaube nicht, dass es zu dem Referendum kommt.“ Der Ministerpräsident will an diesem Freitag im Parlament die Vertrauensfrage stellen, „und wahrscheinlich wird er sie positiv beantwortet bekommen, denn jeder weiß, wenn die Regierung kommt, dann kippt die Hälfte aller Parlamentarier. Und dann haben die keinen Job mehr.“ Und wer wolle denn schon gerne einen gut dotierten Arbeitsplatz verlieren?


„Aber die andere Frage ist: Wann und wie kommen sie aus ihrem Dilemma wieder heraus? Ich hätte vor dieser Papandreou-Geschichte gesagt: Naja, jetzt gibt`s eine neue Basis. Aber nun bin ich genauso verunsichert wie viele andere.“

Ein Dossier von Stefan Kempis, Radio Vatikan







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