2011-11-01 09:08:35

Ilse Aichinger und die Hilfsstelle


RealAudioMP3 Sie feiert an diesem Dienstag ihren 90. Geburtstag: Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichisch-deutschen Nachkriegsliteratur. Die Dichterin ist zwar nicht gerade bekannt für ihre Nähe zur Kirche – sie sei schon lange ausgetreten, sagte sie in einem ihrer letzten Interviews im Jahr 2005 zur Nachrichtenagentur kathpress. Und doch hat die Biografie der 90-Jährigen einen wichtigen Berührungspunkt zur Kirche, genauer: zur Wiener „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“. Diese Einrichtung, nahezu die einzige ihrer Art im ganzen deutschsprachigen Raum, wurde 1940 vom Wiener Kardinal Theodor Innitzer ins Leben gerufen, um während der Nazi-Herrschaft Nichtariern, also in der Regel Juden, zu helfen.

Geboren am 1. November 1921 als Tochter eines katholischen Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien, wurden Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga katholisch getauft. Als „Halbjüdin“, wie sie sich selbst einmal bezeichnete, verbrachte sie die Kriegszeit in Wien. Auch ihre Familie wurde von den nationalsozialistischen Deportationen nicht verschont. Zwar gelang ihrer Schwester 1939 noch die Ausreise nach England, ihre Großmutter und weitere Angehörige wurden jedoch 1942 nach Minsk deportiert. Überlebt hat sie die Nazizeit schließlich als eine von rund 200 „U-Booten“ in Wien, d.h. untergetaucht ohne gültige Papiere, ohne Lebensmittelkarten, ohne festen Wohnsitz.

In dieser Zeit bot ihr auch die „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ im Erzbischöflichen Palais eine wichtige Anlaufstation. Sie sei in die Hilfsstelle gekommen, „um unter Menschen zu sein, mit denen man reden und sich austauschen konnte und wo man nicht bespitzelt wurde“, so Aichinger im Gespräch mit Kathpress. Die eigentliche Leistung der Hilfsstelle habe ihres Erachtens nach „nicht in materieller Hilfe“ bestanden, sondern darin, „den Menschen Selbstwertgefühl zu geben und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Existenz nicht ganz umsonst ist“.

Aichinger würdigt vor allem die Rolle von Jesuitenpater Ludger Born, der von Innitzer mit der Leitung der Hilfsstelle betraut worden war. Seine charismatische Persönlichkeit habe „Hoffnung geschenkt, wo es keine Hoffnung mehr gab“. Aichinger: „Er gab den Menschen Selbstwertgefühl und Selbstgewissheit - und letztlich braucht man beides nicht nur zum Leben, sondern auch zum Sterben.“ Auch wenn P. Born laut Aichinger letztlich niemanden vor dem Tod bewahren konnte, so sei es dennoch sein großes Verdienst gewesen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der dem Tod widerstanden werden konnte.

Anders als Kardinal Innitzer, an dem Aichinger aufgrund seiner umstrittenen „Heil Hitler“-Unterschrift kein gutes Haar lässt, setzte Aichinger dem Jesuitenpater Born in „Kleist, Moos, Fasane“ ein literarisches Denkmal. So liest man in ihrem Text „Hilfsstelle“ die folgende Schilderung:

„Ich sah uns wieder an der alten Kirchenmauer lehnen und die anderen erwarten, ehe wir hineingingen. Ich hörte die Gespräche von damals wieder, die Geplänkel, selbst die Spiele, mit denen wir uns die Freiheit des Schulkinderdaseins, der hellen verlassenen Schulhäuser zurückspielten, die dahin war. Ich sah uns die alte Kirche betreten, ein Schiff, das uns aufnahm, das uns in ein Land trug, wo keine Bürgschaften verlangt wurden, wo man nicht zurückgewiesen oder mit Unbehagen betrachtet wurde, ein Land, das sich umso mehr als Heimat erwies, je fremder es vielen von uns zuerst schien. Der Westen und der Osten - unnütz, die aufzuzählen, die uns allein mit unseren Verfolgern gelassen hatten. Aber hier war ein Land. Ich sah uns an der rechten Seite der Kirchenbänke entlanggehen.

Nie war die Tür verschlossen, die Treppe versperrt, die uns weiterführte. Nie waren wir unwillkommen, nie war die Stimme ungeduldig, die uns empfing. Das Glück, das uns hier gewünscht wurde, hielt stand (...) unser Pater, der Äpfel oder Nüsse über den Tisch warf, der nach den schwierigsten Augenblicken des Tages fragte, und wie man ihnen beikommen könne, der gelassen den Platz vor der geheimen Polizei kreuzte, die Brücken, wann immer es ihm nötig schien; seine Helferinnen, die uns zu Schwestern oder Müttern wurden, oder zu beiden, die heimlichen Proben zu unseren Festen, zu denen manchmal der Kardinal kam, als Gastgeber der Hilfe und als ihr Gast. Nicht wie Wohltäter zu Waisenhausfesten zu kommen pflegen, mit einem raschen Lächeln und ebenso rasch entschlossen, zu gehen. Er kam, bereit zu bleiben und nicht nur den Augenblick der Freude mit uns zu teilen. Die ihn gesehen haben, wissen es.“

(kap 01.11.2011 sk)








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