Die Ukraine befindet
sich seit längerer Zeit in einer Umbruchphase. Das sagt im Gespräch mit Radio Vatikan
der Osteuropa-Fachmann und Professor an der Universität Münster, Thomas Bremer. Unter
dem derzeitigen Präsidenten scheint das osteuropäische Land eher Richtung Moskau zu
schauen. Ein Abkommen mit der Europäischen Union, über das im Augenblick verhandelt
wird, steht in der Schwebe, nachdem die Oppositionsführerin und ehemalige Ministerpräsidentin
Julia Timoschenko zu sieben Jahre Gefängnis verurteilt wurde. Für viele gilt der Urteilsspruch
als politische Geste, um sie für die nächsten Wahlen im kommenden Jahr „auszuschalten“.
Auch die christlichen Kirchen im Land haben sich zu dem Fall geäußert, so Bremer.
„Alle
großen Kirchen im Land haben das Urteil abgelehnt und kritisiert. Viele Kirchenvertreter
sagten, dass sie auch als Privatleute gegen dieses Urteil seien. Es gibt aber auch
politische Optionen, die ein wenig mit den Kirchen verbunden werden. So war die griechisch-katholische
Kirche, die vor allem in Galizien als im Westen der Ukraine stark ist, immer sehr
zurückhaltend gegenüber Moskau. Sie optierte bisher vorwiegend für den Westen. Die
ukrainisch-orthodoxe Kirche, die mit dem Moskauer Patriarchat verbunden ist, setzt
hingegen mehr auf das russische Element in der ukrainischen Gesellschaft.“
Dennoch
setzt Präsident Wiktor Janukowitsch anscheinend auf eine Annährung an die Europäische
Union. Ist das nur eine Scheinpolitik? Bremer:
„Das würde ich nicht so unterstellen,
dass diese Politik nur ein Manöver ist. Es scheint, dass in der derzeitigen ukrainischen
Politik zwei Vektoren zu erkennen sind, die nicht immer ganz eindeutig sind. Janukowitsch
verspricht sich von der Annäherung an Europa auch Vorteile wirtschaftlicher Art. Ein
wichtiges Thema ist die Frage nach dem Visa-Regime. Ukrainer brauchen momentan ein
Visum, wenn sie in die Europäische Union einreisen wollen. Das wird aber im nächsten
Jahr mit der Fußballeuropameisterschaft ein Problem, wenn ukrainische Fans in das
benachbarte Polen einreisen wollen.“
Es gibt aber auch Anzeichen, dass
Janukowitsch Richtung Osten schaut, so Bremer weiter.
„Es gibt sehr eindeutige
Stellungnahmen und Akte, die die Annäherung an Russland bezeugen. Am deutlichsten
– das hat man schon fast wieder vergessen – hat Janukowitsch am Anfang seiner Amtszeit
die Verlängerung der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim beschlossen.“
Und
wo steht die Zukunft der Ukraine? Dazu der Osteuropa-Experte Thomas Bremer:
„Das
ist sehr schwierig zu sagen. Man sieht nicht einen anderen Kandidaten, der gegen den
derzeitigen Präsidenten erfolgreich sein könnte. Diese Option zwischen Ost und West
ist nicht nur eine Option zwischen politischen Eliten sondern eine Wahl, die die ganze
ukrainische Gesellschaft betrifft. Es ist zu befürchten, dass diese unsicherer Kurs
noch einige Zeit anhalten wird.“
Seit 1999 ist Bremer Professor am Institut
für Ökumenik und Friedensforschung der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten
gehören die christlichen, orthodoxen Kirchen Osteuropas.