Philosophin Kristeva: „Wir umarmen uns vielleicht nicht, aber wir bauen Brücken“
Das Friedenstreffen
von Assisi ist nicht einfach nur eine Weiterführung einer Idee, es ist eine Weiterentwicklung.
Durch die Einladung an Nicht-Glaubende hat Benedikt XVI. dem Treffen eine eigene Prägung
gegeben. Neben zahlreichen Religionsvertretern, die an diesem Donnerstag in Assisi
sprachen, äußerte sich als Vertreterin dieser Gruppe die in Paris lebende Philosophin,
Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva.
Das Treffen
von Assisi sei „eine Einladung“ und „ein Symbol“, sagte die gebürtige Bulgarin Julia
Kristeva einen Tag vor der Begegnung in Assisi im Interview mit Radio Vatikan. Am
Vortag des Weltfriedenstreffens hatte in Rom eine weitere Diskussionsrunde des „Vorhofs
der Völker“ stattgefunden. Kristeva nahm an der Vatikaninitiative zum Thema Atheismus
als eine Vertreterin der Nicht-Glaubenden teil. Das Weltfriedenstreffen der Religionen
in Assisi sieht die Philosophin nicht als Demonstration von Harmonie, sondern als
Gelegenheit für konstruktiven Austausch:
„Wir werden uns nicht alle umarmen
und sagen, wir sind Brüder und Schwestern und alle einer Meinung – es lebe der Frieden.
Aber wir werden Besonderheiten aufzeigen und wir werden sagen: Wir versuchen, eine
Brücke zu finden.“
Diese Brücke ist nach Julia Kristeva der Beitrag der
Religionen zur Neubegründung eines umfassenden Humanismus, der sich nicht von der
Tradition verabschiedet, sondern aus ihr schöpft. Das erklärt sie näher im Interview
mit Radio Vatikan:
„Um zu versuchen, dem Humanismus einen neuen Schwung
zu geben, um ihn neu zu begründen, müssen wir unsere Ohren, unsere Psyche und unseren
Körper der Tradition öffnen, die nicht der Vergangenheit angehört. Der Koran, die
Bibel, das Evangelium, das Tao – sie wohnen in uns. Sie sind konstitutiv für das Unterbewusstsein
auch der Personen, die nicht glauben. Es ist also die Aufgabe von uns Humanisten -
und wir haben da eine privilegierte Position -, uns diese Kultur zu eigen zu machen
und sie neu umzuwerten - Nietzsche sprach hier von einer anthropologischen Transvalutation.
Es geht darum, sie zu verstehen, und nicht nur den Missbrauch zu sehen, der mit ihr
getrieben wird, sondern auch all die Reichtümer der Menschheit, die dort abgelegt
sind.“
Humanismus sei ein „kontinuierlicher Prozess der Neugründung“, die
„Risse“ in der Entwicklung des Menschen – Schoah und Gulag – trieben ihn an und machten
ihn zugleich notwendig, begründete Kristeva in der Assisi-Kirche Santa Maria degli
Angeli ihren Beitrag zum Weltfriedenstreffen. Die Worte Johannes Pauls II. „Habt keine
Angst“ seien nicht nur an Gläubige gerichtet, sie forderten dazu auf, allgemein dem
Totalitarismus zu widerstehen, fügte die gebürtige Bulgarin an. Papst Benedikt XVI.
hatte am Ende seiner Ansprache an diesem Donnerstag in Assisi Agnostiker und „Suchende“
als Mahner auch für Gläubige gewürdigt: „Sie rufen auch die Menschen in den Religionen
an, Gott nicht als ihr Besitztum anzusehen, das ihnen gehört, so dass sie sich damit
zur Gewalt über andere legitimiert fühlen. Sie suchen nach der Wahrheit, nach dem
wirklichen Gott, dessen Bild in den Religionen, wie sie nicht selten gelebt werden,
vielfach überdeckt ist.“ Die ernsthafte Suche nach der Wahrheit also als Mittel gegen
die Verkrustungen von Totalitarismus in Politik und Denken - in diesem Punkt dürften
der Papst und die Philosophin Julia Kristeva sich einig sein.
Humanismus sei
aber auch Feminismus, fuhr Kristeva in Assisi fort. Neugründung von Humanismus müsse
auch die Emanzipation der Frau beinhalten. „Der Kampf um die ökonomische, rechtliche
und politische Gleichheit macht eine Reflexion der Entscheidungen und der Verantwortung
des Mutter-Seins nötig“, so die Philosophin. In der säkularen Welt fehle ein Diskurs
über die Mutter, ohne ihn sei eine humane Ethik unvollständig.
Die Reichtümer
der Tradition, auch der religiösen, noch einmal auf die Waagschale zu legen und daraus
„neue Öffnungen“ zu schaffen, habe nach Kristeva mit „Dogmen“ nichts zu tun. Sie beschreibt
das komplexe Unternehmen als „Wette“, als ,Auf-etwas-setzen‘: „Wir müssen auf die
Fähigkeit von Männern und Frauen setzen, gemeinsam zu glauben und zu erkennen“. Wo
für die Religionen Gott steht, steht für Kristeva diese erneuerte Form des Humanismus.
Ihm traut sie zu, die Welt zu verändern:
„Und von dort ausgehend muss man
neue Öffnungen schaffen, die die neuen Situationen in Betracht ziehen, die neue Familie,
die neuen Individualitäten etc. Im Gegenteil zu dem, was gesagt wird, möchte ich unterstreichen:
Humanismus ist keine geschwächte religiöse Moral, er ist eine Anerkennung der religiösen
Moral und anthropologische „Transvalutation“, er ist Problematisierung, Infrage-Stellen
und Anpassung an Innovation in der Moderne.“