Liebe Brüder und Schwestern! Sehr geehrte Oberhäupter und Vertreter der Kirchen
und kirchlichen Gemeinschaften sowie der Weltreligionen! Liebe Freunde!
Wille
der Völker zur Freiheit war stärker als die Arsenale der Gewalt 25 Jahre
sind vergangen, seitdem der selige Papst Johannes Paul II. erstmals Vertreter der
Religionen der Welt nach Assisi zu einem Gebet für den Frieden geladen hat. Was ist
seitdem geschehen? Wie steht es um die Sache des Friedens heute? Damals kam die große
Bedrohung des Friedens in der Welt von der Teilung der Erde in zwei einander entgegengesetzte
Blöcke. Augenfälliges Sinnbild dieser Teilung war die Mauer in Berlin, die mitten
durch die Stadt die Grenze zweier Welten zog. 1989 – drei Jahre nach Assisi – ist
die Mauer gefallen – ohne Blutvergießen. Die gewaltigen Waffenarsenale, die hinter
der Mauer standen, bedeuteten plötzlich nichts mehr. Sie hatten ihren Schrecken verloren.
Der Wille der Völker zur Freiheit war stärker als die Arsenale der Gewalt. Die Frage
nach den Ursachen dieses Umbruchs ist sehr vielschichtig und nicht mit einfachen Formeln
zu beantworten. Aber neben den wirtschaftlichen und politischen Faktoren ist der tiefste
Grund für das Ereignis ein geistiger: Hinter der materiellen Macht standen keine geistigen
Überzeugungen mehr. Der Wille zur Freiheit war schließlich stärker als die Furcht
vor der Gewalt, die keine geistige Deckung mehr hatte. Für diesen Sieg der Freiheit,
der vor allem auch ein Sieg des Friedens war, sind wir dankbar. Und es ist hinzuzufügen,
dass es dabei nicht nur, wohl nicht einmal primär, aber doch auch um die Freiheit
zu glauben ging. Insofern dürfen wir dies alles auch irgendwie mit dem Gebet um den
Frieden in Zusammenhang bringen. Welt der Freiheit - Orientierungslos Aber was ist dann geschehen? Wir können leider nicht sagen, dass seither Freiheit
und Friede die Situation prägen. Auch wenn es die Drohung des großen Krieges im Augenblick
nicht gibt, so ist die Welt doch leider voller Unfriede. Nicht nur, dass da und dort
immer wieder Kriege geführt werden – die Gewalt als solche ist potentiell immer gegenwärtig
und prägt den Zustand unserer Welt. Freiheit ist ein großes Gut. Aber die Welt der
Freiheit hat sich weithin als orientierungslos erwiesen, und sie wird von nicht wenigen
auch als Freiheit zur Gewalt missverstanden. Der Unfriede hat neue und erschreckende
Gesichter, und das Ringen um den Frieden muss uns alle auf neue Weise bedrängen. Gesichter
der Gewalt Versuchen wir, die neuen Gesichter der Gewalt und des Unfriedens
etwas aus der Nähe zu identifizieren. Man kann, wie mir scheint, in großen Zügen zwei
unterschiedliche Typen der neuen Form von Gewalt feststellen, die in ihrer Motivation
konträr gegeneinander stehen und im einzelnen wieder viele Varianten aufweisen. Da
ist zunächst der Terrorismus, in dem anstelle des großen Krieges gezielte Anschläge
den Gegner an wichtigen Punkten zerstörend treffen sollen, wobei keinerlei Rücksicht
auf unschuldige Menschenleben genommen wird, die dabei auf grausame Weise getötet
oder verletzt werden. Die große Sache der Schädigung des Feindes rechtfertigt in den
Augen der Täter jede Art von Grausamkeit. Alles, was im Völkerrecht als Grenze der
Gewalt gemeinsam anerkannt und sanktioniert worden war, ist außer Kraft gesetzt. Wir
wissen, dass der Terrorismus häufig religiös motiviert wird und dass gerade der religiöse
Charakter der Anschläge als Rechtfertigung der rücksichtslosen Grausamkeit dient,
die die Regeln des Rechts um des angezielten „Gutes“ willen beiseite schieben zu dürfen
glaubt. Religion dient da nicht dem Frieden, sondern der Rechtfertigung für Gewalt.
Die Religionskritik seit der Aufklärung hatte immer wieder behauptet, Religion
sei Ursache von Gewalt und hatte damit die Feindseligkeit gegen die Religionen genährt.
Gewalt im Namen der Religion muss beunruhigen Dass hier Religion
in der Tat Gewalt motiviert, muss uns als religiöse Menschen tief beunruhigen. In
einer subtileren, aber immer noch grausamen Weise sehen wir Religion als Ursache von
Gewalt auch dort, wo von Verteidigern einer Religion gegen die anderen Gewalt angewendet
wird. Die 1986 in Assisi versammelten Religionsvertreter wollten sagen, und wir wiederholen
es mit Nachdruck und aller Entschiedenheit: Dies ist nicht das wahre Wesen der Religion.
Es ist ihre Entstellung und trägt zu ihrer Zerstörung bei. Dagegen wird der Einwand
erhoben: Woher wisst ihr überhaupt, was das wahre Wesen von Religion ist? Kommt euer
Anspruch nicht davon her, dass bei euch die Kraft der Religion erloschen ist? Und
andere werden einwenden: Gibt es überhaupt ein gemeinsames Wesen der Religion, das
sich in allen Religionen ausdrückt und daher für alle gültig ist? Diesen Fragen müssen
wir uns stellen, wenn wir realistisch und glaubhaft dem religiös begründeten Gebrauch
von Gewalt entgegentreten wollen. Hier liegt eine grundlegende Aufgabe des interreligiösen
Dialogs – ein Auftrag, der von dieser Begegnung erneut unterstrichen werden soll.
Als Christ möchte ich an dieser Stelle sagen: Ja, auch im Namen des christlichen Glaubens
ist in der Geschichte Gewalt ausgeübt worden. Wir bekennen es voller Scham. Aber es
ist vollkommen klar, dass dies ein Missbrauch des christlichen Glaubens war, der seinem
wahren Wesen offenkundig entgegensteht. Der Gott, dem wir Christen glauben, ist der
Schöpfer und Vater aller Menschen, von dem her alle Menschen Brüder und Schwestern
sind und eine einzige Familie bilden. Das Kreuz Christi ist für uns das Zeichen des
Gottes, der an die Stelle der Gewalt das Mitleiden und das Mitlieben setzt. Sein Name
ist „Gott der Liebe und des Friedens“ (2 Kor 13,11). Es ist die Aufgabe aller, die
für den christlichen Glauben Verantwortung tragen, die Religion der Christen immer
wieder von ihrer inneren Mitte her zu reinigen, damit sie gegen die Fehlbarkeit des
Menschen wirklich Instrument von Gottes Frieden in der Welt ist. Gewalt
und die Abwesenheit Gottes Wenn ein Grundtypus von Gewalt heute religiös
begründet wird und damit die Religionen vor die Frage ihres Wesens stellt und uns
alle zur Reinigung zwingt, so ist ein zweiter, vielgesichtiger Typus von Gewalt gerade
umgekehrt begründet: Folge der Abwesenheit Gottes, seiner Leugnung und des Verlusts
an Menschlichkeit, der damit Hand in Hand geht. Die Feinde der Religion sehen – wie
wir gesagt hatten – in der Religion eine Hauptquelle der Gewalt in der Menschheitsgeschichte
und fordern damit das Verschwinden der Religion. Aber das Nein zu Gott hat Grausamkeiten
und eine Maßlosigkeit der Gewalt hervorgebracht, die erst möglich wurde, weil der
Mensch keinen Maßstab und keinen Richter mehr über sich kennt, sondern nur noch sich
selbst zum Maßstab nimmt. Die Schrecknisse der Konzentrationslager zeigen in aller
Deutlichkeit die Folgen der Abwesenheit Gottes. Gegenreligionen Ich möchte aber hier nicht weiter vom staatlich verordneten Atheismus sprechen,
sondern von der Verwahrlosung des Menschen, mit der sich ein geistiger Klimawechsel
lautlos und um so gefährlicher vollzieht. Die Anbetung des Mammon, die Anbetung von
Besitz und Macht, erweist sich als eine Gegenreligion, in der der Mensch nicht mehr
zählt, sondern nur der eigene Vorteil. Das Verlangen nach Glück degeneriert zum Beispiel
zur hemmungslosen, unmenschlichen Begierde, wie sie in der Herrschaft der Droge mit
ihren verschiedenen Gestalten erscheint. Da sind die Großen, die mit ihr ihr Geschäft
treiben und dann die vielen, die von ihr verführt und körperlich wie seelisch von
ihr ruiniert werden. Gewalt wird zur Selbstverständlichkeit und droht in Teilen der
Welt unsere Jugend zu zerstören. Weil Gewalt zur Selbstverständlichkeit wird, ist
der Friede zerstört, und der Mensch zerstört sich selbst in dieser Friedlosigkeit.
Wo ist Gott? Die Abwesenheit Gottes führt zum Verfall des Menschen
und der Menschlichkeit. Aber wo ist Gott? Kennen wir ihn, und können wir ihn neu der
Menschheit zeigen, um wirklichen Frieden zu stiften? Fassen wir zunächst unsere bisherigen
Überlegungen noch einmal kurz zusammen. Ich hatte gesagt, dass es ein Verständnis
und einen Gebrauch von Religion gibt, durch die sie Quelle von Gewalt wird, während
die recht gelebte Hinordnung des Menschen zu Gott Kraft des Friedens ist. In diesem
Zusammenhang hatte ich auf die Notwendigkeit des Dialogs verwiesen und von der immer
wieder nötigen Reinigung der gelebten Religion gesprochen. Andererseits hatte ich
gesagt, dass die Leugnung Gottes den Menschen verdirbt, ihn der Maßstäbe beraubt und
zur Gewalt führt. Die Suche nach Wahrheit Neben den beiden Realitäten
von Religion und Antireligion gibt es in der wachsenden Welt des Agnostizismus noch
eine andere Grundorientierung: Menschen, denen zwar das Geschenk des Glaubenkönnens
nicht gegeben ist, die aber Ausschau halten nach der Wahrheit, die auf der Suche sind
nach Gott. Solche Menschen behaupten nicht einfach: „Es ist kein Gott.“ Sie leiden
unter seiner Abwesenheit und sind inwendig, indem sie das Wahre und das Gute suchen,
auf dem Weg zu ihm hin. Sie sind „Pilger der Wahrheit, Pilger des Friedens“. Sie stellen
Fragen an die eine und an die andere Seite. Sie nehmen den kämpferischen Atheisten
ihre falsche Gewissheit, mit der sie vorgeben zu wissen, dass kein Gott ist, und rufen
sie auf, statt Kämpfer Suchende zu werden, die die Hoffnung nicht aufgeben, dass es
die Wahrheit gibt und dass wir auf sie hin leben können und müssen. Suchende,
nicht Kämpfende Sie rufen aber auch die Menschen in den Religionen an,
Gott nicht als ihr Besitztum anzusehen, das ihnen gehört, so dass sie sich damit zur
Gewalt über andere legitimiert fühlen. Sie suchen nach der Wahrheit, nach dem wirklichen
Gott, dessen Bild in den Religionen, wie sie nicht selten gelebt werden, vielfach
überdeckt ist. Dass sie Gott nicht finden können, liegt auch an den Gläubigen mit
ihrem verkleinerten oder auch verfälschten Gottesbild. So ist ihr Ringen und Fragen
auch ein Anruf an die Glaubenden, ihren Glauben zu reinigen, damit Gott, der wirkliche
Gott zugänglich werde. Deshalb habe ich bewusst Vertreter dieser dritten Gruppe zu
unserem Treffen nach Assisi eingeladen, das nicht einfach Vertreter religiöser Institutionen
versammelt. Es geht vielmehr um die Zusammengehörigkeit im Unterwegssein zur Wahrheit,
um den entschiedenen Einsatz für die Würde des Menschen und um das gemeinsame Einstehen
für den Frieden gegen jede Art von rechtszerstörender Gewalt. Am Schluss möchte ich
Ihnen versichern, dass die katholische Kirche nicht nachlassen wird im Kampf gegen
die Gewalt, in ihrem Einsatz für den Frieden in der Welt. Wir sind von dem gemeinsamen
Wollen beseelt, „Pilger der Wahrheit, Pilger des Friedens“ zu sein. (rv 27.10.2011
ord)