Der Übergangsrat hat
nach dem blutigen Ende der Ära Gaddafi die Einführung der Scharia angekündigt. Bei
einer Feier zur Befreiung Libyens in Bengasi erklärte der Präsident des Rates, Libyen
sei „ein islamisches Land“, und daher werde die Scharia zur Quelle der künftigen Gesetzgebung.
Die Europäische Union zeigt sich an diesem Montag besorgt über die Nachricht, sie
fordert das neue Libyen zum Respekt der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien
auf. Daraufhin schob der Übergangsrat nach, Libyen sei natürlich eine Heimstatt des
moderaten Islam, und so werde auch seine Gesetzgebung ausfallen. Giovanni Innocenzo
Martinelli ist sozusagen der Bischof von Tripolis; der offizielle Titel des gebürtigen
Italieners heißt „Apostolischer Vikar“ der libyschen Hauptstadt. Er gab uns vor der
Scharia-Ankündigung seine Einschätzung zum Islam im Land:
„Der Islam wird
in Libyen weiter eine wachsende Rolle haben. Ein Islam, der auch die Chance hat, sich
zu öffnen, weil er nicht länger von Gaddafi instrumentalisiert wird. Der Islam gehört
zur Tradition und zum Zusammenhalt der Libyer, darum ist er gerade jetzt für sie von
großer Bedeutung. Er ist das einigende Band, das sehr unterschiedliche Realitäten
zwischen Norden und Süden Libyens verklammert. Die Herausforderung wird aus meiner
Sicht sein, dass Libyen als geeinter Staat weiter existiert. Zwar wollen alle die
Einheit, aber es kommen doch jetzt große Versuchungen auf, sich ein Territorium oder
eine Region zu sichern. Ich hoffe, dass die Weisheit und der gute Wille der Libyer
sich durchsetzen.“
Über die Art und Weise, wie der frühere Gewaltherrscher
Muammar al-Gaddafi hingerichtet worden sei, zeigt sich der Bischof „tief schockiert“.
Er habe, wie er einräumt, in den vergangenen Jahrzehnten „nichts von Massengräbern
mitbekommen“: „Ich versuchte immer, positiv zu sein und die guten Aspekte zu sehen“,
etwa das, was Gaddafi für die Religionsfreiheit getan habe. Jetzt frage er sich aber
schon: „Gaddafi predigte den Islam, gleichzeitig gab es Hinrichtungen – wie brachte
er das zusammen?“ Zu den Befreiungsfeiern in Libyen sagt Martinelli, dessen Bischofs-Kollege
aus Bengasi zum dortigen Festakt eingeladen war:
„Man hat fast neun Monate
gebraucht, um zu diesem Ende zu kommen – ich frage mich, ob es nicht auch eine andere
Art und Weise dafür gegeben hätte. Immerhin, die Leute sind heute zufrieden, sie haben
sich von einem Alptraum befreit... Ich hatte mir einen weniger grausamen Übergang
gewünscht. Dieser Krieg hätte doch verhindert werden können, und es ist völlig unverhältnismäßig,
mit geballter Militärmacht einem einzelnen Menschen neun Monate lang nachzustellen.
Aber ich merke jetzt doch auch, dass die Befreiung für das libysche Volk eine verdiente
ist. Diese Menschen haben unter vierzig Jahren Diktatur gelitten!“
Die
Christen – es sind meistens Menschen aus dem Ausland, die entweder für Unternehmen
in Libyen arbeiten oder aber im Gesundheitswesen – stünden weiterhin „im Dienst des
libyschen Volks“, wie Martinelli formuliert.