Rolf Toman
u.a.: Ars Sacra – Christliche Kunst und Architektur des Abendlandes von den Anfängen
bis zur Gegenwart. Eine Besprechung von: Stefan v. Kempis
Ein Buch der Superlative:
schwer wie eine prallgefüllte Einkaufstasche, so groß dass es in kein normales Bücherregal
passt (kein Wunder, dass man auch gleich ein Lesepult dazubestellen kann), mit über
1.000 prachtvollen Farbfotos ausgestattet, für die der Fotograf etwa hundert Reisen
in zwanzig Länder unternahm. Es ähnelt auf den ersten Blick einem dieser riesigen
mittelalterlichen Bücher zum Stundengebet, die man oft im Chor europäischer Kathedralen
sieht. Fünf Jahre Entwicklungszeit stecken in diesem Backstein von einem Buch, gibt
der Verlag an. Das schraubt natürlich auch die Erwartungen an den Inhalt ins Riesenhafte:
Wie kenntnisreich sind sie denn, die Aufsätze von Professoren zur christlichen Kunst
im Laufe der Jahrhunderte?
Also, um es gleich zu sagen: Nichts ist hier aufs
Blenden oder auf den flüchtigen Eindruck angelegt, alles zeugt von liebevoller Sorgfalt
und Tiefe. Die Texte sind professionell aufgemacht, formulieren griffig-verständlich
(so lautet der Titel eines Aufsatzes zu frühchristlichen Mosaiken „Ein christlicher
Rommythos entsteht“), aber keineswegs flach; sie halten sich immer nahe ans Bild und
vermeiden die bei Kunstbüchern so oft zu beobachtende Text-Bild-Schere. Man erfährt,
immer ausgehend vom konkreten Kunstwerk, unglaublich viel Erhellendes: Vom Konkreten
ins Allgemeine, ins Weite.
Der Verlag fährt eine Doppelstrategie: Er tritt
nicht nur den Marsch durch die Epochen christlicher Kunst vom Damals bis zum Heute
an, sondern streut immer wieder Seitenstücke zu emblematischen Orten (Ravenna, Konstantinopel),
Künstlern oder Themen (Bilderstreit) ein. Eine Strategie, die überzeugend aufgeht.
Das Mammutwerk zeigt uns dadurch nicht nur die Oberfläche christlicher Kunst und Architektur
in 2.000 Jahren bis hin zu Gerhard Richters Fenstern im Kölner Dom (aber leider konnte
Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle in Mechernich nicht mehr berücksichtigt werden), sondern
erlaubt systematisch Abstecher (faszinierend, nur ein Beispiel unter vielen: frühmittelalterliche
Textilien) und Vertiefungen. So wird z.B. ein Aufsatz über die Innenausstattung von
Alt-St. Peter in Rom mit der Darstellung auf einem so genannten „Polakasten“ aus Istrien
um 400 illustriert, die die berühmten gedrehten Säulen am Grab des Apostelfürsten
zeigen.
Der Liebhaber kann hier neben einigem, das er schon halbwegs kennen
mag, ausgesprochen viel Neues entdecken: langobardische, merowingische, karolingische,
romanische Basiliken (Cividale del Friuli, Jouarre, Pomposa, Conques...) abseits der
großen Touristenstraßen. Das gilt vor allem für den deutschsprachigen Raum, der beispiellos
ausführlich behandelt wird; da fehlt weder die Neoromanik von Kloster Eibingen noch
die Neugotik von St. Appolinaris in Remagen, also wirklich, in welchem Buch über christliche
Kunst und Architektur findet man die schon!
Bei den Thronenden Madonnen des
Mittelalters kommen nicht nur die französischen zum Zug, sondern auch eine beeindruckende
Vertreterin dieses Typus aus Ruhpolding. Und das Kapitel zu russischen Ikonen des
14. und 15. Jahrhunderts zeigt nicht nur die berühmten „Muttergottes von Wladimir“
und A. Rublews „Dreifaltigkeit“, sondern eben auch eine „Entschlafung Mariens“ aus
einem Museum in Recklinghausen! Da ist es nur konsequent, wenn der (brillante) Fotograf
Goldschmiedearbeiten aus Konstantinopel nicht nur in der reichen Schatzkammer des
Markusdoms von Venedig, sondern auch im Limburger Dommuseum ausfindig macht.
Es
mag angesichts des (buchstäblichen wie ideellen) Formats dieses Werks vermessen klingen
– aber das Einzige, was ich an ihm zu bekritteln finde (und auch das bedeutet genauer
besehen ein Kompliment) ist, dass auch dieses Buch nicht alles enthält, dass es trotz
seiner Fülle notgedrungen eine Auswahl treffen musste. Aquileia zum Beispiel, diese
prachtvolle mittelalterliche Basilika in Norditalien mit ihren Mosaiken, scheint mir
(ich kann mich auch täuschen, denn in diesem abundanten Material läßt sich auch einmal
etwas übersehen) nicht berücksichtigt, ebensowenig die Domschatzkammer von St. Peter
in Rom oder aber die modernen Kirchen von Richard Meier und Renzo Piano in Rom bzw.
San Giovanni Rotondo. Überhaupt hätte ich mir noch mehr Vertreter kirchlicher Architektur
des 20. Jahrhunderts aus Ländern außerhalb des deutschen Sprachraums gewünscht, auch
jenseits von Barcelonas Sagrada Familia, Le Corbusiers Ronchamps-Kapelle und zwei,
drei weiteren Beispielen.
Ein großes Buch – in jeder Hinsicht. So etwas gab
es bisher nicht auf dem Buchmarkt. Ein Solitär!
Das Buch ist erschienen bei
Ullmann publishing, Potsdam; 800 Seiten, Luxusausstattung, Riesenformat