Papst bei der Messe in Erfurt: Predigt im Volltext
Liebe Brüder und
Schwestern!„Preiset den Herrn zu aller Zeit, denn er ist gut“. So haben wir gerade
vor dem Evangelium gesungen. Ja, wir haben wirklich Grund, Gott von ganzem Herzen
zu danken. Wenn wir uns in dieser Stadt zurückversetzen in das Elisabethjahr 1981
vor 30 Jahren, zur Zeit der DDR – wer hätte geahnt, daß wenige Jahre später Mauer
und Stacheldraht an den Grenzen fallen würden? Und wenn wir noch weiter zurückgehen,
etwa 70 Jahre, bis in das Jahr 1941, zur Zeit des Nationalsozialismus, im großen Krieg
– wer hätte voraussagen können, daß das sogenannte „Tausendjährige Reich“ schon vier
Jahre später in Schutt und Asche versinken sollte? Liebe Brüder und Schwestern,
hier in Thüringen und in der früheren DDR, habt ihr eine braune und eine rote Diktatur
ertragen müssen, die für den christlichen Glauben wie saurer Regen wirkte. Viele Spätfolgen
dieser Zeit sind noch aufzuarbeiten, vor allem im geistigen und religiösen Bereich.
Die Mehrzahl der Menschen in diesem Lande lebt mittlerweile fern vom Glauben an Christus
und von der Gemeinschaft der Kirche. Doch zeigen die letzten beiden Jahrzehnte auch
gute Erfahrungen: ein erweiterter Horizont, ein Austausch über Grenzen hinweg, eine
gläubige Zuversicht, daß Gott uns nicht im Stich läßt und uns neue Wege führt. „Wo
Gott ist, da ist Zukunft“. Wir alle sind davon überzeugt, daß die neue Freiheit
geholfen hat, den Menschen größere Würde und vielfältige neue Möglichkeiten zu eröffnen.
Viele Erleichterungen dürfen wir seitens der Kirche dankbar hervorheben, seien es
neue Möglichkeiten der pfarrlichen Aktivitäten, seien es Renovierung und Erweiterung
von Kirchen und Gemeindezentren, seien es diözesane Initiativen pastoraler oder kultureller
Art. Aber die Frage steht natürlich vor uns: Haben diese Möglichkeiten uns auch ein
Mehr an Glauben gebracht? Ist der Wurzelgrund des Glaubens und des christlichen Lebens
nicht ganz wo anders als in der gesellschaftlichen Freiheit zu suchen? Viele entschiedene
Katholiken sind gerade in der schwierigen Situation einer äußeren Bedrängnis Christus
und der Kirche treu geblieben. Wo stehen wir heute? Diese Menschen haben persönliche
Nachteile in Kauf genommen, um ihren Glauben zu leben. Danken möchte ich hier den
Priestern und ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus jener Zeit. Erinnern möchte
ich besonders an die Flüchtlingsseelsorge unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg:
Da haben viele Geistliche und Laien Großartiges geleistet, um die Not der Vertriebenen
zu lindern und ihnen eine neue Heimat zu schenken. Aufrichtiger Dank gilt nicht zuletzt
den Eltern, die inmitten der Diaspora und in einem kirchenfeindlichen politischen
Umfeld ihre Kinder im katholischen Glauben erzogen haben. Mit Dankbarkeit möchte ich
an die Religiösen Kinderwochen in den Ferien erinnern, sowie an die fruchtbare Arbeit
der katholischen Jugendhäuser „Sankt Sebastian“ in Erfurt und „Marcel Callo“ in Heiligenstadt.
Besonders im Eichsfeld widerstanden viele katholische Christen der kommunistischen
Ideologie. Gott möge die Treue im Glauben allen reich vergelten. Das mutige Zeugnis
und das geduldige Vertrauen auf die Führung Gottes sind wie ein kostbarer Same, der
für die Zukunft eine reiche Frucht verheißt. Die Gegenwart Gottes zeigt sich immer
besonders deutlich in seinen Heiligen. Ihr Glaubenszeugnis kann uns auch heute Mut
machen zu einem neuen Aufbruch. Denken wir hier vor allem an die Schutzheiligen des
Bistums Erfurt: die Heiligen Elisabeth von Thüringen, Bonifatius und Kilian. Elisabeth
kam aus einem fremden Land, aus Ungarn, auf die Wartburg nach Thüringen. Sie führte
ein intensives Leben des Gebets, verbunden mit dem Geist der Buße und der Armut des
Evangeliums. Regelmäßig stieg sie aus ihrer Burg hinab in die Stadt Eisenach, um dort
persönlich Arme und Kranke zu pflegen. Ihr Leben auf dieser Erde war nur kurz – sie
wurde nur vierundzwanzig Jahre alt –, aber die Frucht ihrer Heiligkeit reicht über
die Jahrhunderte hin. Die heilige Elisabeth wird auch von evangelischen Christen sehr
geschätzt; sie kann uns allen helfen, die Fülle des Glaubens, seine Schönheit und
seine Tiefe und seine verwandelnde und reinigende Kraft zu entdecken und in unseren
Alltag zu übersetzen. Auf die christlichen Wurzeln unseres Landes weist auch die
Gründung des Bistums Erfurt im Jahre 742 durch den heiligen Bonifatius hin. Dieses
Ereignis bildet gleichzeitig die erste urkundliche Erwähnung der Stadt Erfurt. Der
Missionsbischof Bonifatius war aus England gekommen und zu seinem Arbeitsstil gehörte
es, dass er in wesentlicher Einheit und in enger Einheit mit dem Bischof von Rom,
dem Nachfolger des heiligen Petrus, wirkte. Er wusste, dass die Kirche eins sein muss
um Petrus herum. Wir verehren ihn als „Apostel Deutschlands“; er starb als Märtyrer.
Zwei seiner Gefährten, die das Blutzeugnis für den christlichen Glauben weitergaben,
sind hier im Erfurter Dom begraben: die Heiligen Eoban und Adelar. Schon vor den
angelsächsischen Missionaren hat der heilige Kilian in Thüringen gewirkt, ein Wandermissionar
aus Irland. Gemeinsam mit zwei Gefährten starb er in Würzburg als Märtyrer, weil er
das moralische Fehlverhalten des dort ansässigen thüringischen Herzogs kritisierte.
Und nicht vergessen wollen wir schließlich den hl. Severus, den Schutzheiligen der
Severi-Kirche hier am Domplatz: Im vierten Jahrhundert war er Bischof von Ravenna;
seine Gebeine wurden im Jahre 836 nach Erfurt gebracht, um den christlichen Glauben
in dieser Gegend tiefer zu verankern. Von den Toten ging doch das lebendige Zeugnis
der immerwährenden Kirche hinaus, des Glaubens der alle Zeiten befruchtet und der
uns den Weg des Lebens zeigt. Fragen wir: Was haben diese Heiligen gemeinsam? Wie
können wir das Besondere ihres Lebens beschreiben und doch verstehen, dass es uns
angeht und in unser Leben hineinwirken kann? Die Heiligen zeigen uns zunächst, daß
es möglich und gut ist, in der Beziehung zu Gott zu leben und diese Beziehung radikal
zu leben, sie an die erste Stelle zu setzen, nicht irgendwo auch irgendein Eck für
ihn auszusparen. Die Heiligen verdeutlichen uns die Tatsache, daß seinerseits Gott
sich uns zuerst zugewandt hat. Wir könnten nicht zu ihm hinreichen und uns irgendwie
ins Unbekannte hinein ausstrecken, wenn er nicht zuerst uns geliebt hätte, wenn er
nicht zuerst uns entgegengegangen wäre. Nachdem er schon den Vätern in den Worten
der Berufung entgegengegangen war, hat er sich uns in Jesus Christus selbst gezeigt
hat und zeigt sich uns immerfort in ihm. Christus kommt auf uns zu, er spricht jeden
einzelnen an und lädt ihn ein, wie er es eben im Evangelium getan hat, und lädt jeden
von uns ein, ihm zuzuhören, ihn verstehen zu lernen und ihm nachzufolgen. Diesen Anruf
und diese Chance haben die Heiligen genutzt, den konkreten Gott haben sie anerkannt,
ihn gesehen und gehört und auch auf ihn zugegangen, mit ihm gegangen. Sie haben sich
von innen her sozusagen von ihm anstecken lassen und ausgestreckt auf ihn – in der
beständigen Zwiesprache des Gebets – und von ihm das Licht erhalten, das ihnen das
wahre Leben erschließt. Glaube ist immer auch wesentlich ein Mitglauben. Niemand
kann allein glauben. Wir empfangen den Glauben – so sagt uns Paulus – durch das Hören,
und hören ist ein Vorgang des Miteinanderseins, geistig und leiblich. Nur in dem großen
Miteinander der Glaubenden aller Zeiten, die Christus gefunden haben, von ihm gefunden
worden sind, kann ich glauben. Daß ich glauben kann, verdanke ich zunächst Gott,
der sich mir zuwendet und meinen Glauben sozusagen „anzündet“. Aber ganz praktisch
verdanke ich meinen Glauben meinen Mitmenschen, die vor mir geglaubt haben und mit
mir glauben. Dieses große „mit“, ohne das es keinen persönlichen Glauben geben kann,
ist die Kirche. Und diese Kirche macht nicht vor Ländergrenzen halt, das zeigen uns
die Nationalitäten der Heiligen, die ich genannt habe: Ungarn, England, Irland, Italien.
Hier zeigt sich, wie wichtig der geistliche Austausch ist, der sich über die ganze
Weltkirche erstreckt, der aber grundlegend für das Werden der Kirche in unserem Land
ist – er bleibt grundlegend für alle Zeiten – dass wir miteinander über die Kontinente
hin glauben und voneinander glauben lernen . Wenn wir uns dem ganzen Glauben in der
ganzen Geschichte und dessen Bezeugung in der ganzen Kirche öffnen, dann hat der katholische
Glaube auch als öffentliche Kraft in Deutschland Zukunft. Zugleich zeigen uns die
Heiligengestalten von denen ich sprach die große Fruchtbarkeit eines Lebens mit Gott,
die Fruchtbarkeit dieser radikalen Liebe zu Gott und zum Nächsten. Heilige, selbst
wo es nur wenige sind, verändern die Welt. Und die großen Heiligen bleiben verändernde
Kräfte alle Zeiten hindurch. So waren die politischen Veränderungen des Jahres
1989 in unserem Land nicht nur durch das Verlangen nach Wohlstand und Reisefreiheit
motiviert, sondern entscheidend durch die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit. Diese Sehnsucht
wurde unter anderem durch Menschen wachgehalten, die ganz im Dienst für Gott und den
Nächsten standen und bereit waren, ihr Leben zu opfern. Sie und die erwähnten Heiligen
geben uns Mut, die neue Situation zu nutzen. Wir wollen uns nicht in einem bloß privaten
Glauben verstecken, sondern die gewonnene Freiheit verantwortlich gestalten. Wir wollen,
wie die Heiligen Kilian, Bonifatius, Adelar, Eoban und Elisabeth von Thüringen als
Christen auf unsere Mitbürger zugehen und sie einladen, mit uns die Fülle der Frohen
Botschaft, ihre Gegenwart und ihre Lebenskraft und Schönheit zu entdecken. Dann gleichen
wir der berühmten Glocke des Erfurter Domes, die den Namen „Gloriosa“ trägt, die „Glorreiche“.
Sie gilt als größte freischwingende mittelalterliche Glocke der Welt. Sie ist ein
lebendiges Zeichen für unsere tiefe Verwurzelung in der christlichen
Überlieferung, aber auch ein Signal des Aufbruchs und der missionarischen Einladung.
Sie wird auch heute in dieser Festmesse an ihrem Ende erklingen. Sie möge uns dann
ermuntern, nach dem Beispiel der Heiligen das Zeugnis sichtbar und hörbar zu machen
in der Welt, die Herrlichkeit Gottes hörbar und schaubar zu machen und so zu leben
in einer Welt, in der Gott da ist und Leben schön und sinnvoll werden lässt. Amen.