Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich über diese Zusammenkunft mit
Ihnen hier in Berlin. Ganz herzlich danke ich Präsident Dr. Dieter Graumann für die
freundlichen Worte der Begrüßung. Sie machen mir deutlich, wie viel Vertrauen gewachsen
ist zwischen dem jüdischen Volk und der katholischen Kirche, die einen nicht unwesentlichen
Teil ihrer grundlegenden Traditionen gemeinsam haben. Zugleich ist uns allen klar,
daß ein liebendes verstehendes Ineinander von Israel und Kirche im jeweiligen Respekt
für das Sein des anderen immer noch weiter wachsen muß und tief in die Verkündigung
des Glaubens einzubeziehen ist. Bei meinem Besuch in der Kölner Synagoge vor sechs
Jahren sprach Rabbiner Teitelbaum über die Erinnerung als eine der Säulen, die man
braucht, um darauf eine friedliche Zukunft zu gründen. Und heute befinde ich mich
an einem zentralen Ort der Erinnerung, der schrecklichen Erinnerung, daß von hier
aus die Shoah, die Vernichtung der jüdischen Mitbürger in Europa geplant und organisiert
wurde. In Deutschland lebten vor dem Naziterror ungefähr eine halbe Million Juden,
die einen festen Bestandteil der deutschen Gesellschaft bildeten. Nach dem Zweiten
Weltkrieg galt Deutschland als das „Land der Shoah“, in dem man eigentlich nicht mehr
leben konnte. Es gab zunächst kaum Anstrengungen, die alten jüdischen Gemeinden neu
zu begründen, auch wenn von Osten her stetig jüdische Einzelpersonen und Familien
einreisten. Viele von ihnen wollten auswandern und sich vor allem in den Vereinigten
Staaten oder in Israel eine neue Existenz aufbauen. An diesem Ort muß auch erinnert
werden an die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Nur wenige sahen die ganze
Tragweite dieser menschenverachtenden Tat, wie der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg,
der von der Kanzel der Sankt-Hedwigs-Kathedrale den Gläubigen zurief: „Draußen brennt
der Tempel – das ist auch ein Gotteshaus“. Die nationalsozialistische Schreckensherrschaft
gründete auf einem rassistischen Mythos, zu dem die Ablehnung des Gottes Abrahams,
Isaaks und Jakobs, des Gottes Jesu Christi und der an ihn glaubenden Menschen gehörte.
Der „allmächtige“ Adolf Hitler war ein heidnisches Idol, das Ersatz sein wollte für
den biblischen Gott, den Schöpfer und Vater aller Menschen. Mit der Verweigerung der
Achtung vor diesem einen Gott geht immer auch die Achtung vor der Würde des Menschen
verloren. Wozu der Mensch, der Gott ablehnt, fähig ist, und welches Gesicht ein Volk
im Nein zu diesem Gott haben kann, haben die schrecklichen Bilder aus den Konzentrationslagern
bei Kriegsende gezeigt. Angesichts dieser Erinnerung ist dankbar festzustellen,
daß sich seit einigen Jahrzehnten eine neue Entwicklung zeigt, bei der man geradezu
von einem Aufblühen jüdischen Lebens in Deutschland sprechen kann. Es ist hervorzuheben,
daß sich die jüdische Gemeinschaft in dieser Zeit besonders um die Integration osteuropäischer
Einwanderer verdient gemacht hat. Anerkennend möchte ich auch auf den sich vertiefenden
Dialog der katholischen Kirche mit dem Judentum hinweisen. Die Kirche empfindet eine
große Nähe zum jüdischen Volk. Mit der Erklärung Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen
Konzils wurde ein „unwiderruflicher Weg des Dialogs, der Brüderlichkeit und der Freundschaft“
eingeschlagen (vgl. Rede in der Synagoge in Rom, 17. Januar 2010). Dies gilt für die
katholische Kirche als ganze, in der der selige Papst Johannes Paul II. sich besonders
intensiv für diesen neuen Weg eingesetzt hat. Es gilt selbstverständlich auch für
die katholische Kirche in Deutschland, die sich ihrer besonderen Verantwortung in
dieser Sache bewußt ist. In der Öffentlichkeit wird vor allem die „Woche der Brüderlichkeit“
wahrgenommen, die von den lokalen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
jedes Jahr in der ersten Märzwoche organisiert wird. Von katholischer Seite gibt
es zudem jährliche Treffen zwischen Bischöfen und Rabbinern sowie strukturierte Gespräche
mit dem Zentralrat der Juden. Schon in den 70er Jahren trat das Zentralkomitee der
deutschen Katholiken (ZdK) mit der Errichtung eines Gesprächskreises „Juden und Christen“
hervor, der in fundierter Weise im Laufe der Jahre viele hilfreiche Verlautbarungen
hervorgebracht hat. Nicht unerwähnt bleiben soll das historische Treffen im März 2006
für den jüdisch-christlichen Dialog unter Beteiligung von Kardinal Walter Kasper.
Diese Zusammenkunft hat bis in jüngste Zeit reiche Früchte getragen. Neben diesen
lobenswerten konkreten Initiativen scheint mir, daß wir Christen uns auch immer mehr
unserer inneren Verwandtschaft mit dem Judentum klar werden müssen. Für Christen kann
es keinen Bruch im Heilsgeschehen geben. Das Heil kommt nun einmal von den Juden (vgl.
Joh 4,22). Wo der Konflikt Jesu mit dem Judentum seiner Zeit in oberflächlicher Manier
als eine Loslösung vom Alten Bund gesehen wird, wird er auf die Idee einer Befreiung
hinauslaufen, die die Tora nur als sklavische Befolgung von Riten und äußeren Observanzen
betrachtet. Tatsächlich hebt die Bergpredigt das mosaische Gesetz nicht auf, sondern
enthüllt seine verborgenen Möglichkeiten und läßt neue Ansprüche hervortreten. Sie
verweist uns auf den tiefsten Grund menschlichen Tuns, das Herz, wo der Mensch zwischen
dem Reinen und dem Unreinen wählt, wo sich Glaube, Hoffnung und Liebe entfalten. Die
Hoffnungsbotschaft, die die Bücher der hebräischen Bibel und des christlichen Alten
Testaments überliefern, ist von Juden und Christen in unterschiedlicher Weise angeeignet
und weitergeführt worden. „Wir erkennen es nach Jahrhunderten des Gegeneinanders als
unsere heutige Aufgabe, daß diese beiden Weisen der Schriftlektüre – die christliche
und die jüdische – miteinander in Dialog treten müssen, um Gottes Willen und Wort
recht zu verstehen“ (Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis
zur Auferstehung, S. 49) Dieser Dialog soll die gemeinsame Hoffnung auf Gott in einer
zunehmend säkularen Gesellschaft stärken. Ohne diese Hoffnung verliert die Gesellschaft
ihre Humanität. Insgesamt dürfen wir feststellen, daß der Austausch der katholischen
Kirche mit dem Judentum in Deutschland schon verheißungsvolle Früchte getragen hat.
Beständige vertrauensvolle Beziehungen sind gewachsen. Juden und Christen haben gewiß
eine gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft, die immer auch
eine religiöse Dimension hat. Mögen alle Beteiligten diesen Weg gemeinsam weitergehen.
Dazu schenke der Einzige und Allmächtige, Ha Kadosch Baruch Hu, seinen Segen.