Papst vor dem Schloß Bellevue: „Es bedarf einer verbindlichen Basis“
Papst Benedikt XVI.
ist in Deutschland eingetroffen. Vor dem Schloß Bellevue, dem Berliner Amtssitz des
Bundespräsidenten, zeigte er sich besorgt über eine „zunehmende Gleichgültigkeit in
der Gesellschaft“ der Religion gegenüber. „Es bedarf aber für unser Zusammenleben
einer verbindlichen Basis“, mahnte der Papst in seiner ersten Rede auf deutschem Boden.
„Die Religion ist eine dieser Grundlagen für ein gelingendes Miteinander.“ Wir dokumentieren
den offiziellen Text der Ansprache des Papstes bei der Begrüßungszeremonie in vollem
Wortlaut.
„Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Freunde! Durch den liebenswürdigen Empfang, den Sie mir hier in Schloß Bellevue
bereiten, fühle ich mich sehr geehrt. Ihnen, Herr Bundespräsident Wulff, bin ich besonders
dankbar für die Einladung zu diesem offiziellen Besuch, der mein dritter Aufenthalt
als Papst in der Bundesrepublik Deutschland ist. Von Herzen danke ich Ihnen für die
freundlichen Begrüßungsworte, die Sie an mich gerichtet haben. Ebenso gilt mein Dank
den Vertretern der Bundesregierung, des Bundestages und des Bundesrates sowie der
Stadt Berlin für ihre Anwesenheit, mit der sie ihren Respekt gegenüber dem Papst,
dem Nachfolger des Apostels Petrus, zum Ausdruck bringen. Und nicht zuletzt danke
ich den drei gastgebenden Bischöfen – Erzbischof Woelki von Berlin, Bischof Wanke
von Erfurt und Erzbischof Zollitsch von Freiburg – sowie allen, die auf verschiedenen
kirchlichen und öffentlichen Ebenen an der Vorbereitung dieser Reise in mein Heimatland
mitgewirkt haben und so zu ihrem Gelingen beitragen. Auch wenn diese Reise ein
offizieller Besuch ist, der die guten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Heiligen Stuhl weiter festigen wird, so bin ich nicht in erster Linie hierher
gekommen, wie es andere Staatsmänner zu Recht tun, um bestimmte politische oder wirtschaftliche
Ziele zu verfolgen, sondern um den Menschen zu begegnen und über Gott zu sprechen. Der
Religion gegenüber erleben wir eine zunehmende Gleichgültigkeit in der Gesellschaft,
die bei ihren Entscheidungen die Wahrheitsfrage eher als ein Hindernis ansieht und
statt dessen Nützlichkeitserwägungen den Vorrang gibt. Es bedarf aber für unser
Zusammenleben einer verbindlichen Basis, sonst lebt jeder nur noch seinen Individualismus.
Die Religion ist eine dieser Grundlagen für ein gelingendes Miteinander. „Wie die
Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion“. Dieses Wort
des großen Bischofs und Sozialreformers Wilhelm von Ketteler, dessen zweihundertsten
Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, ist heute nach wie vor aktuell. Freiheit
braucht die Rückbindung an eine höhere Instanz. Daß es Werte gibt, die durch nichts
und niemand manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit. Der Mensch,
der sich dem Wahren und dem Guten verpflichtet weiß, wird dem sofort beipflichten:
Freiheit entfaltet sich nur in der Verantwortung vor einem höheren Gut. Dieses Gut
gibt es nur für alle gemeinsam; deshalb muß ich immer auch meine Mitmenschen im Blick
haben. Freiheit kann nicht in Beziehungslosigkeit gelebt werden. Im menschlichen
Miteinander geht Freiheit nicht ohne Solidarität. Was ich auf Kosten des anderen tue,
ist keine Freiheit, sondern schuldhaftes Handeln, das den anderen und auch mich selbst
beeinträchtigt. Wirklich frei entfalten kann ich mich nur, wenn ich meine Kräfte auch
zum Wohl der Mitmenschen einsetze. Das gilt nicht nur für den Privatbereich, sondern
auch für die Gesellschaft. Diese hat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip den kleineren
Strukturen ausreichend Raum zur Entfaltung zu geben und zugleich eine Stütze zu sein,
damit sie einmal auf eigenen Beinen stehen können. Hier am Schloß Bellevue, das
seinen Namen dem schönen Blick auf das Spreeufer verdankt, unweit der Siegessäule,
des Bundestags und des Brandenburger Tors gelegen, stehen wir mitten im Zentrum Berlins,
der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Das Schloß ist - wie viele Gebäude
der Stadt - mit seiner bewegten Vergangenheit ein Zeugnis deutscher Geschichte. Der
klare Blick auch auf ihre dunklen Seiten ermöglicht uns, aus der Vergangenheit zu
lernen und Anstöße für die Gegenwart zu erhalten. Die Bundesrepublik Deutschland ist
durch die von der Verantwortung vor Gott und voreinander gestaltete Kraft der Freiheit
zu dem geworden, was sie heute ist. Sie braucht diese Dynamik, die alle Bereiche des
Humanen einbezieht, um unter den aktuellen Bedingungen sich weiter entfalten zu können.
Sie braucht dies in einer Welt, die einer tiefgreifenden kulturellen Erneuerung und
der Wiederentdeckung von Grundwerten bedarf, auf denen eine bessere Zukunft aufzubauen
ist (Enzyklika Caritas in veritate, 21). Ich wünsche mir, daß die Begegnungen an
den verschiedenen Stationen meiner Reise hier in Berlin, in Erfurt, im Eichsfeld und
in Freiburg dazu einen kleinen Beitrag leisten können. In diesen Tagen schenke Gott
uns allen seinen Segen.“ (rv 22.09.2011 sk)