Ägypten: Die Unruhe, die Demokratie und die Christen
Wie stellt sich die Situation von Christen in Ägypten derzeit dar? Wo sind sie am
Aufbau des Landes beteiligt? Über diese Fragen hat Radio Vatikan mit dem Menschenrechtsexperten
von Missio, Othmar Oehring, gesprochen. Ohring war zuletzt in Kairo unterwegs, just
zu dem Zeitpunkt, als wütende Demonstranten die israelische Botschaft stürmen wollten
- der Vorfall ist erstes Thema unseres Expertengespräches, danach kommen wir zur Lage
der Christen.
Herr Oehring, am vergangenen Wochenende hatten gewaltbereite
Demonstranten in Kairo versucht, die israelische Botschaft zu stürmen. Israel hatte
daraufhin seinen Botschafter aus Ägypten abgezogen. Inzwischen bemühen sich beide
Staaten um Entspannung. Wie ist denn die Attacke auf die Botschaft zu verstehen?
"Was
in dem Zusammenhang interessant ist: dass es zuvor eine große Demonstration auf dem
Tahrir-Platz gegeben hat. Die Unzufriedenheit der Menschen in Äypten mit dem, was
das momentane Regime - eine vom Militär eingesetzte Regierung - bisher geleistet hat,
ist sehr groß. Als die Menschen dann vom Tahrir-Platz wieder weggingen, ist ein Teil
der Demonstranten dann in Richtung israelische Botschaft gezogen. Wobei man davon
ausgehen muss, dass die Herrschenden das durchaus zugelassen haben, um den aufgebrachten
Demonstranten die Möglichkeit zu geben, irgendwo ihr Mütchen zu kühlen. Und das haben
sie ja dann auch an der schlecht bewachten und schlecht gesicherten israelischen Botschaft
getan."
Also würden Sie sagen, das war "nur" ein Ausrutscher in den Wirren
des arabischen Frühlings und kein Anzeichen für eine Verschlechterung der bilateralen
Beziehungen der beiden Länder?
"Also nach allem, was man schon zu dem Zeitpunkt
unmittelbar danach in Kairo gehört hat, hat die Regierung Ägyptens kein Interesse
an einer Verschlechterung der Beziehungen zu Israel. De facto muss man ja sagen, dass
die jetzige Regierung im Grunde eine Regierung, die durchaus aus dem Bereich der alten
Regierung stammt, insbesondere natürlich der oberste Militärrat ist Teil der Armee,
die das Land seit 60 Jahren - von Nasser über as-Sad bis Mubarak beherrscht hat -
und diese Armeeführung hat, so scheint es zumindest kein wirkliches Interesse an einer
grundlegenden Verschlechterung der Beziehungen zu Israel."
Große
Erwartungen
Sie sprachen von Unzufriedenheit des Volkes - was sind
denn da die Kritikpunkte der demonstrierenden Ägypter gegen den herrschenden Militärrat?
"Das
Grundproblem - nicht nur in Ägypten, sondern in allen Ländern des arabischen Frühlings,
ist natürlich, dass die Erwartungen der Menschen im Verfolgen dieser Umbrüche gewaltig
sind. Sie wollen Freiheit, diese Freiheit gibt es teilweise auch. Man hört aber dann,
dass der Geheimdienst, den es so nicht mehr gibt, in anderer Form weiterbesteht, dass
auch die Akteure, die sich um die entsprechenden Fragestellungen kümmern, genau die
gleichen sind wie vor dem Beginn des arabischen Frühlings. Man sieht, dass die Wirtschaft
faktisch darniederliegt, man hört, dass das Regime schon die letzten Nahrungsmittelvorräte,
die irgendwo gebunkert waren, praktische auf den Markt hat werfen müssen, um sicherzustellen,
dass die Preise nicht explodieren und das Volk noch genügend Nahrung bekommt, insbesondere
natürlich die arme Bevölkerung. In den Supermärkten können Sie natürlich alles kaufen,
was teuer und gut ist, aber das interessiert natürlich den Großteil der Bevölkerung
nicht, die wollen ganz einfache Sachen, und da muss das Regime eben zusehen, dass
es das auch tatsächlich zu einem vertretbaren Preis auch weiterhin gibt."
Wie
steht es aktuell mit dem Arbeitsmarkt in Ägypten?
"Ein weiteres großes
Problem ist, dass es aktuell eine große Arbeitslosigkeit in Ägypten gibt, dass eben
noch mehr Menschen als vor dem Umbruch keine Arbeit haben, der Tourismus liegt praktisch
vollkommen darnieder, andere Wirtschaftszweige auch. Und da muss natürlich etwas dran
getan werden, die Menschen müssen wieder in Arbeit kommen, sie müssen ihr Auskommen
haben, und sie müssen wirklich eine Perspektive haben, die zeigt, dass es Zukunft
in Ägypten für sie gibt."
Man bekommt den Eindruck, dass das Land nicht
"in Gang" kommt, weil es einmal Gerechtigkeit geschaffen werden muss. In Kairo läuft
derzeit der Prozess gegen Verantwortliche für Gewalt gegen Demonstranten während der
Proteste vom Januar. Wird da jetzt tatsächlich Gerechtigkeit geschaffen - wie ist
das zu verstehen? "Man kann schon davon ausgehen, dass es grundsätzlich den
Willen gibt, dass den Menschen, die Opfer geworden sind, dass denen Gerechtigkeit
widerfährt. Aber die Dimension des politischen Prozesses ist eine wichtige und eine
nicht zu vernachlässigende Dimension; es wird ganz klar darauf hingewiesen von vielen
Beobachtern, dass eine Verurteilung von Mubarak und auch der Minister, die mit ihm
angeklagt sind zwar zu erwarten ist, dass es aber noch viele Überraschungen im Lauf
dieser Prozesse geben kann, weil faktisch nicht nur dieses Regime auf der Anklagebank
sitzt, sondern auch die Regierungen im Westen, die dieses Regime unterstützt haben.
Und man muss davon ausgehen, dass das natürlich sowohl den betroffenen Ländern als
auch der jetzigen Regierung in Kairo durchaus unangenehm sein kann und dass man natürlich
auch von Seiten der derzeitigen Regierung und Herrscher in Kairo durchaus nach trachten
wird, soweit als möglich zu viele Eröffnungen über das, was in der Vergangenheit zwischen
den Beteiligten auch im internationalen Zusammenhang gelaufen ist, an die Öffentlichkeit
geraten zu lassen."
Wie hat sich denn die Lage der Kopten in den letzten
Monaten entwickelt? Der ägyptische Militärrat hat ja nicht nur mehr Schutz für ausländische
Botschaften zugesagt, sondern vorher schon den Christen auch mehr Schutz für deren
Einrichtungen versprochen. Was ist daraus geworden?
"Tatsächlich ist es
so, dass die meisten christlichen Einrichtungen, Kirchen usw., dass die natürlich
bewacht werden von der Polizei, das hat es vorher auch schon gegeben. Und der Schutz,
den man sieht, wenn man den qualifizieren wollte, dann müsste man sagen, von den paar
Polizisten mit ihren alten Maschinenpistolen ist im Grunde genommen am Ende nicht
viel Schutz zu erwarten, wenn es tatsächlich zu massiven Übergriffen oder gar Bombenanschlägen
auf entsprechende kirchliche Einrichtungen kommen sollte. Insgesamt ist die Situation
nicht nur der koptischen-orthodoxen und koptisch-katholischen Christen, sondern die
der Christen allgemein, momentan in der Schwebe ist, und dass auch von Seiten der
Kirchen niemand eine abschließende Aussage in Bezug auf die Zukunft der Christen in
dem Land wagt."
Was heißt "ziviler Staat"?
Wie
weit ist man eigentlich mit der Verfassung und was wären konstruktive Schritte für
eine neue Stabilität des Landes - auch etwa hinsichtlich des Zusammenlebens der Religionen
und der Religionsfreiheit?
"Die Diskussion geht momentan um den zivilen
Staat, man vermeidet ausdrücklich Worte wie säkular oder laizistisch, weil die natürlich
vom islamischen Establishment und insbesondere auch von der Muslimbruderschaft und
den Salafisten als anti-religiöse Ideen beschrieben werden, und das wäre natürlich
Gift im Hinblick auf die Diskussion, die man momentan führt, es geht also um den zivilen
Staat, um einen Staat, in dem es - anders, als in einem islamischen Staat Trennung
von Religion und Staatswesen gibt. Ob das dann tatsächlich umgesetzt werden kann,
das ist die große Frage. Es wird berichtet, dass selbst einige Parteien aus dem Umfeld
der Muslimbruderschaft sich verbal für einen solchen zivilen Staat stark machen. Die
Frage ist aber, ob die Muslimbruderschaft respektive die entsprechenden Parteien,
ob die - wenn sie von einem zivilen Staat sprechen - genau das gleiche meinen wie
die liberalen und linken Parteien, die es in Ägypten natürlich auch gibt, die sich
gemeinsam auch mit den Kirchen für einen zivilen Staat einsetzen."
Dazu
noch eine Frage, Herr Oehring - wie groß ist denn real die Beteiligung der Christen
am Neuaufbau der ägyptischen Gesellschaft, auch am Schreiben der neuen Verfassung?
Kennen Sie Christen, die daran beteiligt sind?
"Also in dem Gremium, das
momentan die Verfassung ausarbeitet, ist ein einziger orthodoxer Christ, der vorher
ein großer Richter war, also der durchaus ein Fachmann ist. Aber er sieht sich natürlich
auch in diesem Gremium einer muslimischen Mehrheit gegenüber. Es ist auch eine nennenswerte
Zahl Personen in diesem Gremium, die der Muslimbruderschaft nahestehen. also insofern
ist natürlich fraglich, ob dieser eine Christ viel bewirken kann in diesem Gremium.
Insgesamt wird in Ägypten von vielen Leuten die größte der christlichen Kirchen mit
als Teil des Problems im Hinblick auf einen grundlegenden Wandel in Ägypten angesehen
wird: die koptisch-orthodoxe Kirche ist ein sehr statischer, monolithischer Block,
der von oben herab - Manche sagen fast schon in "diktatorischer" Weise - regiert wird,
und wo es eigentlich - vom Establishment, von Papst Shenouda und auch von vielen Bischöfen
her - wenig offene Neigung gibt, sich an grundlegenden Diskussionen über eine Veränderung
der Staatlichkeit in Ägypten zu beteiligen..."
Koptisch-orthodoxe
Kirche - im Aufbruch und Aufruhr
Gilt das denn für alle koptisch-orthodoxe
Gläubige? Die waren doch auch in den letzten Monaten auf der Straße zu sehen.
"Tatsächlich
ist es natürlich so, dass es in den anderen Kirchen und natürlich auch im Kirchenvolk
der koptisch-orthodoxen Kirche einen Aufbruch gibt. Sehr viele sind mit dem, was die
Kirchenführung vorgibt, nicht zufrieden, stellen sich auch ganz offen dagegen und
bewegen sich in ganz vielen Gesprächskontexten, wo es tatsächlich um die Zukunft des
Landes geht. Die Frage ist einfach, wann die koptisch-orthodoxe Kirche die Zeichen
der Zeit erkennt und sich praktisch mit den Gläubigen verbündet und eben nicht weiterhin
von den Gläubigen erwartet, dass die das tun, was die Kirchenobrigkeit will, sondern
dass sie sich gemeinsam mit den anderen Kirchen an den Diskussionen, den offenen und
interessanten Diskussionen, beteiligt, die Ägypten tatsächlich zu einem ganz anderen
Staat werden lassen können, als wir ihn bisher gekannt haben, zu einem freien, einem
demokratischen Staat, in dem es vielleicht am Ende - nach einer langen Zeit - auch
etwas geben kann, was dem entspricht, was wir hier als Religionsfreiheit kennen."