2011-09-15 14:47:16

Ägypten: Die Unruhe, die Demokratie und die Christen


Wie stellt sich die Situation von Christen in Ägypten derzeit dar? Wo sind sie am Aufbau des Landes beteiligt? Über diese Fragen hat Radio Vatikan mit dem Menschenrechtsexperten von Missio, Othmar Oehring, gesprochen. Ohring war zuletzt in Kairo unterwegs, just zu dem Zeitpunkt, als wütende Demonstranten die israelische Botschaft stürmen wollten - der Vorfall ist erstes Thema unseres Expertengespräches, danach kommen wir zur Lage der Christen.

Herr Oehring, am vergangenen Wochenende hatten gewaltbereite Demonstranten in Kairo versucht, die israelische Botschaft zu stürmen. Israel hatte daraufhin seinen Botschafter aus Ägypten abgezogen. Inzwischen bemühen sich beide Staaten um Entspannung. Wie ist denn die Attacke auf die Botschaft zu verstehen?

"Was in dem Zusammenhang interessant ist: dass es zuvor eine große Demonstration auf dem Tahrir-Platz gegeben hat. Die Unzufriedenheit der Menschen in Äypten mit dem, was das momentane Regime - eine vom Militär eingesetzte Regierung - bisher geleistet hat, ist sehr groß. Als die Menschen dann vom Tahrir-Platz wieder weggingen, ist ein Teil der Demonstranten dann in Richtung israelische Botschaft gezogen. Wobei man davon ausgehen muss, dass die Herrschenden das durchaus zugelassen haben, um den aufgebrachten Demonstranten die Möglichkeit zu geben, irgendwo ihr Mütchen zu kühlen. Und das haben sie ja dann auch an der schlecht bewachten und schlecht gesicherten israelischen Botschaft getan."

Also würden Sie sagen, das war "nur" ein Ausrutscher in den Wirren des arabischen Frühlings und kein Anzeichen für eine Verschlechterung der bilateralen Beziehungen der beiden Länder?

"Also nach allem, was man schon zu dem Zeitpunkt unmittelbar danach in Kairo gehört hat, hat die Regierung Ägyptens kein Interesse an einer Verschlechterung der Beziehungen zu Israel. De facto muss man ja sagen, dass die jetzige Regierung im Grunde eine Regierung, die durchaus aus dem Bereich der alten Regierung stammt, insbesondere natürlich der oberste Militärrat ist Teil der Armee, die das Land seit 60 Jahren - von Nasser über as-Sad bis Mubarak beherrscht hat - und diese Armeeführung hat, so scheint es zumindest kein wirkliches Interesse an einer grundlegenden Verschlechterung der Beziehungen zu Israel."

Große Erwartungen

Sie sprachen von Unzufriedenheit des Volkes - was sind denn da die Kritikpunkte der demonstrierenden Ägypter gegen den herrschenden Militärrat?

"Das Grundproblem - nicht nur in Ägypten, sondern in allen Ländern des arabischen Frühlings, ist natürlich, dass die Erwartungen der Menschen im Verfolgen dieser Umbrüche gewaltig sind. Sie wollen Freiheit, diese Freiheit gibt es teilweise auch. Man hört aber dann, dass der Geheimdienst, den es so nicht mehr gibt, in anderer Form weiterbesteht, dass auch die Akteure, die sich um die entsprechenden Fragestellungen kümmern, genau die gleichen sind wie vor dem Beginn des arabischen Frühlings. Man sieht, dass die Wirtschaft faktisch darniederliegt, man hört, dass das Regime schon die letzten Nahrungsmittelvorräte, die irgendwo gebunkert waren, praktische auf den Markt hat werfen müssen, um sicherzustellen, dass die Preise nicht explodieren und das Volk noch genügend Nahrung bekommt, insbesondere natürlich die arme Bevölkerung. In den Supermärkten können Sie natürlich alles kaufen, was teuer und gut ist, aber das interessiert natürlich den Großteil der Bevölkerung nicht, die wollen ganz einfache Sachen, und da muss das Regime eben zusehen, dass es das auch tatsächlich zu einem vertretbaren Preis auch weiterhin gibt."

Wie steht es aktuell mit dem Arbeitsmarkt in Ägypten?

"Ein weiteres großes Problem ist, dass es aktuell eine große Arbeitslosigkeit in Ägypten gibt, dass eben noch mehr Menschen als vor dem Umbruch keine Arbeit haben, der Tourismus liegt praktisch vollkommen darnieder, andere Wirtschaftszweige auch. Und da muss natürlich etwas dran getan werden, die Menschen müssen wieder in Arbeit kommen, sie müssen ihr Auskommen haben, und sie müssen wirklich eine Perspektive haben, die zeigt, dass es Zukunft in Ägypten für sie gibt."

Man bekommt den Eindruck, dass das Land nicht "in Gang" kommt, weil es einmal Gerechtigkeit geschaffen werden muss. In Kairo läuft derzeit der Prozess gegen Verantwortliche für Gewalt gegen Demonstranten während der Proteste vom Januar. Wird da jetzt tatsächlich Gerechtigkeit geschaffen - wie ist das zu verstehen?
"Man kann schon davon ausgehen, dass es grundsätzlich den Willen gibt, dass den Menschen, die Opfer geworden sind, dass denen Gerechtigkeit widerfährt. Aber die Dimension des politischen Prozesses ist eine wichtige und eine nicht zu vernachlässigende Dimension; es wird ganz klar darauf hingewiesen von vielen Beobachtern, dass eine Verurteilung von Mubarak und auch der Minister, die mit ihm angeklagt sind zwar zu erwarten ist, dass es aber noch viele Überraschungen im Lauf dieser Prozesse geben kann, weil faktisch nicht nur dieses Regime auf der Anklagebank sitzt, sondern auch die Regierungen im Westen, die dieses Regime unterstützt haben. Und man muss davon ausgehen, dass das natürlich sowohl den betroffenen Ländern als auch der jetzigen Regierung in Kairo durchaus unangenehm sein kann und dass man natürlich auch von Seiten der derzeitigen Regierung und Herrscher in Kairo durchaus nach trachten wird, soweit als möglich zu viele Eröffnungen über das, was in der Vergangenheit zwischen den Beteiligten auch im internationalen Zusammenhang gelaufen ist, an die Öffentlichkeit geraten zu lassen."

Wie hat sich denn die Lage der Kopten in den letzten Monaten entwickelt? Der ägyptische Militärrat hat ja nicht nur mehr Schutz für ausländische Botschaften zugesagt, sondern vorher schon den Christen auch mehr Schutz für deren Einrichtungen versprochen. Was ist daraus geworden?

"Tatsächlich ist es so, dass die meisten christlichen Einrichtungen, Kirchen usw., dass die natürlich bewacht werden von der Polizei, das hat es vorher auch schon gegeben. Und der Schutz, den man sieht, wenn man den qualifizieren wollte, dann müsste man sagen, von den paar Polizisten mit ihren alten Maschinenpistolen ist im Grunde genommen am Ende nicht viel Schutz zu erwarten, wenn es tatsächlich zu massiven Übergriffen oder gar Bombenanschlägen auf entsprechende kirchliche Einrichtungen kommen sollte. Insgesamt ist die Situation nicht nur der koptischen-orthodoxen und koptisch-katholischen Christen, sondern die der Christen allgemein, momentan in der Schwebe ist, und dass auch von Seiten der Kirchen niemand eine abschließende Aussage in Bezug auf die Zukunft der Christen in dem Land wagt."


Was heißt "ziviler Staat"?

Wie weit ist man eigentlich mit der Verfassung und was wären konstruktive Schritte für eine neue Stabilität des Landes - auch etwa hinsichtlich des Zusammenlebens der Religionen und der Religionsfreiheit?

"Die Diskussion geht momentan um den zivilen Staat, man vermeidet ausdrücklich Worte wie säkular oder laizistisch, weil die natürlich vom islamischen Establishment und insbesondere auch von der Muslimbruderschaft und den Salafisten als anti-religiöse Ideen beschrieben werden, und das wäre natürlich Gift im Hinblick auf die Diskussion, die man momentan führt, es geht also um den zivilen Staat, um einen Staat, in dem es - anders, als in einem islamischen Staat Trennung von Religion und Staatswesen gibt. Ob das dann tatsächlich umgesetzt werden kann, das ist die große Frage. Es wird berichtet, dass selbst einige Parteien aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft sich verbal für einen solchen zivilen Staat stark machen. Die Frage ist aber, ob die Muslimbruderschaft respektive die entsprechenden Parteien, ob die - wenn sie von einem zivilen Staat sprechen - genau das gleiche meinen wie die liberalen und linken Parteien, die es in Ägypten natürlich auch gibt, die sich gemeinsam auch mit den Kirchen für einen zivilen Staat einsetzen."

Dazu noch eine Frage, Herr Oehring - wie groß ist denn real die Beteiligung der Christen am Neuaufbau der ägyptischen Gesellschaft, auch am Schreiben der neuen Verfassung? Kennen Sie Christen, die daran beteiligt sind?

"Also in dem Gremium, das momentan die Verfassung ausarbeitet, ist ein einziger orthodoxer Christ, der vorher ein großer Richter war, also der durchaus ein Fachmann ist. Aber er sieht sich natürlich auch in diesem Gremium einer muslimischen Mehrheit gegenüber. Es ist auch eine nennenswerte Zahl Personen in diesem Gremium, die der Muslimbruderschaft nahestehen. also insofern ist natürlich fraglich, ob dieser eine Christ viel bewirken kann in diesem Gremium. Insgesamt wird in Ägypten von vielen Leuten die größte der christlichen Kirchen mit als Teil des Problems im Hinblick auf einen grundlegenden Wandel in Ägypten angesehen wird: die koptisch-orthodoxe Kirche ist ein sehr statischer, monolithischer Block, der von oben herab - Manche sagen fast schon in "diktatorischer" Weise - regiert wird, und wo es eigentlich - vom Establishment, von Papst Shenouda und auch von vielen Bischöfen her - wenig offene Neigung gibt, sich an grundlegenden Diskussionen über eine Veränderung der Staatlichkeit in Ägypten zu beteiligen..."

Koptisch-orthodoxe Kirche - im Aufbruch und Aufruhr

Gilt das denn für alle koptisch-orthodoxe Gläubige? Die waren doch auch in den letzten Monaten auf der Straße zu sehen.

"Tatsächlich ist es natürlich so, dass es in den anderen Kirchen und natürlich auch im Kirchenvolk der koptisch-orthodoxen Kirche einen Aufbruch gibt. Sehr viele sind mit dem, was die Kirchenführung vorgibt, nicht zufrieden, stellen sich auch ganz offen dagegen und bewegen sich in ganz vielen Gesprächskontexten, wo es tatsächlich um die Zukunft des Landes geht. Die Frage ist einfach, wann die koptisch-orthodoxe Kirche die Zeichen der Zeit erkennt und sich praktisch mit den Gläubigen verbündet und eben nicht weiterhin von den Gläubigen erwartet, dass die das tun, was die Kirchenobrigkeit will, sondern dass sie sich gemeinsam mit den anderen Kirchen an den Diskussionen, den offenen und interessanten Diskussionen, beteiligt, die Ägypten tatsächlich zu einem ganz anderen Staat werden lassen können, als wir ihn bisher gekannt haben, zu einem freien, einem demokratischen Staat, in dem es vielleicht am Ende - nach einer langen Zeit - auch etwas geben kann, was dem entspricht, was wir hier als Religionsfreiheit kennen."

(rv 15.09.2011 pr)









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