Liturgie – was Sie schon immer darüber wissen wollten
Immer dasselbe und
doch so bunt: Die Liturgie prägt das Leben eines jeden Gläubigen. Was für Katholiken
selbstverständlich ist, ist aber doch nicht bei allen so bekannt. Der Theologe Liborius
Olaf Lumma gibt uns in der Sende-Reihe "Radioakademie: Liturgie - was Sie schon immer
darüber wissen wollten" eine Einführung in die katholische Liturgie.
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die Sendung bei uns als CD bestellen: c d @ radiovatikan.de
Liborius Olaf Lumma
ist seit 2006 Universitätsassistent am Institut für Bibelwissenschaften und Historische
Theologie der Universität Innsbruck im Fachbereich Liturgiewissenschaft. Er hat im
Pustet Verlag das Buch „Crashkurs Liturgie“ herausgegeben. In der heutigen Sendung
geht es um die Frage: Was ist Liturgie?
Die Verwendung des Begriffs „Liturgie“
ist in der christlichen Geschichte keineswegs selbstverständlich, und auch heute kann
in unterschiedlichen Zusammenhängen Unterschiedliches damit gemeint sein.
In
der griechischen Antike bedeutete leitourgia zunächst die Ausübung eines öffentlichen
Amtes. Die Beamten einer Stadt oder einer Provinz vollzogen leitourgia. Liturgie ist
demnach beispielsweise öffentliche Verwaltungstätigkeit. Der Begriff kann sich aber
auch auf die Organisation und Durchführung religiöser Handlungen beziehen, z.B. auf
staatlich organisierte Opferfeste oder Theaterspiele zu Ehren einer bestimmten Gottheit.
Die
griechische Fassung des Alten Testaments verwendet das Wort leitourgia für den kultischen
Dienst der Priester am Jerusalemer Tempel, also besonders für das Darbringen aller
Arten von Opfer, die Gott in seiner Lebensweisung für das Volk Israel angeordnet hatte.
Das
Neue Testament spricht in seinen griechischen Originaltexten in ähnlicher Weise von
leitourgia, bezieht dies aber besonders auf Jesus Christus, dessen Lebenshingabe am
Kreuz als die einzig wahre leitourgia verstanden wird – dies gilt besonders für den
Hebräerbrief. Laut dem Hebräerbrief macht die leitourgia Christi am Kreuz jede weitere
leitourgia überflüssig.
Der Philipperbrief kennt darüber hinaus die „Liturgie
des Glaubens“: Die Annahme der Botschaft Jesu Christi ist selbst eine „Liturgie“,
ist wahrer, Gott angemessener „Dienst“.
Dahinter steckt die grundlegende, vielen
Religionen gemeinsame Vorstellung, dass durch Opferkulte eine durch menschliches Fehlverhalten
beschädigte Beziehung zwischen Gottheit und Menschheit wiederhergestellt, also Versöhnung
zwischen Gott und Mensch gestiftet wird. Indem der Hebräerbrief diesen Gedanken auf
Christus bezieht, drückt er aus, dass Jesus Christus den tiefsten Sinn aller Opfer
erfüllt: Anstatt irgendwelche rituellen Ersatzleistungen, wie etwa das Schlachten
von Tieren, auszuüben, richtet Jesus Christus seine ganze Existenz nach dem Willen
seines göttlichen Vaters aus und bleibt diesem Weg sogar dann noch treu, als es ihn
sein eigenes Leben kostet. Solche auf Gottes rettender Liebe aufbauende Treue ist,
wenn man den Hebräerbrief in dieser Weise liest, die einzige Gott angemessene Form
der menschlichen Existenz; vor ihr verblassen alle jemals dargebrachten rituellen
Opferkulte und auch aller Kulte, die nach Jesus Christus noch kommen sollten.
Historisch
ist die neutestamentliche Theologie erheblich durch die Zerstörung des Jerusalemer
Tempels im Jahr 70 n. Chr. beeinflusst. Die Frage, wie nach dem Verlust des einzigen
Kultortes Israels überhaupt noch Beziehung zwischen Mensch und Gott bestehen könne,
wird nun von den frühen christlichen Theologen unter Bezug auf den „Kreuzestod“ Jesu
Christi neu beantwortet.
Nur an einer einzigen Stelle des Neuen Testamentes
ist im Zusammenhang eines gemeinsamen Tuns der christlichen Gemeinde von Liturgie
die Rede, nämlich in Apg 13,2, wo es heißt: „Als sie zu Ehren des Herrn Gottesdienst
feierten (griechisch: leitourgounton) und fasteten …“ – leider gibt uns der Text keine
Auskunft darüber, was der Begriff liturgia in diesem Zusammenhang genau beschreibt.
In
der über die Jahrhunderte entwickelten christlichen Theologie wird der Begriff Liturgie
nicht einheitlich verwendet. Gemäß einer dieser Verwendungsweisen wird im Grunde nur
ein einziges Ritual als Liturgie bezeichnet, nämlich die Eucharistiefeier. Diese sehr
enge Begriffsverwendung des Wortes „Liturgie“ (meist erweitert zu „Heilige Liturgie“
oder „Göttliche Liturgie“) ist überall dort gebräuchlich, wo die christliche Theologie
sich in den ersten Jahrhunderten maßgeblich in griechischer Sprache entwickelte, also
im östlichen Mittelmeerraum und allen von dort missionierten Gebieten vor allem in
Osteuropa und dem Nahen Osten.
Anders verhält es sich im lateinisch geprägten
Christentum, also im westlichen Mittelmeerraum und in den Gebieten, die von dort aus
das Christentum übernahmen – somit auch im deutschen Sprachraum. Das griechische Wort
leitourgia wurde hier über viele Jahrhunderte überhaupt nicht verwendet. Man kannte
verschiedene lateinische Wörter für „Dienst“, die auch für den „Gottes-Dienst“ in
all seinen verschiedenen Formen benutzt wurden, z.B. officium, ministerium und Opus
Dei.
Das deutsche Wort „Gottesdienst“ ist die wörtliche Übersetzung von opus
Dei (wobei sowohl der lateinische als auch der deutsche Ausdruck offen für zwei Interpretationen
sind: Dienst des Menschen an Gott – oder Dienst Gottes am Menschen!).
Der Gedanke
von „Dienst“ schwingt auch mit, wenn die Eucharistiefeier in deutscher Sprache gelegentlich
als „Amt“ bezeichnet wird, zum Beispiel in dem bis heute gebräuchlichen Wort „Hochamt“
für einen besonders feierlich gestalteten Gottesdienst an einem Sonn- oder Festtag.
Daneben gibt es im Lateinischen auch den Begriff des cultus oder des divinus cultus,
also des „göttlichen Kultes“, der ebenfalls weit verbreitet ist und sich zu einem
kirchenrechtlichen Fachbegriff für die Liturgie entwickelte.
Erst seit dem
16. Jahrhundert sprechen auch im lateinischen Westeuropa Gelehrte von liturgia im
Sinne von „Gottesdienst“. Es dauert aber viele Jahrzehnte, ehe das Wort liturgia auch
in offiziellen kirchlichen Dokumenten in Verwendung kommt.
Im 20. Jahrhundert
wird in der katholischen Theologie um die genaue Abgrenzung des Begriffs Liturgie
gerungen. Das II. Vatikanische Konzil legte sich schließlich in seiner „Konstitution
über die heilige Liturgie“ Sacrosanctum Concilium auf eine bestimmte Begriffsverwendung
fest: „Liturgie“ (lateinisch liturgia oder sacra liturgia) ist danach zu unterscheiden
von „frommen Bräuchen/Übungen“ (lateinisch pia exercitia). „Liturgie“ wird mit höchster
weltkirchlicher Autorität in ihrem Ablauf und Inhalt geregelt (dies geschieht etwa
dadurch, dass der Papst als höchste weltkirchliche Instanz ein liturgisches Buch herausgibt
oder ein solches Buch anerkennt, das den Ablauf der jeweiligen Gottesdienstform beinhaltet).
Dagegen sind die pia exercitia all jene Formen von Gottesdienst, die privat, in kleinen
Gruppen, regional oder bisweilen auch in der gesamten Weltkirche gepflegt werden,
ohne jedoch in irgendeiner Form normativ mit höchster Autorität anerkannt und geregelt
zu sein.
Zwischen der sacra liturgia und den pia exercitia gibt es noch die
sacra exercitia, das sind all jene Gottesdienstformen, die zwar nicht für die ganze
Weltkirche, aber durch einen Bischof oder eine Gruppe von Bischöfen für ihren jeweiligen
Amtsbereich festgelegt sind.
Die Stärke dieser vom Konzil vorgenommenen – und
dabei eigentlich ja rein juristischen – Begriffsbestimmung liegt auf der Hand: Man
kann nun ziemlich präzise unterscheiden, was unter den Begriff Liturgie fällt und
was nicht. Allerdings sagt dies nichts über den inhaltlichen Akzent oder die Grundstruktur
verschiedener Gottesdienstformen aus.
Die Begriffsbestimmung des Konzils hat
also ihren Sinn nicht darin, Aussagen über Inhalt oder Ablauf eines bestimmten Rituals
treffen zu können. Dennoch ist eine durchaus wichtige Sache ausgedrückt: Die liturgia
wird nämlich nach den Worten von Sacrosanctum Concilium 13 als Maßstab, als weltkirchlicher,
alle Katholiken in ihrer gottesdienstlichen Kultur verbindender Orientierungspunkt
verstanden, an dem die pia exercitia zu messen sind: Die „Liturgie“ genießt einen
höheren theologischen Stellenwert als die „frommen Übungen“. Liturgie ist für die
ganze Kirche normativ, sie verbindet die Katholikinnen und Katholiken weltweit und
über Generationen hinweg. Auch wenn die Liturgie im Detail immer wieder Änderungen,
Anpassungen und Weiterentwicklungen erfährt und erfahren muss, um in jeder Epoche
ihre volle Kraft entfalten zu können, so steht die Liturgie doch unter dem Anspruch,
gleichsam „offizieller“, verbindlicher Ausdruck und Pflege des Glaubens der ganzen
Kirche aller Orte und Zeiten zu sein. Dagegen dient das „Brauchtum“ eher der Pflege
individueller Spiritualität, des Lebensgefühls einer Gruppe oder der religiösen Leitmotive
einer Region oder Epoche.
Die Unterscheidung von liturgia und exercitia sagt
daher auch nichts über die kulturelle Bedeutung einer Gottesdienstform für die gelebte
Praxis oder über die unmittelbare Wirkung eines Gottesdienstes auf den Glauben einzelner
Menschen aus.
Dazu ein Beispiel: Die Priester der katholischen Kirche sind
im Normalfall dazu verpflichtet, die Tagzeitenliturgie, also das Stundengebet, möglichst
gemeinsam mit den übrigen Gläubigen, mindestens aber privat für sich zu halten. Auch
manche Gläubige beten die Tagzeiten allein für sich oder in kleinen Gruppen – das
II. Vatikanische Konzil hatte dazu ganz ausdrücklich eingeladen, mehr noch: dazu aufgefordert.
Für die Tagzeitenliturgie gibt es ein für die ganze Kirche herausgegebenes liturgisches
Buch, in dem der Ablauf geregelt ist: Die Liturgia Horarum oder in ihrer deutschen
Fassung das „Stundenbuch“.
Anders sieht es mit der Fronleichnamsprozession
aus. Diese Einrichtung ist vielerorts auch heute noch von höchster Bedeutung für das
kirchliche Leben, für die sozialen Strukturen innerhalb der Kirchengemeinden und für
die religiöse Prägung der dort lebenden Christinnen und Christen. Die Fronleichnamsprozession
findet sich aber in keinem liturgischen Buch geregelt, sie folgt einfach örtlichen
Gewohnheiten, wie sie sich seit der Entstehung dieses Festes im 13. Jahrhundert entwickelt
haben und auch immer wieder verändern und weiterentwickeln.
Ein Christ, der
privat – womöglich auf seinem Wohnzimmersessel sitzend – die Tagzeiten betet, pflegt
also liturgia; Tausende Katholiken, die am Fronleichnamsfest – womöglich gemeinsam
mit ihrem Bischof – in stundenlanger Prozession durch die Straßen ziehen, begehen
keine liturgia, sondern „nur“ eine „fromme Übung“!
Die Unterscheidung zwischen
liturgia und exercitia weist also einer bestimmten Gruppe von Gottesdienstformen besondere
theologische Wertschätzung und einen normativen Charakter für die ganze Kirche zu.
Über die praktische Bedeutung für das Glaubensleben der Gemeinden, der einzelnen Christen
oder der kulturellen Prägung einer Region ist damit aber nichts gesagt. Zur Liturgie
gehören demnach alle sakramentalen Liturgien: Taufe, Firmung, Eucharistie, Versöhnung,
Krankensalbung, Trauung und Ordination, außerdem die Tagzeitenliturgie, Segnungsgottesdienste,
das Begräbnis und einige weitere. Zu den pia exercitia gehören Eucharistische Anbetung,
Rosenkranz, Kreuzwegandacht, Fronleichnamsprozession, Maiandachten, Taizé-Gebete,
frei gestaltete Morgen- und Abendandachten, Wallfahrten und so weiter.
Beschäftigt
man sich wissenschaftlich mit Liturgie, dann wird man nicht bei der engen Umschreibung
stehen bleiben. Für die Liturgiewissenschaft sind auch die pia exercitia interessant,
insofern sich auch in ihnen der christliche Glaube ausdrückt und umgekehrt die Gläubigen
in ihrem Gottesbild und ihrem Selbstverständnis als Christinnen und Christen geprägt
werden. Die Wissenschaft richtet ihren Blick darüber hinaus auch auf Gottesdienstformen,
die nicht mehr existieren, die aber in ihrer Epoche oder ihrem Kulturraum nachhaltig
prägend waren – ganz gleich, ob sie jemals in offiziellen Rang erhoben wurden oder
nicht.
Zusammenfassend lässt sich festhalten:
Im griechisch geprägten
Christentum bezeichnet der Begriff Liturgie ein einziges christliches Ritual, nämlich
die Eucharistiefeier.
Im lateinischen, amtlichen Sprachgebrauch der katholischen
Kirche gilt als Liturgie jede Gottesdienstform, die für die gesamte Weltkirche normativen
Charakter hat und der sich alle Formen privater, gemeinschaftlicher, regionaler und
sonstiger Frömmigkeitsformen theologisch unterzuordnen haben.
Das Interesse
der Erforschung der Liturgie (der Liturgiewissenschaft) gilt darüber hinaus auch allen
anderen Formen gemeinsamen und privaten Gebetes und gottesdienstlichen Feierns: seien
sie in der Vergangenheit bezeugt, in der Gegenwart praktiziert oder erst auf Zukunft
hin zu entwerfen.