2011-08-02 11:33:10

Liturgie – was Sie schon immer darüber wissen wollten


RealAudioMP3 Immer dasselbe und doch so bunt: Die Liturgie prägt das Leben eines jeden Gläubigen. Was für Katholiken selbstverständlich ist, ist aber doch nicht bei allen so bekannt. Der Theologe Liborius Olaf Lumma gibt uns in der Sende-Reihe "Radioakademie: Liturgie - was Sie schon immer darüber wissen wollten" eine Einführung in die katholische Liturgie.

Sie können die Sendung bei uns als CD bestellen: c d @ radiovatikan.de

Liborius Olaf Lumma ist seit 2006 Universitätsassistent am Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie der Universität Innsbruck im Fachbereich Liturgiewissenschaft. Er hat im Pustet Verlag das Buch „Crashkurs Liturgie“ herausgegeben. In der heutigen Sendung geht es um die Frage: Was ist Liturgie?

Die Verwendung des Begriffs „Liturgie“ ist in der christlichen Geschichte keineswegs selbstverständlich, und auch heute kann in unterschiedlichen Zusammenhängen Unterschiedliches damit gemeint sein.

In der griechischen Antike bedeutete leitourgia zunächst die Ausübung eines öffentlichen Amtes. Die Beamten einer Stadt oder einer Provinz vollzogen leitourgia. Liturgie ist demnach beispielsweise öffentliche Verwaltungstätigkeit. Der Begriff kann sich aber auch auf die Organisation und Durchführung religiöser Handlungen beziehen, z.B. auf staatlich organisierte Opferfeste oder Theaterspiele zu Ehren einer bestimmten Gottheit.

Die griechische Fassung des Alten Testaments verwendet das Wort leitourgia für den kultischen Dienst der Priester am Jerusalemer Tempel, also besonders für das Darbringen aller Arten von Opfer, die Gott in seiner Lebensweisung für das Volk Israel angeordnet hatte.

Das Neue Testament spricht in seinen griechischen Originaltexten in ähnlicher Weise von leitourgia, bezieht dies aber besonders auf Jesus Christus, dessen Lebenshingabe am Kreuz als die einzig wahre leitourgia verstanden wird – dies gilt besonders für den Hebräerbrief. Laut dem Hebräerbrief macht die leitourgia Christi am Kreuz jede weitere leitourgia überflüssig.

Der Philipperbrief kennt darüber hinaus die „Liturgie des Glaubens“: Die Annahme der Botschaft Jesu Christi ist selbst eine „Liturgie“, ist wahrer, Gott angemessener „Dienst“.

Dahinter steckt die grundlegende, vielen Religionen gemeinsame Vorstellung, dass durch Opferkulte eine durch menschliches Fehlverhalten beschädigte Beziehung zwischen Gottheit und Menschheit wiederhergestellt, also Versöhnung zwischen Gott und Mensch gestiftet wird. Indem der Hebräerbrief diesen Gedanken auf Christus bezieht, drückt er aus, dass Jesus Christus den tiefsten Sinn aller Opfer erfüllt: Anstatt irgendwelche rituellen Ersatzleistungen, wie etwa das Schlachten von Tieren, auszuüben, richtet Jesus Christus seine ganze Existenz nach dem Willen seines göttlichen Vaters aus und bleibt diesem Weg sogar dann noch treu, als es ihn sein eigenes Leben kostet. Solche auf Gottes rettender Liebe aufbauende Treue ist, wenn man den Hebräerbrief in dieser Weise liest, die einzige Gott angemessene Form der menschlichen Existenz; vor ihr verblassen alle jemals dargebrachten rituellen Opferkulte und auch aller Kulte, die nach Jesus Christus noch kommen sollten.

Historisch ist die neutestamentliche Theologie erheblich durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. beeinflusst. Die Frage, wie nach dem Verlust des einzigen Kultortes Israels überhaupt noch Beziehung zwischen Mensch und Gott bestehen könne, wird nun von den frühen christlichen Theologen unter Bezug auf den „Kreuzestod“ Jesu Christi neu beantwortet.

Nur an einer einzigen Stelle des Neuen Testamentes ist im Zusammenhang eines gemeinsamen Tuns der christlichen Gemeinde von Liturgie die Rede, nämlich in Apg 13,2, wo es heißt: „Als sie zu Ehren des Herrn Gottesdienst feierten (griechisch: leitourgounton) und fasteten …“ – leider gibt uns der Text keine Auskunft darüber, was der Begriff liturgia in diesem Zusammenhang genau beschreibt.

In der über die Jahrhunderte entwickelten christlichen Theologie wird der Begriff Liturgie nicht einheitlich verwendet. Gemäß einer dieser Verwendungsweisen wird im Grunde nur ein einziges Ritual als Liturgie bezeichnet, nämlich die Eucharistiefeier. Diese sehr enge Begriffsverwendung des Wortes „Liturgie“ (meist erweitert zu „Heilige Liturgie“ oder „Göttliche Liturgie“) ist überall dort gebräuchlich, wo die christliche Theologie sich in den ersten Jahrhunderten maßgeblich in griechischer Sprache entwickelte, also im östlichen Mittelmeerraum und allen von dort missionierten Gebieten vor allem in Osteuropa und dem Nahen Osten.

Anders verhält es sich im lateinisch geprägten Christentum, also im westlichen Mittelmeerraum und in den Gebieten, die von dort aus das Christentum übernahmen – somit auch im deutschen Sprachraum. Das griechische Wort leitourgia wurde hier über viele Jahrhunderte überhaupt nicht verwendet. Man kannte verschiedene lateinische Wörter für „Dienst“, die auch für den „Gottes-Dienst“ in all seinen verschiedenen Formen benutzt wurden, z.B. officium, ministerium und Opus Dei.

Das deutsche Wort „Gottesdienst“ ist die wörtliche Übersetzung von opus Dei (wobei sowohl der lateinische als auch der deutsche Ausdruck offen für zwei Interpretationen sind: Dienst des Menschen an Gott – oder Dienst Gottes am Menschen!).

Der Gedanke von „Dienst“ schwingt auch mit, wenn die Eucharistiefeier in deutscher Sprache gelegentlich als „Amt“ bezeichnet wird, zum Beispiel in dem bis heute gebräuchlichen Wort „Hochamt“ für einen besonders feierlich gestalteten Gottesdienst an einem Sonn- oder Festtag. Daneben gibt es im Lateinischen auch den Begriff des cultus oder des divinus cultus, also des „göttlichen Kultes“, der ebenfalls weit verbreitet ist und sich zu einem kirchenrechtlichen Fachbegriff für die Liturgie entwickelte.

Erst seit dem 16. Jahrhundert sprechen auch im lateinischen Westeuropa Gelehrte von liturgia im Sinne von „Gottesdienst“. Es dauert aber viele Jahrzehnte, ehe das Wort liturgia auch in offiziellen kirchlichen Dokumenten in Verwendung kommt.

Im 20. Jahrhundert wird in der katholischen Theologie um die genaue Abgrenzung des Begriffs Liturgie gerungen. Das II. Vatikanische Konzil legte sich schließlich in seiner „Konstitution über die heilige Liturgie“ Sacrosanctum Concilium auf eine bestimmte Begriffsverwendung fest: „Liturgie“ (lateinisch liturgia oder sacra liturgia) ist danach zu unterscheiden von „frommen Bräuchen/Übungen“ (lateinisch pia exercitia). „Liturgie“ wird mit höchster weltkirchlicher Autorität in ihrem Ablauf und Inhalt geregelt (dies geschieht etwa dadurch, dass der Papst als höchste weltkirchliche Instanz ein liturgisches Buch herausgibt oder ein solches Buch anerkennt, das den Ablauf der jeweiligen Gottesdienstform beinhaltet). Dagegen sind die pia exercitia all jene Formen von Gottesdienst, die privat, in kleinen Gruppen, regional oder bisweilen auch in der gesamten Weltkirche gepflegt werden, ohne jedoch in irgendeiner Form normativ mit höchster Autorität anerkannt und geregelt zu sein.

Zwischen der sacra liturgia und den pia exercitia gibt es noch die sacra exercitia, das sind all jene Gottesdienstformen, die zwar nicht für die ganze Weltkirche, aber durch einen Bischof oder eine Gruppe von Bischöfen für ihren jeweiligen Amtsbereich festgelegt sind.

Die Stärke dieser vom Konzil vorgenommenen – und dabei eigentlich ja rein juristischen – Begriffsbestimmung liegt auf der Hand: Man kann nun ziemlich präzise unterscheiden, was unter den Begriff Liturgie fällt und was nicht. Allerdings sagt dies nichts über den inhaltlichen Akzent oder die Grundstruktur verschiedener Gottesdienstformen aus.

Die Begriffsbestimmung des Konzils hat also ihren Sinn nicht darin, Aussagen über Inhalt oder Ablauf eines bestimmten Rituals treffen zu können. Dennoch ist eine durchaus wichtige Sache ausgedrückt: Die liturgia wird nämlich nach den Worten von Sacrosanctum Concilium 13 als Maßstab, als weltkirchlicher, alle Katholiken in ihrer gottesdienstlichen Kultur verbindender Orientierungspunkt verstanden, an dem die pia exercitia zu messen sind: Die „Liturgie“ genießt einen höheren theologischen Stellenwert als die „frommen Übungen“. Liturgie ist für die ganze Kirche normativ, sie verbindet die Katholikinnen und Katholiken weltweit und über Generationen hinweg. Auch wenn die Liturgie im Detail immer wieder Änderungen, Anpassungen und Weiterentwicklungen erfährt und erfahren muss, um in jeder Epoche ihre volle Kraft entfalten zu können, so steht die Liturgie doch unter dem Anspruch, gleichsam „offizieller“, verbindlicher Ausdruck und Pflege des Glaubens der ganzen Kirche aller Orte und Zeiten zu sein. Dagegen dient das „Brauchtum“ eher der Pflege individueller Spiritualität, des Lebensgefühls einer Gruppe oder der religiösen Leitmotive einer Region oder Epoche.

Die Unterscheidung von liturgia und exercitia sagt daher auch nichts über die kulturelle Bedeutung einer Gottesdienstform für die gelebte Praxis oder über die unmittelbare Wirkung eines Gottesdienstes auf den Glauben einzelner Menschen aus.

Dazu ein Beispiel: Die Priester der katholischen Kirche sind im Normalfall dazu verpflichtet, die Tagzeitenliturgie, also das Stundengebet, möglichst gemeinsam mit den übrigen Gläubigen, mindestens aber privat für sich zu halten. Auch manche Gläubige beten die Tagzeiten allein für sich oder in kleinen Gruppen – das II. Vatikanische Konzil hatte dazu ganz ausdrücklich eingeladen, mehr noch: dazu aufgefordert. Für die Tagzeitenliturgie gibt es ein für die ganze Kirche herausgegebenes liturgisches Buch, in dem der Ablauf geregelt ist: Die Liturgia Horarum oder in ihrer deutschen Fassung das „Stundenbuch“.

Anders sieht es mit der Fronleichnamsprozession aus. Diese Einrichtung ist vielerorts auch heute noch von höchster Bedeutung für das kirchliche Leben, für die sozialen Strukturen innerhalb der Kirchengemeinden und für die religiöse Prägung der dort lebenden Christinnen und Christen. Die Fronleichnamsprozession findet sich aber in keinem liturgischen Buch geregelt, sie folgt einfach örtlichen Gewohnheiten, wie sie sich seit der Entstehung dieses Festes im 13. Jahrhundert entwickelt haben und auch immer wieder verändern und weiterentwickeln.

Ein Christ, der privat – womöglich auf seinem Wohnzimmersessel sitzend – die Tagzeiten betet, pflegt also liturgia; Tausende Katholiken, die am Fronleichnamsfest – womöglich gemeinsam mit ihrem Bischof – in stundenlanger Prozession durch die Straßen ziehen, begehen keine liturgia, sondern „nur“ eine „fromme Übung“!

Die Unterscheidung zwischen liturgia und exercitia weist also einer bestimmten Gruppe von Gottesdienstformen besondere theologische Wertschätzung und einen normativen Charakter für die ganze Kirche zu. Über die praktische Bedeutung für das Glaubensleben der Gemeinden, der einzelnen Christen oder der kulturellen Prägung einer Region ist damit aber nichts gesagt.
Zur Liturgie gehören demnach alle sakramentalen Liturgien: Taufe, Firmung, Eucharistie, Versöhnung, Krankensalbung, Trauung und Ordination, außerdem die Tagzeitenliturgie, Segnungsgottesdienste, das Begräbnis und einige weitere. Zu den pia exercitia gehören Eucharistische Anbetung, Rosenkranz, Kreuzwegandacht, Fronleichnamsprozession, Maiandachten, Taizé-Gebete, frei gestaltete Morgen- und Abendandachten, Wallfahrten und so weiter.

Beschäftigt man sich wissenschaftlich mit Liturgie, dann wird man nicht bei der engen Umschreibung stehen bleiben. Für die Liturgiewissenschaft sind auch die pia exercitia interessant, insofern sich auch in ihnen der christliche Glaube ausdrückt und umgekehrt die Gläubigen in ihrem Gottesbild und ihrem Selbstverständnis als Christinnen und Christen geprägt werden. Die Wissenschaft richtet ihren Blick darüber hinaus auch auf Gottesdienstformen, die nicht mehr existieren, die aber in ihrer Epoche oder ihrem Kulturraum nachhaltig prägend waren – ganz gleich, ob sie jemals in offiziellen Rang erhoben wurden oder nicht.

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

Im griechisch geprägten Christentum bezeichnet der Begriff Liturgie ein einziges christliches Ritual, nämlich die Eucharistiefeier.

Im lateinischen, amtlichen Sprachgebrauch der katholischen Kirche gilt als Liturgie jede Gottesdienstform, die für die gesamte Weltkirche normativen Charakter hat und der sich alle Formen privater, gemeinschaftlicher, regionaler und sonstiger Frömmigkeitsformen theologisch unterzuordnen haben.

Das Interesse der Erforschung der Liturgie (der Liturgiewissenschaft) gilt darüber hinaus auch allen anderen Formen gemeinsamen und privaten Gebetes und gottesdienstlichen Feierns: seien sie in der Vergangenheit bezeugt, in der Gegenwart praktiziert oder erst auf Zukunft hin zu entwerfen.

Nächste Woche geht es um Ritenvielfalt.







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