Italien: Kirche und Wirtschaft kritisieren Sparpaket
Scharf haben italienische
Kirchenvertreter und Sozialverbände die Sparpolitik der Regierung kritisiert. Unisono
mit Wirtschaftsexperten. Unter dem Druck der Lage auf den Finanzmärkten in der Eurozone
und anhaltender innenpolitischer Probleme hatte die Koalition unter Silvio Berlusconi
vergangene Woche ein Reformpaket durchgedrückt. Bis 2014 sollen siebzig Milliarden
Euro eingespart werden. Birgit Pottler berichtet:
Das Gros der Maßnahmen greift
erst in der nächsten Legislaturperiode ab 2013. Doch einige Normen treten bereits
an diesem Montag in Kraft, darunter höhere Gebühren für Arztbesuche. Die Gehälter
der Parlamentarier sollten gekürzt und auf ein europäisches Mittelmaß gedrosselt werden.
Dieser Vorschlag wurde nach hitzigen Debatten jedoch wieder aus der Gesetzesvorlage
gestrichen. Beschlossen ist die Reduzierung von Steuererleichterungen für Familien
mit Kindern, unklar ist einzig ab wann.
Familien müssen zahlen…
Zu
schnell, zu wenig durchdacht, zu sehr auf Kosten der Familien. So lautet das Urteil
von Edoardo Patriarca, Sekretär des Organisationskomitees der auch von Politikern
beachteten „Sozialwochen italienischer Katholiken“. „So zu Lasten der Familien
zu entscheiden, ist überstürzt, ist gewissenlos.“ Wirtschaftsaufschwung sei so kaum
möglich, das Problem könne auf Dauer nicht gelöst werden. Patriarca liegt mit seiner
Kritik auf einer Linie mit europäischen Wirtschaftsexperten. Auch sie glauben nicht,
dass Italiens Zukunft und das Vertrauen der Märkte nachhaltig gesichert sind.
Das
Sparpaket soll in erster Linie dazu dienen, die Schulden in Höhe von 120 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts abzubauen. Zum Vergleich: Nach Euro-Regeln sind sechzig Prozent
zulässig. Deutschland liegt bei rund achtzig Prozent, profitiert aber von einem deutlich
höheren Wirtschaftswachstum. In Europa sitze Italien inzwischen nur noch auf der Ersatzbank,
sagte Ex-Premierminister und Wirtschaftsprofessor Romano Prodi am Wochenende
einem österreichischen Magazin. Ausgabenkürzungen alleine reichten nicht aus, schrieb
er in einer konservativen römischen Tageszeitung. Vielmehr müssten Geldverschwendung
vermieden, Ungerechtigkeiten und Strukturfehler ausgemerzt werden. Hauptproblem: Die
großen Sparmaßnahmen greifen erst ab 2013 – zu unsicher für Analysten verschiedener
Couleur.
Stoff für Spekulanten
„Das Signal ist negativ“,
schlussfolgert Professor Antonio Maria Baggio, Dozent für politische Ethik am Institut
Sophia der Neokatechumenalen, im Gespräch mit Radio Vatikan. „Im Grund sagt man
damit: Wir wollen jetzt nicht entscheiden. Die Kartoffeln – nichts anderes ist diese
Finanzreform – lassen wir die aus dem Feuer holen, die nach uns kommen. Und das heißt:
Wir treffen zwei Jahre lang keine wichtigen strategischen Entscheidungen. Das bietet
natürlich den Spekulanten Stoff. Das verbreitet Unsicherheit. Mathematisch betrachtet
bedeutet das buchstäblich nichts anderes als Armut. Wir werden alle mehr bezahlen.
Diese Armut entsteht durch fehlende oder falsche politische Entscheidungen.“
…Politiker
kassieren weiter
Falsch auch die Entscheidung, die Abgeordnetengehälter
nicht anzutasten. Den Lebensstil der Politiker zu verändern, wäre ein symbolischer
Akt gewesen. Ebenso die Abschaffung der Provinzen und andere Einsparungen auf Verwaltungsebene.
„Aber sie haben es nicht gemacht.“ Für den Politikethiker Baggio stehen politische
Ränkespiele, wahltechnische Überlegungen im Vordergrund. Die Regierung handle am Volk
vorbei: „Sie hätten auch die Gehälter wichtiger Berufsgruppen angehen können: Anwälte,
Notare zum Beispiel. Dass man aber nicht einmal die Debatte anstoßen wollte, zeigt,
welche Gruppe für die Regierung wirklich wichtig ist: nicht die Familien – denn bei
denen wurde gekürzt; nicht der produzierende Sektor – denn dem wurde nicht geholfen.
Die Bezugsgruppe scheint sich aus den Schichten zusammenzusetzen, die eine bestimmte
gesellschaftliche und soziale Position einnehmen, und das ist mit Sicherheit kein
positives Signal.“
Armutsrate steigt
Der Sozialwochen-Mann
Patriarca klagt an: „Wie soll man in Zukunft von Entwicklung sprechen, von Wachstum?
Einmal mehr betrachtet man die Familien nur als hilfsbedürftiges Objekt – und damit
basta. Dabei sind sie wirklich der Motor für wirtschaftlichen Aufschwung.“ Der Vorsitzende
von Italiens Bischofskonferenz, Kardinal Angelo Bagnasco, kritisierte die Finanzreform
schon, als sie noch debattiert wurde. Die Familie muss „um jeden Preis“ verteidigt
und gestärkt werden, sagte Bagnasco vor Journalisten. Doch dafür müssten vor allem
Arbeitsplätze geschaffen werden. „Ohne Arbeit, oder mit einem sehr unsicheren Arbeitsplatz,
gibt es ja nicht einmal die Möglichkeit, eine Familie zu gründen. Ich denke da vor
allem an die jungen Leute.“
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Italien derzeit
bei rund 30 Prozent. Dreizehn Prozent der Gesamtbevölkerung leben in Armut, jede fünfte
Familie ist von Armut zumindest bedroht. Die Medien veröffentlichten just am Samstag
Daten der nationalen Statistikbehörde. Entlarvend vor allem die Zahlen für den Süden
des Landes: Fast jede zweite Familie mit mehr als drei Kindern, 47 Prozent, lebt in
prekären Verhältnissen. Das sind zehn Prozent mehr als im Jahr 2009.
„Die Politik
hat in den vergangenen Jahren nicht dazu beigetragen, die Armutsrate zu senken.“ Der
zweite Mann der Caritas Italien, Francesco Marsico, ist ernüchtert: „Die Lohn-
und Steuerpolitik hat vielmehr die Familien noch zusätzlich geschwächt. Jetzt muss
man sehen, ob denn der politische Wille und die Fähigkeit dazu da sind.“
„Oligarchie“
– wider „öffentliches Gewissen“
Edoardo Patriarca, der Mitorganisator
der katholischen Sozialwochen, sieht den politischen Willen derzeit nicht. Für ihn
gibt die Politik ein schlechtes Bild ab. „Das Bild einer Oligarchie, die die eigenen
Privilegien verteidigt und in keinster Weise daran denkt, davon abzulassen. Wir befinden
uns im Stillstand. Und der hilft natürlich nicht, eine wahrhaftige und ernsthafte
Politik anzukurbeln. Ich hoffe, dass die Katholiken in dieser so schwierigen Phase
den Kompass finden, den Aufschwung dieses Landes voranzutreiben – nicht nur in wirtschaftlicher
Hinsicht, sondern auch in moralischer.“
Mit technischen Korrekturen alleine
könnten die Probleme der Finanzmärkte nicht gelöst werden. So äußerte sich am Sonntag
der Patriarch von Venedig und designierte Erzbischof in der Finanzmetropole Mailand,
Kardinal Angelo Scola. Der Markt sei ein Produkt der jeweiligen Kultur, humane
und ethische Aspekte gehörten folglich zu seinem Wesen. Das „öffentliche Gewissen“
in Italien müsse sich endlich zu Wort melden, so Scola.
Ethiker Antonio Baggio
lässt keinen Zweifel: Eine neue politische Klasse braucht das Land. „Private Gruppen
entscheiden über öffentliche Organismen, und diese wiederum bestimmen das Schicksal
des Landes. Die politische Klasse muss ausgetauscht werden, doch die Gesellschaft
muss auch bereit sein, diesen Wechsel herbeizuführen.“