Deutschland: Bischöfe gehen sexuellem Missbrauch wissenschaftlich auf den Grund
Nach der Aufdeckung
der Missbrauchsfälle durch Kleriker und der konkreten Hilfe für die Opfer will die
deutsche Bischofskonferenz nun auch Ursachenforschung betreiben. Das sagte der Trierer
Bischof Stefan Ackermann bei der Vorstellung von zwei Forschungsprojekten zu sexuellem
Missbrauch. Die Zahl der Opfermeldungen sei deutlich zurückgegangen, so dass der Zeitpunkt
für wissenschaftliche Aufarbeitung geeignet sei, so Ackermann, der in der Bischofskonferenz
mit dem Thema Missbrauch und Aufarbeitung beauftragt ist. Eines der beiden Projekte
wird von Christian Pfeiffer geleitet, Professor am Kriminologischen Forschungsinstitut
Niedersachsen. Wir haben ihn gefragt, was man durch diese Studie zu erfahren hofft.
„Erstmal
wollen wir klären, wie sich im Längsschnitt seit 1945 der sexuelle Missbrauch durch
Priester entwickelt hat. In den USA ist auffällig, dass es in den letzten drei Jahrzehnten
zu einem drastischen Rückgang gekommen ist. Wir sind sehr neugierig zu sehen, ob
es sich in Deutschland bestätigt, ob dieser Rückgang vielleicht schon früher eingesetzt
hat. In den USA war nämlich auffällig, dass er dann begonnen hat, als die Liberalisierung
der Sexualität immer mehr um sich gegriffen hat.“
Worin genau besteht das
Projekt? Auf was für einen Zeitraum ist es angelegt, und wie viele Menschen werden
Sie befragen und untersuchen?
„Die Methode ist, dass wir zunächst die Akten
der Kirche untersuchen lassen. Das sind dann pensionierte Richter und Staatsanwälte,
die in den Diözesen direkt Kontakt zu solchen Akten bekommen, die einschlägig sind
und wo die Kirche selber den Verdacht hatte oder den bestätigten Verdacht weiß, dass
jemand Missbrauch begangen hat. Diese Akten werden analysiert. Der zweite Schritt
ist, dass wir Priester befragen, die Täter sind, in ausführlichen persönlichen Interviews
auf Tonband, anonym und angstfrei für sie. Dritter Schritt ist, dass wir alle Opfer
anschreiben und sie bitten, einen Fragebogen von uns auszufüllen. Dafür verwenden
wir ein Forschungsinstrument, das wir gerade bundesweit mit 11.000 Menschen schon
nutzen konnten. Wir können also vergleichen, wie der Missbrauch von Priestern abgelaufen
ist, im Vergleich zu Sportlehrern, Familienangehörigen, Nachbarn und anderen Personen.
Und viertens, wir interviewen gründlich Opfer, die dazu bereit sind, mit uns zu sprechen,
um genauer zu erfahren, wie der Priester im Einzelfall an sie herangetreten ist. Wie
das Ganze abgelaufen ist, wie lange es gedauert hat, wie es beendet wurde und welche
Konsequezen es für sie gehabt hat. Und: Wie klärend sich die Kirche gegenüber von
Tätern und Opfern verhalten hat“.
Missbrauch ist ja nicht allein ein ausschließlich
kirchliches Phänomen. Gleichzeitig darf die Kirche das nicht relativieren nach dem
Motto, gesellschaftlich ist das ja viel weiter verbreitet. Wollen Sie mit ihrer Studie
auch über den Raum hinaus wirken und informieren?
„Das ist für uns sehr
günstig, dass wir eben parallel im Auftrag der Bundesregierung eine Untersuchung zur
Durchführung von Missbrauch der Gesellschaft durchführen. Wir werden also vergleichen
können in den Familien, in Sportvereinen, wie es in anderen Bereichen gelaufen ist.
Wir werden natürlich auch eine Aussage machen können. Dazu, ob tatsächlich, was die
Öffentlichkeit lange glaubte, Priester höher belastet sind als altersgleiche Männer
oder, was wir vermuten, niedriger belastet sind. Die Phase von hohen Belastungen von
Priestern in den USA in den 70er Jahren ist aber nicht mehr Gegenwart. Es kann gut
sein, dass am Ende unserer Untersuchung das Ergebnis steht, Priester sind eindeutig
weniger hier in sexuellen Missbrauch verwickelt als die Gruppe der altersgleichen
Männer in Deutschland.“
Sie haben eben kurz die Korrelation angesprochen
zwischen sexueller Befreiung und dem Missbrauch.
„Man kann das gar nicht
ausblenden, weil es so auffällig ist, dass in den USA der Missbrauch in der Phase
besonders hoch war, als Priester einerseits durch Zölibat stark daran gehindert waren,
Kontakt zu Frauen und Männer zu bekommen, mit denen sie gerne sexuelle Erfahrungen
hätten, und dann haben sie sich, so haben die Amerikaner ermittelt, ersatzweise an
Kindern und Jugendlichen vergriffen. Das Faszinierende ist, dass der Anteil der Priester,
der pädophil ist, also von vornherein fixiert ist auf Kinder, in den 60 Jahren der
amerikanischen Forschung völlig konstant geblieben ist, unverändert niedrig. Sehr
wenige, aber es war immer dieselbe Prozentgruppe. Der Anteil der Ersatzhandlungstäter,
die eigentlich auf Erwachsene fixiert sind und notgedrungen auf Kinder zurückgegriffen
haben, der war am höchsten in der Phase, als es für amerikanische Priester ausgesprochen
schwierig war, wegen der dort weitverbreiteten Prüderie an Frauen oder auch an Männer
heranzukommen, als Sexualität mit Priestern völlig ausgeschlossen war. Je liberaler
die Sexualität sich in den USA entwickelt hat, umso niedriger war der Anteil der Priester,
die sich ersatzweise an Kindern vergriffen haben, heute geht das gegen null. Es scheint
also so zu sein, dass die Liberalisierung der Sexualität also das Risiko für Kinder
drastisch reduziert hat, dass sie von Priestern missbraucht werden.“
Nochmal
zur Klarstellung. Sie sagen, es gibt also klar Pädophile, aber es gibt eben auch Missbrauch
an Kindern, der nicht in der Pädophilie gründet, sondern in Ersatzhandlungen.
„Ja,
das ist die größere Gruppe. In den USA war das Verhältnis zum Höhepunkt des Missbrauchs
in den 70er Jahren etwa sechs zu eins - absolut dominierend Priester, die eigentlich
nicht Pädophile sind. Diese große Gruppe ist immer weniger geworden und spielt heute
nur noch eine Randrolle. Das heißt, völlig stabil ist immer der Anteil derjenigen,
die auf Kinder fixiert sind. Die dafür auch nichts können. Das merken sie schon im
Alter von 15/ 16, wenn ihre Blicke magisch angezogen sind im Schwimmbad von den Kinderkörpern
und sie überhaupt kein Interesse daran haben, einer Frau nachzuschauen.“
Glauben
Sie, dass sich dieses Phänomen des Ersatzhandlungsmissbrauchs wird überwinden lassen?
„Ich denke, ja. In den USA hat sich gezeigt, dass eine verbesserte Aus-
und Fortbildung der Priester sehr hilfreich gewesen ist. Dies hat in den 80er Jahren
eingesetzt und zu einer Entkrampfung des sexuellen Themas in der katholischen Kirche
geführt. Es hat offenbar sehr dazu beigetragen, dass heute Missbrauch durch Priester
eine extreme Ausnahme ist , sich stark auf die Pädophilen begrenzt und kaum noch Ersatzhandlungstäter
zu beobachten sind. Dieser Wandel ist auf gesellschaftliche Vorgänge zurückzuführen
- aber offenbar, wie die amerikanischen Kollegen darstellen, auch auf innerkirchlichen
Maßnahmen der Prävention, z.B. dass es Priestern neuerdings in den letzten zehn Jahren
verboten war, Kinder in ihre eigene Wohnung mitzunehmen, was früher oft der Weg gewesen
ist zum Missbrauch.“
Und wie gehen wir dann wirklich mit pädophilen Männern
um?
„Da gibt es ein sehr gutes Konzept, dass wir der Kirche auch anbieten:
dass man Menschen,, die nun mal das Pech haben, dass sie mit 15 merken, dass sie pädophil
sind, anbietet, anonym und angstfrei eine Therapie zu machen, die bezahlt wird von
der Kirche, ohne dass sie weiß, wer die betroffenen Priester sind. In Berlin gibt
es eine solche Therapieeinrichtung, die andockt an die Charité. „ Kein Täter werden“
heißt sie, und dort melden sich freiwillig Männer (außerhalb der Kirche bisher), die
pädophil sind, die aber auf keinen Fall Kindern schaden wollen und selber dann zwar
ihre Pädophilie nicht verlieren - das haben sie bis ans Lebensende -, aber doch lernen,
ganz abzuschalten. Sich zu konzentrieren auf Wege, die es unwahrscheinlich werden
lassen, dass sie Kontakt zu Kindern suchen.“