Kroatien: Gotovina-Prozess - „durch Ungerechtigkeit kommt keine Stabilität“
Die Zustimmung zum
EU-Beitritt in Kroatien sank in der Bevölkerung zuletzt unter 30 Prozent. Selbst Vertreter
der katholischen Kirche erleben die Perspektive, dass das bald 20 Jahre unabhängige
Land in wenigen Monaten schon von der Europäischen Union „geschluckt“ werden könnte,
mit gemischten Gefühlen. Ein Knackpunkt im Verhältnis der Kroaten zur EU ist derzeit
vor allem das Urteil gegen den Ex-General Ante Gotovina. Das Kriegsverbrechertribunal
in Den Haag – eine Einrichtung der UNO, nicht der EU - verurteilte Gotovina und einen
weiteren hohen Ex-Militär im Zusammenhang mit dem kroatischen Unabhängigkeitskrieg
in den 90er Jahren zu langen Haftstrafen. Der Prozess steht für eine Politik, die
viele Kroaten als Bevormundung erleben. So auch der 21-jährige kroatische Seminarist
Branko Horvat aus Nordkroatien, der im Päpstlichen Priesterseminar „Collegium Germanicum
et Hungaricum“ in Rom studiert. Anne Preckel hat mit ihm gesprochen.
„Die
Kroaten sehen diesen Prozess sehr zwiespältig. Das Ziel dieses Prozesses ist es, die
Schuld zwischen Kroatien und Serbien auszugleichen. Und die Europäische Union nutzt
diese Gelegenheit als Mittel zur Stabilisierung der Region. Aber durch Ungerechtigkeit
kommt keine Stabilität. Die Festnahme von Mladic fand ziemlich schnell nach der Verurteilung
von Gotovina statt. Und dies entspricht einer Bestätigung der Meinung der kroatischen
Gesellschaft.“
Ratko Mladic, der Kriegsverbrecher, den der Internationale
Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien bis dato am dringendsten suchte, war
am 25. Mai in Nordserbien verhaftet worden. Er war unter anderem für das Massaker
von Srebrenica im Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina verantwortlich. Viele Kroaten
würden die EU-Beitrittsverhandlungen und die dort aufgestellten Bedingungen als „Spiel“
begreifen, so Horvat. Er selbst sieht die Festnahme von Mladic zu diesem Zeitpunkt
– wie anscheinend die kroatische Mehrheit – als „Schachzug“ der Europäischen Union:
„Deswegen
möchten sie Serbien und Kroatien zusammen wie in einem Paket für die Europäische Union
vereinnahmen, sozusagen für die Integration fit machen. Und deswegen meint die Mehrheit
des kroatischen Volkes, dass Den Haag schon wusste, wo Mladic ist, aber nichts getan
hat, weil man zu diesem Zeitpunkt die meisten Vorteile von der Verhaftung haben würde.“
Was
aber wäre die Alternative? Hätte Ante Gotovina besser vor ein nationales als ein internationales
Gericht gestellt werden müssen? Horvat meint ja:
„Vielleicht wäre das viel
besser gewesen. Man hätte vielleicht mit einem solchen Gericht einen Ausgleich zwischen
Serben und Kroaten schaffen und sagen können, ja, das haben wir falsch gemacht und
das verurteilen wir etc. Aber man konnte das doch nicht machen, denn es gab zu viele
Distanzen zwischen Serben und Kroaten, dann kam Den Haag, und jetzt ist es zu spät.“
Kriegsvergangenheit:
„Alles, aber nicht menschlich“
Branko Horvat kommt aus einer Diözese
in Nordkroatien mit einem Katholikenanteil von 100 Prozent. Das Gebiet sei vom letzten
Krieg nicht direkt betroffen gewesen. Allerdings seien viele Männer des Landes als
Soldaten abgezogen und in die Kriegsgebiete nach Dalmatien, Slawonien und Bosnien
geschickt worden, so der 21-Jährige. Er kenne viele schreckliche Geschichten aus dem
Krieg, unter anderem über serbische Lager:
„Zum Beispiel war ein Soldat
aus meinem Dorf in einem serbischen Lager und er hat mir viel davon erzählt: Das war
alles, aber nicht menschlich. Und ich denke, das wäre gut, den Menschen diese Dinge
ins Bewusstsein zu holen. Man muss ganz klar sagen: Das ist passiert und das war nicht
gut. Und dann müssen Menschen auch ins Gefängnis dafür kommen. Wenn man aber eine
Defensive startet und sein Volk und sein Land schützt, und keine solche Sachen macht,
dann ist es ziemlich peinlich, wenn andere Nationen, die überhaupt nicht wissen, was
das für ein Krieg war, versuchen, auszugleichen zwischen beiden Seiten.“
Die
Skepsis gegenüber der EU – ein Teil von ihr ist also in der jüngeren Kriegsvergangenheit
Kroatiens zu suchen. Das wird in dem Gespräch mit Branko Horvat klar. Er persönlich
plädiert nicht für Rechtssprechung und Schlichtung „von außen“, sondern für die gemeinsame
Aufarbeitung in der kroatischen und serbischen Bevölkerung. Die Leute seien im Großen
und Ganzen ruhig, auch politisch seien die Grenzen klar – nun müsse man die Wurzeln
des Konfliktes verstehen. Horvat meint eine geschichtliche Aufarbeitung, die weit
zurückreicht:
„Bei uns sagt man, dass man die Probleme von heute nicht
verstehen kann ohne die Geschichte der Volksbewegungen nach der römischen Zeit. Alles
ist verbunden. Die Gründe des letzten Krieges liegen im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien,
der wiederum seine Gründe im ersten Jugoslawien, also dem Königreich Jugoslawien hat.
Wir haben eine komplexe Geschichte. Und es ist ziemlich ärgerlich, wenn fremde Leute
sich als Richter zwischen Serben und Kroaten aufspielen.“
Der Papstbesuch
in Kroatien fällt nicht nur in die Endphase der EU-Beitrittsverhandlungen, sondern
findet auch kurz vor dem 20. Jahrestag der kroatischen Unabhängigkeit statt: Nach
jahrhundertelanger Zugehörigkeit zu verschiedenen anderen Staaten wurde Kroatien 1991
autonom. Der Heilige Stuhl war unter den ersten Staaten, die Kroatien anerkannten,
und er machte sich auch in Europa für Kroatien stark. Endlich frei nach langer Zeit,
und jetzt wieder in einer Staatengemeinschaft „an die Kandare“ genommen zu werden?
Für viele Kroaten undenkbar. Dazu Horvat:
„Wir waren ja immer verbunden
mit anderen Staaten, zuerst den Habsburgern etc. Und das ging immer so weiter. Deswegen
ist es ziemlich schwer, noch eine Gemeinschaft wie die EU auszuhalten, denn wir haben
schlechte Erfahrungen mit verbundenen Staaten gemacht. Deshalb sind wir so misstrauisch.
Meine persönliche Meinung ist, dass es für Kroatien besser wäre, nicht in die Europäische
Union einzutreten. Kroatien konnte in den letzten zehn Jahren sehen, dass die EU eher
Kroatien braucht als Kroatien die EU. Ich kann mir nicht anders erklären, wie man
sonst so einen Druck auf Kroatien ausüben kann.“
Sicherlich habe die EU
auch positive Seiten, räumt Horvat dann ein. Das freie Reisen zwischen den Ländern
wüsste er als Student sehr zu schätzen, da lerne man „viel mehr und besser“. Was Wirtschaft
und Kriegsvergangenheit betrifft, sieht Horvat sein Heimatland aber durchaus in der
Lage, sich auch ohne die EU zu stabilisieren:
„Ich denke, dass sich unsere
Region stabilisieren wird; ich sehe sie schon jetzt als eine stabile Region, weil
es keine Konflikte mehr gibt und der Krieg schon seit 20 Jahren vorbei ist.“ (rv
01.06.2011 pr)