2011-06-02 10:11:04

Kroatien: Gotovina-Prozess - „durch Ungerechtigkeit kommt keine Stabilität“


RealAudioMP3 Die Zustimmung zum EU-Beitritt in Kroatien sank in der Bevölkerung zuletzt unter 30 Prozent. Selbst Vertreter der katholischen Kirche erleben die Perspektive, dass das bald 20 Jahre unabhängige Land in wenigen Monaten schon von der Europäischen Union „geschluckt“ werden könnte, mit gemischten Gefühlen. Ein Knackpunkt im Verhältnis der Kroaten zur EU ist derzeit vor allem das Urteil gegen den Ex-General Ante Gotovina. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag – eine Einrichtung der UNO, nicht der EU - verurteilte Gotovina und einen weiteren hohen Ex-Militär im Zusammenhang mit dem kroatischen Unabhängigkeitskrieg in den 90er Jahren zu langen Haftstrafen. Der Prozess steht für eine Politik, die viele Kroaten als Bevormundung erleben. So auch der 21-jährige kroatische Seminarist Branko Horvat aus Nordkroatien, der im Päpstlichen Priesterseminar „Collegium Germanicum et Hungaricum“ in Rom studiert. Anne Preckel hat mit ihm gesprochen.

„Die Kroaten sehen diesen Prozess sehr zwiespältig. Das Ziel dieses Prozesses ist es, die Schuld zwischen Kroatien und Serbien auszugleichen. Und die Europäische Union nutzt diese Gelegenheit als Mittel zur Stabilisierung der Region. Aber durch Ungerechtigkeit kommt keine Stabilität. Die Festnahme von Mladic fand ziemlich schnell nach der Verurteilung von Gotovina statt. Und dies entspricht einer Bestätigung der Meinung der kroatischen Gesellschaft.“

Ratko Mladic, der Kriegsverbrecher, den der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien bis dato am dringendsten suchte, war am 25. Mai in Nordserbien verhaftet worden. Er war unter anderem für das Massaker von Srebrenica im Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina verantwortlich. Viele Kroaten würden die EU-Beitrittsverhandlungen und die dort aufgestellten Bedingungen als „Spiel“ begreifen, so Horvat. Er selbst sieht die Festnahme von Mladic zu diesem Zeitpunkt – wie anscheinend die kroatische Mehrheit – als „Schachzug“ der Europäischen Union:

„Deswegen möchten sie Serbien und Kroatien zusammen wie in einem Paket für die Europäische Union vereinnahmen, sozusagen für die Integration fit machen. Und deswegen meint die Mehrheit des kroatischen Volkes, dass Den Haag schon wusste, wo Mladic ist, aber nichts getan hat, weil man zu diesem Zeitpunkt die meisten Vorteile von der Verhaftung haben würde.“

Was aber wäre die Alternative? Hätte Ante Gotovina besser vor ein nationales als ein internationales Gericht gestellt werden müssen? Horvat meint ja:

„Vielleicht wäre das viel besser gewesen. Man hätte vielleicht mit einem solchen Gericht einen Ausgleich zwischen Serben und Kroaten schaffen und sagen können, ja, das haben wir falsch gemacht und das verurteilen wir etc. Aber man konnte das doch nicht machen, denn es gab zu viele Distanzen zwischen Serben und Kroaten, dann kam Den Haag, und jetzt ist es zu spät.“

Kriegsvergangenheit: „Alles, aber nicht menschlich“

Branko Horvat kommt aus einer Diözese in Nordkroatien mit einem Katholikenanteil von 100 Prozent. Das Gebiet sei vom letzten Krieg nicht direkt betroffen gewesen. Allerdings seien viele Männer des Landes als Soldaten abgezogen und in die Kriegsgebiete nach Dalmatien, Slawonien und Bosnien geschickt worden, so der 21-Jährige. Er kenne viele schreckliche Geschichten aus dem Krieg, unter anderem über serbische Lager:

„Zum Beispiel war ein Soldat aus meinem Dorf in einem serbischen Lager und er hat mir viel davon erzählt: Das war alles, aber nicht menschlich. Und ich denke, das wäre gut, den Menschen diese Dinge ins Bewusstsein zu holen. Man muss ganz klar sagen: Das ist passiert und das war nicht gut. Und dann müssen Menschen auch ins Gefängnis dafür kommen. Wenn man aber eine Defensive startet und sein Volk und sein Land schützt, und keine solche Sachen macht, dann ist es ziemlich peinlich, wenn andere Nationen, die überhaupt nicht wissen, was das für ein Krieg war, versuchen, auszugleichen zwischen beiden Seiten.“

Die Skepsis gegenüber der EU – ein Teil von ihr ist also in der jüngeren Kriegsvergangenheit Kroatiens zu suchen. Das wird in dem Gespräch mit Branko Horvat klar. Er persönlich plädiert nicht für Rechtssprechung und Schlichtung „von außen“, sondern für die gemeinsame Aufarbeitung in der kroatischen und serbischen Bevölkerung. Die Leute seien im Großen und Ganzen ruhig, auch politisch seien die Grenzen klar – nun müsse man die Wurzeln des Konfliktes verstehen. Horvat meint eine geschichtliche Aufarbeitung, die weit zurückreicht:

„Bei uns sagt man, dass man die Probleme von heute nicht verstehen kann ohne die Geschichte der Volksbewegungen nach der römischen Zeit. Alles ist verbunden. Die Gründe des letzten Krieges liegen im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien, der wiederum seine Gründe im ersten Jugoslawien, also dem Königreich Jugoslawien hat. Wir haben eine komplexe Geschichte. Und es ist ziemlich ärgerlich, wenn fremde Leute sich als Richter zwischen Serben und Kroaten aufspielen.“

Der Papstbesuch in Kroatien fällt nicht nur in die Endphase der EU-Beitrittsverhandlungen, sondern findet auch kurz vor dem 20. Jahrestag der kroatischen Unabhängigkeit statt: Nach jahrhundertelanger Zugehörigkeit zu verschiedenen anderen Staaten wurde Kroatien 1991 autonom. Der Heilige Stuhl war unter den ersten Staaten, die Kroatien anerkannten, und er machte sich auch in Europa für Kroatien stark. Endlich frei nach langer Zeit, und jetzt wieder in einer Staatengemeinschaft „an die Kandare“ genommen zu werden? Für viele Kroaten undenkbar. Dazu Horvat:

„Wir waren ja immer verbunden mit anderen Staaten, zuerst den Habsburgern etc. Und das ging immer so weiter. Deswegen ist es ziemlich schwer, noch eine Gemeinschaft wie die EU auszuhalten, denn wir haben schlechte Erfahrungen mit verbundenen Staaten gemacht. Deshalb sind wir so misstrauisch. Meine persönliche Meinung ist, dass es für Kroatien besser wäre, nicht in die Europäische Union einzutreten. Kroatien konnte in den letzten zehn Jahren sehen, dass die EU eher Kroatien braucht als Kroatien die EU. Ich kann mir nicht anders erklären, wie man sonst so einen Druck auf Kroatien ausüben kann.“

Sicherlich habe die EU auch positive Seiten, räumt Horvat dann ein. Das freie Reisen zwischen den Ländern wüsste er als Student sehr zu schätzen, da lerne man „viel mehr und besser“. Was Wirtschaft und Kriegsvergangenheit betrifft, sieht Horvat sein Heimatland aber durchaus in der Lage, sich auch ohne die EU zu stabilisieren:

„Ich denke, dass sich unsere Region stabilisieren wird; ich sehe sie schon jetzt als eine stabile Region, weil es keine Konflikte mehr gibt und der Krieg schon seit 20 Jahren vorbei ist.“
(rv 01.06.2011 pr)














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