2011-05-11 14:33:09

Vor 120 Jahren: Der Papst und die Arbeiterfrage


RealAudioMP3 „Rerum Novarum“ von Leo XIII. war das folgenreichste päpstliche Lehrschreiben des ausgehenden 19. Jahrhunderts und prägt Einsatz und Auftrag der katholischen Kirche bis heute. „Rerum Novarum“ bedeutet „die neuen Dinge“, und das wiederum meint die brennende soziale Frage der Arbeiter. Gleichzeitig umriss die Enzyklika erstmals das, was wir heute als „katholische Soziallehre“ kennen. Am 15. Mai jährt sich die Veröffentlichung von „Rerum Novarum“ zum 120. Mal. Wir sprachen mit Martin Schlag, der an der päpstlichen Universität Santa Croce in Rom Sozialethik lehrt, über die Enzyklika.

„Die Tatsache, dass ein Papst sich überhaupt mit der Arbeiterfrage beschäftigt hat, war etwas Neues. Es gab Bischöfe, die sich damit beschäftigt hatten, aber ein Papst nicht. Das für heute Wichtige ist, dass hier ein Papst die Aufgabe der Sozialgestaltung den Laien übertragen hat. Es war ein Auftrag von ihm, die Kräfte in der Gesellschaft zu mobilisieren.“

„Rerum Novarum“ behandelt im ersten Teil sozialistische Gesellschaftstheorien, im zweiten Teil die Arbeiterfrage im engeren Sinn. Eingangs weist Leo XIII. bestimmte Vorstellungen des Marxismus kategorisch zurück.

„Der Papst lehnt den Marxismus ab, genauer gesagt, den Klassenkampf. Er möchte dem Prinzip Gerechtigkeit und Liebe in der Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen und kann daher eine Theorie, die das Privateigentum, die Freiheit, den Gottesglauben ablehnt, wie das der Marxismus tut, nicht annehmen. Er ist aber sehr offen für soziale Anliegen, deshalb schreibt er auch die Enzyklika.“

Die Arbeiterfrage ist die Herausforderung schlechthin des späten 19. Jahrhunderts. Breite Bevölkerungsschichten Europas waren im Zug der industriellen Revolution ins Elend abgesunken, wurden ausgebeutet und hatten keinerlei Perspektiven. Der Marxismus reagierte zuerst - und erheblich früher als die Kirche - auf die Arbeiterfrage. Leo XIII. schöpfte aus völlig anderen Traditionen und kommt infolgedessen zu völlig anderen Schlüssen als die sozialistischen Theoretiker.

„Leo betont sehr stark, dass die Arbeiter das Recht haben sollten, selber Privateigentum zu erwerben, dass sie aus ihrem Elend herausgeführt werden müssen. Man kann sprechen von der Entproletarisierung des Proletariats. Es geht ihm um eine gesamtheitliche Entwicklung des Menschen, nicht bloß um eine wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die moralische und spirituelle Dimension des einzelnen Arbeiters, das sind Dinge, die er sehr stark betont.“

Nicht alles aus dem marxistischen Gedankengut zur Arbeiterfrage indes ist aus Sicht Leos XIII. verwerflich. Die Vorstellung etwa, dass der Staat Pflichten gegenüber dem Proletariat hat, erhält die ausdrückliche Zustimmung des Papstes.

„Leo sagt, es genügt nicht Almosen zu geben, sondern auch der Staat muss sozial tätig werden. es muss also eine gesellschaftliche und staatliche Bemühung geben, das Elend der Arbeiter und die Ungerechtigkeit, dies es in der Gesellschaft gibt, zu beseitigen und zu lindern.“

1891 markierte also einen echten Wendepunkt im Auftrag der Kirche in der Welt. „Rerum Novarum“ war, wie Martin Schlag sagt, ein „Großereignis“ in der Kirche, das eine breite Palette von Initiativen hervorbrachte.

„Man denke daran, dass „Rerum Novarum“ die erste päpstliche Gutheißung der Gewerkschaften war. Man hat damals noch gestritten, ist eine Gewerkschaft, die allein für Arbeiter geschaffen wird, rechtmäßig. Leo XIII. sagt ja, obwohl er eigentlich lieber hätte, dass Arbeiter und Eigentümer in einer Gemeinschaft zusammen sind, aber er lässt die Gewerkschaften zu. Das hat dann zur Gründung vieler Gewerkschaften geführt und die Gewerkschaftsbewegung gestärkt.“

Leo XIII. war von 1878 bis 1903 Papst und ein außerordentlich fleißiger Schreiber von Enzykliken. Mehr als 80 hat er im Lauf seines Pontifikates verfasst. „Rerum Novarum“ ist, obwohl sprachlich und in einzelnen Punkten auch inhaltlich überholt, das einzige Lehrschreiben dieses Papstes, das die Zeiten überdauerte und bis heute in praktisch allen Texten über katholische Soziallehre zitiert wird – zuletzt wieder in Papst Benedikts Globalisierungsenzyklika „Caritas in veritate“ von 2009.

„Was aber sicher nicht überholt ist, ist der moderne Ansatz des Papstes, dass er ausgeht von den individuellen Rechten des einzelnen und vom Anliegen, dass der einzelne Christ und der Laie in der Gesellschaft den Freiraum nützt, den die Gesellschaft öffnet.“

(rv 11.05.2011 gs)








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