Ital. Flüchtlingsdienst: „Vatikan sollte bei Flüchtlingsfrage kein Blatt vor den Mund
nehmen“
Der Vatikan mahnt
die europäischen Länder dazu, bei der Flüchtlingsfrage an einem gemeinsamen Strang
zu ziehen. Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone zeigte sich am Mittwoch enttäuscht
über die europäische Flüchtlingspolitik, die statt durch gemeinsame Solidarität gegenüber
Immigranten durch Streit geprägt sei. Streit zwischen den EU-Ländern gibt es derzeit
vor allem über die Freizügigkeit des Schengen-Gebietes: Angesichts der humanitären
Notlage gewährt Italien einigen Flüchtlingen aus Nordafrika einen vorübergehenden
Rechtsschutz von sechs Monaten. Nervös macht das EU-Länder wie Deutschland, Frankreich
und Österreich, die damit drohen, wieder Grenzkontrollen einzuführen. Geht die Spaltung
der EU auf Kosten der Flüchtlinge? Und wurden die Appelle der Kirche überhaupt gehört?
Darüber haben wir mit Christopher Hein, dem Direktor des Italienischen Flüchtlingsdienstes
(CIR) gesprochen. „Soweit ich sehe, sind die Appelle der katholischen Kirche
bisher ohne wirkliche Wirkung geblieben. Ich bin sehr damit einverstanden zu sagen:
in dieser Situation, die sich im Vorgarten Europas in den letzten drei Monaten abgespielt
hat, ist dieses Hickhack zwischen den einzelnen europäischen Ländern absolut schädlich
für alle. Und es hat natürlich auch ein Echo in der öffentlichen und politischen Meinung
in den arabischen Ländern – ein erneutes Mal präsentiert sich Europa nicht als einheitliches
politisch-soziales und humanitäres Gebilde, sondern ist geprägt von nationalstaatlichen
Egoismen.“ Der Italienische Flüchtlingsdienst plädiert dafür, Menschen aus
Nordafrika, die sich in Libyen oder Tunesien aufhalten und dort konkret bedroht sind,
in einer konzertierten Aktion auf unterschiedliche EU-Staaten zu verteilen. Vom Vatikan
wünsche man sich in dieser Angelegenheit mehr Nachdruck, um eine schnelle Lösung der
humanitären Grenzsituation vor allem in Libyen zu erwirken, so Hein: „Wir hatten
uns erwartet, dass vielleicht auch der Vatikan verstärkt einen Appell der humanitären
Evakuation aus Libyen mit vertreten hätte. Immerhin ist dieser Appell zuerst von dem
katholischen Bischof Martinelli in Tripolis gemacht worden, der nach wie vor dort
ist und der praktisch die einzige Anlaufstelle für diese Flüchtlinge in Libyen ist,
zumindest im westlichen Teil von Libyen. Es gab einen weiteren Appell von dem Nuntius
in Malta, aber von der höheren Hierarchie des Vatikans, wenn ich so sagen kann, ist
das wirklich nicht mit voller Energie unterstrichen worden, dass eine solche humanitäre
Evakuation nötig wäre. Ich denke mir, die Kirche sollte auch noch mit mehr Druck die
Verantwortlichkeit Europas gegenüber diesen Entwicklungen in der arabischen Welt herausstreichen.“ Freilich
müsse man bei den Immigranten die Ursachen der Flucht unterscheiden, fügt Hein an:
So sei ein politischer Flüchtling aus Eritrea, der vor dem Krieg aus Libyen nach Europa
fliehe, anders zu bewerten als allgemein Wirtschaftsflüchtlinge. Dennoch spricht für
Hein nichts dagegen, Tunesiern, die aus wirtschaftlichen Gründen aus ihrem Heimatland
fliehen, vorübergehend Unterschlupf in der EU zu gewähren, wo sie „arbeiten“, „Geld
zurückschicken“ und sich eventuell „weiterbilden“ könnten. Tunesiens aktuelle wirtschaftliche
Probleme seien schließlich „direkt an die politische Situation geknüpft“, erinnert
Hein: 400.000 Arbeitsplätze in Tourismus- und Exportbranche seien in dem Land weggefallen. Über
Italiens Vorstoß vom 5. April, Flüchtlingen angesichts humanitärer Grenzsituationen
vorübergehenden Rechtsschutz zu gewähren, äußert sich Hein im Gespräch mit Radio Vatikan
nicht voll zufrieden. Die sechs Monate beschränkte Genehmigung gelte nämlich nur für
Flüchtlinge, die bis einschließlich 5. April 2011 bereits nach Italien eingereist
seien. Alle danach Kommenden seien davon ausgeschlossen. „Das ist für uns völlig
unverständlich, denn entweder gibt es eine humanitäre Notsituation, und das ist die
einzige Grundlage für diese Aufenthaltsgenehmigung, oder eben nicht. Insofern fordern
wir, dass diese im Prinzip richtige Regelung eines vorübergehenden Schutzes für die
Tunesier und anderen Menschen aus Nordafrika ausgeweitet wird auf die, die nach wie
vor von dort ankommen.“ Zudem fordert der Flüchtlingsdienst eine Erweiterung
der Genehmigung auf ein ganzes Jahr. Das wäre gesetzlich möglich, so Hein. (rv
15.04.2011 pr)