Erdbeben und Tsunami: Ein kommentierender Blick in die Geschichte
Japan 2011: Die Nuklearkatastrophe
verdeckt, dass es eine ganze Reihe von Unglücksfällen sind, mit denen das Land und
die Welt fertig werden muss. So grausam es klingt: es ist nicht das erste mal, dass
so etwas passiert. Ein kommentierender Blick in die Geschichte.
Ein Erdbeben
der Stärke 8,5 bis 9 auf der Richterskala erschüttert das Land, gefolgt von einem
Tsunami. Schätzungen sprechen von 30.000 bis 100.000 Todesopfern allein in der Hauptstadt,
300.000 im ganzen Land. Eine ganze Kultur steht am Abgrund, die Wirtschaft bricht
völlig ein. Die Rede ist nicht von Japan. Die Rede ist vom Allerheiligenfest 1755.
Lissabon wird zerstört, das ganze Land versinkt in Ruin. Die Erschütterungen des Bebens
sind bis Finnland spürbar, Europa wackelt. Wie geht es weiter? Der Premierminister,
der Marques de Pombal, wird damals mit dem Ausspruch berühmt: „Und nun? Beerdigt die
Toten und ernährt die Lebenden.” So machte man weiter, aber Portugal wurde nie mehr
das, was es zuvor war. Wirkung hatte dieses Desaster aber über die wirtschaftlichen
und sozialen Umstände der Menschen hinaus, es veränderte das Denken. Voltaire, Kant,
Lessing, Rousseau: sie alle beschäftigten sich mit der Frage, wie die ganze westliche
Kultur und ein ganzes Denksystem mit solch einer Katastrophe fertig werden sollte. Erschüttert
war aber nicht nur das Denken, erschüttert war auch der Glaube. Goethe erinnert sich
Jahrzehnte später in ‚Dichtung und Wahrheit’ an das Beben und sagt über sich: „Der
Knabe war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden,
den die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte
sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs
väterlich bewiesen.“ Die Frage „Wie kann Gott Leid zulassen“ stellte sich so zum ersten
mal. Während wir noch gebannt darauf schauen, ob oder ob nicht einer der Reaktoren
in einem Atompilz verschwindet, werden langsam die anderen Verwüstungen deutlich.
Was bisher ein Argument war, wird jetzt in grausamer Wirklichkeit deutlich: wir können
uns unseren Lebensstil nicht länger leisten, die Welt kann sich unseren Lebensstil
nicht länger leisten. Das Desaster von Lissabon mag vergessen sein, Japan werden wir
nicht so leicht vergessen können.