Vatikanvertreter Giordano: „Umbruch in Nordafrika stellt EU-Menschenrechtspolitik
auf den Prüfstand“
Die Vorgänge in Nordafrika
stellen Europas Menschenrechtspolitik auf den Prüfstand. Das meint Aldo Giordano,
Vertreter des Apostolischen Stuhles im Europarat, im Gespräch mit Radio Vatikan. Giordano
ist in diesen Tagen auf Zypern, wo er an Beratungen der südosteuropäischen katholischen
Bischofskonferenzen zur Jugendpastoral teilnimmt. Auch wenn die Folgen des „arabischen
Frühlings“ derzeit noch nicht absehbar seien, hielten die Volksbewegungen in Nordafrika
Europa und seinen Institutionen jetzt schon den Spiegel vor, so Giordano:
„Wir
müssen uns fragen, was wir in den ganzen Jahren für den Schutz der Menschenrechte
getan haben, gerade im Hinblick auf unsere Nachbarn. Und wie Europa in Zukunft über
die Menschenrechte sprechen kann. In Hinblick darauf, dass die Menschenrechte universelle
Rechte sind. Oder ob sie für alle Völker gelten oder es schwierig ist, sie zu verteidigen
und durchzusetzen. Also wird an uns die Frage gestellt – und darin sehe ich einen
positiven Aspekt, wenn wir darauf antworten können – inwiefern Europa für gewisse
Dinge verantwortlich ist.“ Das politische Erdbeben in Nordafrika geht weit
über Landesgrenzen hinaus: Innerhalb weniger Wochen sind in Tunesien und Ägypten Machthaber
gefallen, die Jahrzehnte an der Macht waren. Dass sich die Europäische Union bislang
nur zaghaft und sehr vorsichtig zu diesen Aufständen geäußert hat, erklärt sich Giordano
so: „Europa und die ganze Welt waren überrascht, dass die jungen Menschen dazu
fähig sind, sich aus diesen alten Zwängen zu befreien. Das Bindeglied dieser Revolutionen
sind die neuen Medien. Wir haben nun die Sorge, dass diese Revolutionen jetzt oder
in Zukunft von Mächten und Fundamentalisten missbraucht werden könnten.“ Auch
vor diesem Hintergrund wachse in Europa derzeit das Bewusstsein, dass die Beziehungen
zu den angrenzenden Nachbarn konstitutiv auch für die europäische Identität seien,
so Giordano. Und was die Gefahr des religiösen Fanatismus betreffe, der sich in Nordafrika
ausbreiten könne, plädiert der Vatikanvertreter für eine durch Vernunft bestimmte
Religionsfreiheit: „Ich glaube, dass Europa sich wieder mehr um den Mittelmeerraum
kümmern muss. Wenn wir über das Mittelmeer sprechen, dann sprechen wir über die tiefen
Wurzeln Europas. Und heute sind wir in einer Situation, in der Europa seine Identität
finden muss. Besonders müssen wir daran denken, dass dieser Raum für die erste Verbreitung
des Christentums steht. Unser Papst legt ja großen Wert auf die Beziehung zwischen
Vernunft und Glauben. Wir brauchen den Glauben, aber wir brauchen einen Glauben, der
mit der Vernunft spricht, um alle Formen von Fundamentalismus und Radikalismus zu
vermeiden. Wir brauchen eine gute Theologie. Ich glaube, dass in Europa eine theologische
Ignoranz besteht.“ (rv 05.03.2011 ak)