Auf den Fernsehbildern
aus Nordafrika und der arabischen Welt sieht man in diesen Tagen oft Menschenmassen,
die ihre Forderungen herausschreien. Geben wir diesen Demonstranten jetzt einmal ein
Gesicht: das von Chérifa Bouatta. Die Algerierin ist Psychologie-Dozentin an der Universität
von Algier. Ein Beitrag von Stefan Kempis.
„Die einzige Möglichkeit für
eine Mehrheit der jungen Leute, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu sagen, ist der
Aufstand. Aber dieser Aufstand ist in Algerien nicht politisch, sondern sozial, und
auf lokaler Ebene gab es ihn schon seit langem. Das Neue heute ist: Es gibt eine Organisation,
die die bisherigen Proteste zusammenführt und ihnen eine politische Stoßrichtung gibt:
Sie fordert einen Regimewechsel.“
Die algerische Intellektuelle Chérifa
Bouatta gehört zu den Drahtziehern der Demonstrationen in ihrem Land. Ihr Ziel ist
es, dass die Revolution in der früheren französischen Kolonie von Anfang an ein weibliches
Gesicht hat.
„Die Proteste werden koordiniert von kleinen oppositionellen
Parteien, einer Menschenrechtsliga, unabhängigen Gewerkschaften und Jugendgruppen.
Zur Menschenrechtsliga und zu den Parteien gehören auch Frauen. Sie sorgen dafür,
dass die Rechte von Frauen als wichtiges Ziel wahrgenommen und in die Proteste mit
eingespeist werden – dass sie in der Koordination der Proteste nicht untergehen.“
Gerade
jetzt Aber ist der Moment, in dem die Throne in Nordafrika und Arabien
wackeln, wirklich der richtige, um auf die Gleichberechtigung von Frauen zu pochen?
Chérifa Bouatta kennt dieses Argument – und verweist auf die Jahre des blutigen Bürgerkrieges,
der von Islamisten im Untergrund ausging:
„Zur Zeit des Terrorismus in Algerien
haben die Frauen gesagt: Angesichts der Toten und der Bomben ist das jetzt nicht der
richtige Moment, um gleiche Rechte für uns einzufordern. Es ging damals ja um Leben
und Tod. Aber einige Frauen haben auch damals schon gesagt: Doch, das ist eine prioritäre
Frage, denn die Terroristen wollen ja den Frauen ein Lebensmodell aufzwingen, und
denen muss man sofort deutlich widersprechen.“
Die Geschichte anderer Länder
lehre, dass man oft den Frauen sage: Erst machen wir Revolution, und dann kümmern
wir uns um das Thema Frauen, sagt die Psychologie-Dozentin. Auch in Algerien hätten
Frauen sehr aktiv teilgenommen an der Revolution, die zur nationalen Unabhängigkeit
führte:
„Und als die Revolution endete, hat man ihnen gesagt: Geht nach
Hause, das war`s. Darum wollen wir jetzt von Anfang an bei dieser Revolution dabei
sein und von Anfang an darauf achten, dass da auch für die Rechte der Frauen gekämpft
wird. Die Frauenfrage gehört einfach zur Demokratie!“
Frau Bouatta beklagt
die Korruption der herrschenden Kaste, die Chancenlosigkeit der jungen Generation.
Dass der mächtigste Mann im Land nicht der Präsident ist, weiß sie genau:
„In
Algerien ist die Armee der entscheidende Machtfaktor. Unsere bisherigen Präsidenten
waren alle Militärs, und der jetzige ist zwar ein Zivilist, wurde aber von der Armee
ins Amt gebracht. Die Armee profitiert sehr von den Erdöleinnahmen. Bei den Protesten
und Unruhen in diesen Wochen ist sie allerdings nicht eingeschritten – das tut stattdessen
die Polizei, die von den Machthabern regelrecht aufs Volk losgelassen wird. Die Armee
hat bislang direkt nichts mit der Repression der Demonstranten zu tun gehabt.“
Gewalt
hat vielfältige Gesichter Allerdings – immer wieder machen auch Berichte
die Runde, dass Demonstranten gewalttätig werden, Schaufenster zerstören, Polizisten
angreifen. Doch Chérifa Bouatta gibt zu bedenken:
„Die Diktatur ist schon
an sich Gewalt: Gewalt gegen die Bevölkerung, der wesentliche Rechte wie etwa das
auf Versammlungsfreiheit vorenthalten werden. Wenn man 20- oder 40.000 Polizisten
mobilisiert, um Leute an einer Demonstration zu hindern, ist das auch schon Gewalt.“
Die
erste Gewalt sei also „die des Staates gegen die Bevölkerung“. Und wie erklärt sich
nun die Gewalt im Umfeld der Demonstrationen?
„In Algerien gibt es dafür
einen Ausdruck: die 'hugra'. Das bedeutet: soziale Ungerechtigkeit, Demütigung. Das
genau ist es, was die Leute auf die Barrikaden treibt.“
Es treibt sie auch
in die Boote, die Richtung Europa ablegen, Richtung Lampedusa. Und das ist das Problem
Europas. Italiens Außenminister Franco Frattini befürchtet einen Exodus biblischen
Ausmaßes, auch Brüssel denkt über den Ansturm von Immigranten nach. Frau Bouatta hält
es für den besten Ansatz, dass die Menschen längerfristig eine Chance in ihrer Heimat
bekommen und diese also gar nicht mehr verlassen müssen.
„Was zum Beispiel
Tunesien betrifft – da glaube ich nicht, dass man das Problem schon heute wird lösen
können. Das wird seine Zeit brauchen, bis man diese jungen Leute versteht und bis
sie ihren Platz in der Gesellschaft finden können. Aber ich glaube auch, dass man
im Mittelmeer keine neue Mauer aufrichten kann: Europa muss mit seinen Nachbarn auf
der anderen Seite des Mittelmeers zusammenarbeiten, damit man auf beiden Seiten akzeptable
Lebensbedingungen schaffen kann. Das geht nicht nur mit repressiven Gesetzen!“
Angst
ist zerbrochen Ben Ali in Tunesien ist gefallen, Mubarak in Ägypten auch;
das wird, glaubt Frau Bouatta, auch in Algerien Folgen zeitigen.
„Ich glaube,
dass das derzeitige Regime stürzen wird. Aber was wird danach kommen in Algerien?
Keine Ahnung. Jedenfalls ist jetzt schon der Moment gekommen, in dem die Algerier
die Angst vor den Herrschenden endgültig verloren haben. Die Ordnung der Angst ist
zerbrochen.“
Wie auch immer die politische Zukunft ihres Landes aussehen
wird – in einem ist sich Chérifa Bouatta ziemlich sicher: Frauen werden eine wichtigere
Rolle spielen:
„Immer mehr Frauen in Algerien studieren: An den staatlichen
Universitäten übersteigt ihre Zahl schon die Zahl der männlichen Studenten. Generell
ist mein Eindruck, dass Frauen in Algerien derzeit besser ausgebildet sind als Männer;
darum könnten sie schon morgen in wichtige Positionen im Land aufrücken – in der Verwaltung,
im öffentlichen Dienst usw.“