2011-02-24 13:25:34

Algerien: Das Gesicht der Revolution ist weiblich


RealAudioMP3 Auf den Fernsehbildern aus Nordafrika und der arabischen Welt sieht man in diesen Tagen oft Menschenmassen, die ihre Forderungen herausschreien. Geben wir diesen Demonstranten jetzt einmal ein Gesicht: das von Chérifa Bouatta. Die Algerierin ist Psychologie-Dozentin an der Universität von Algier. Ein Beitrag von Stefan Kempis.

„Die einzige Möglichkeit für eine Mehrheit der jungen Leute, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu sagen, ist der Aufstand. Aber dieser Aufstand ist in Algerien nicht politisch, sondern sozial, und auf lokaler Ebene gab es ihn schon seit langem. Das Neue heute ist: Es gibt eine Organisation, die die bisherigen Proteste zusammenführt und ihnen eine politische Stoßrichtung gibt: Sie fordert einen Regimewechsel.“

Die algerische Intellektuelle Chérifa Bouatta gehört zu den Drahtziehern der Demonstrationen in ihrem Land. Ihr Ziel ist es, dass die Revolution in der früheren französischen Kolonie von Anfang an ein weibliches Gesicht hat.

„Die Proteste werden koordiniert von kleinen oppositionellen Parteien, einer Menschenrechtsliga, unabhängigen Gewerkschaften und Jugendgruppen. Zur Menschenrechtsliga und zu den Parteien gehören auch Frauen. Sie sorgen dafür, dass die Rechte von Frauen als wichtiges Ziel wahrgenommen und in die Proteste mit eingespeist werden – dass sie in der Koordination der Proteste nicht untergehen.“

Gerade jetzt
Aber ist der Moment, in dem die Throne in Nordafrika und Arabien wackeln, wirklich der richtige, um auf die Gleichberechtigung von Frauen zu pochen? Chérifa Bouatta kennt dieses Argument – und verweist auf die Jahre des blutigen Bürgerkrieges, der von Islamisten im Untergrund ausging:

„Zur Zeit des Terrorismus in Algerien haben die Frauen gesagt: Angesichts der Toten und der Bomben ist das jetzt nicht der richtige Moment, um gleiche Rechte für uns einzufordern. Es ging damals ja um Leben und Tod. Aber einige Frauen haben auch damals schon gesagt: Doch, das ist eine prioritäre Frage, denn die Terroristen wollen ja den Frauen ein Lebensmodell aufzwingen, und denen muss man sofort deutlich widersprechen.“

Die Geschichte anderer Länder lehre, dass man oft den Frauen sage: Erst machen wir Revolution, und dann kümmern wir uns um das Thema Frauen, sagt die Psychologie-Dozentin. Auch in Algerien hätten Frauen sehr aktiv teilgenommen an der Revolution, die zur nationalen Unabhängigkeit führte:

„Und als die Revolution endete, hat man ihnen gesagt: Geht nach Hause, das war`s. Darum wollen wir jetzt von Anfang an bei dieser Revolution dabei sein und von Anfang an darauf achten, dass da auch für die Rechte der Frauen gekämpft wird. Die Frauenfrage gehört einfach zur Demokratie!“

Frau Bouatta beklagt die Korruption der herrschenden Kaste, die Chancenlosigkeit der jungen Generation. Dass der mächtigste Mann im Land nicht der Präsident ist, weiß sie genau:

„In Algerien ist die Armee der entscheidende Machtfaktor. Unsere bisherigen Präsidenten waren alle Militärs, und der jetzige ist zwar ein Zivilist, wurde aber von der Armee ins Amt gebracht. Die Armee profitiert sehr von den Erdöleinnahmen. Bei den Protesten und Unruhen in diesen Wochen ist sie allerdings nicht eingeschritten – das tut stattdessen die Polizei, die von den Machthabern regelrecht aufs Volk losgelassen wird. Die Armee hat bislang direkt nichts mit der Repression der Demonstranten zu tun gehabt.“

Gewalt hat vielfältige Gesichter
Allerdings – immer wieder machen auch Berichte die Runde, dass Demonstranten gewalttätig werden, Schaufenster zerstören, Polizisten angreifen. Doch Chérifa Bouatta gibt zu bedenken:

„Die Diktatur ist schon an sich Gewalt: Gewalt gegen die Bevölkerung, der wesentliche Rechte wie etwa das auf Versammlungsfreiheit vorenthalten werden. Wenn man 20- oder 40.000 Polizisten mobilisiert, um Leute an einer Demonstration zu hindern, ist das auch schon Gewalt.“

Die erste Gewalt sei also „die des Staates gegen die Bevölkerung“. Und wie erklärt sich nun die Gewalt im Umfeld der Demonstrationen?

„In Algerien gibt es dafür einen Ausdruck: die 'hugra'. Das bedeutet: soziale Ungerechtigkeit, Demütigung. Das genau ist es, was die Leute auf die Barrikaden treibt.“

Es treibt sie auch in die Boote, die Richtung Europa ablegen, Richtung Lampedusa. Und das ist das Problem Europas. Italiens Außenminister Franco Frattini befürchtet einen Exodus biblischen Ausmaßes, auch Brüssel denkt über den Ansturm von Immigranten nach. Frau Bouatta hält es für den besten Ansatz, dass die Menschen längerfristig eine Chance in ihrer Heimat bekommen und diese also gar nicht mehr verlassen müssen.

„Was zum Beispiel Tunesien betrifft – da glaube ich nicht, dass man das Problem schon heute wird lösen können. Das wird seine Zeit brauchen, bis man diese jungen Leute versteht und bis sie ihren Platz in der Gesellschaft finden können. Aber ich glaube auch, dass man im Mittelmeer keine neue Mauer aufrichten kann: Europa muss mit seinen Nachbarn auf der anderen Seite des Mittelmeers zusammenarbeiten, damit man auf beiden Seiten akzeptable Lebensbedingungen schaffen kann. Das geht nicht nur mit repressiven Gesetzen!“

Angst ist zerbrochen
Ben Ali in Tunesien ist gefallen, Mubarak in Ägypten auch; das wird, glaubt Frau Bouatta, auch in Algerien Folgen zeitigen.

„Ich glaube, dass das derzeitige Regime stürzen wird. Aber was wird danach kommen in Algerien? Keine Ahnung. Jedenfalls ist jetzt schon der Moment gekommen, in dem die Algerier die Angst vor den Herrschenden endgültig verloren haben. Die Ordnung der Angst ist zerbrochen.“

Wie auch immer die politische Zukunft ihres Landes aussehen wird – in einem ist sich Chérifa Bouatta ziemlich sicher: Frauen werden eine wichtigere Rolle spielen:

„Immer mehr Frauen in Algerien studieren: An den staatlichen Universitäten übersteigt ihre Zahl schon die Zahl der männlichen Studenten. Generell ist mein Eindruck, dass Frauen in Algerien derzeit besser ausgebildet sind als Männer; darum könnten sie schon morgen in wichtige Positionen im Land aufrücken – in der Verwaltung, im öffentlichen Dienst usw.“

(rv 24.02.2011 sk)









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