Hinter den Kulissen: Die Missbrauchs-Hotline für Missbrauchsopfer
Vor einem Jahr begann
in Berlin am Canisius-Kolleg die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle innerhalb der Katholischen
Kirche. Es folgten Skandale und Diskussionen, Opfer konnten das erste mal an die Öffentlichkeit
gehen und wurden Ernst genommen, die Kirche geriet in eine Glaubswürdigkeitskrise,
aus der sie noch nicht heraus ist. Auch die Aufarbeitung ist längst noch nicht am
Ende. Ein Jahr danach wirft Radio Vatikan einen Blick hinter die Kulissen der Aufarbeitung.
Andreas Zimmer leitet die Hotline, die von der deutschen Bischofskonferenz im Frühjahr
2010 und seit März letzten Jahres auch in Betrieb ist. Wir haben ihn gefragt, ob die
Hotline von vielen auch nichtkirchlichen Opfern genutzt wurde.
Sie sind also
jetzt deutschlandweit als Ansprechpartner bekannt. Das haben die Menschen auch genutzt,
wenn ihr Anliegen nicht in den kirchlichen Bereich gehört?
Das ist richtig,
auch wenn man sagen muss, dass die überwiegende Zahl der Menschen, die bei uns angerufen
haben, tatsächlich Katholiken waren. Und es waren viele dabei, die diese auch nicht
im kirchlichen Bereich geschehenen Delikte thematisiert haben, die gesagt haben: Endlich
hat Kirche mal so ein Angebot für uns. Also wo klar war: Die haben das nicht nur genutzt,
weil wir zu der Zeit die einzigen waren. (Die telefonische Anlaufstelle der Bundesregierung
kam ja erst später hinzu.) Sondern auch, weil sie als Katholiken ein kirchliches Angebot
nutzen wollten.
Wieviele MitarbeiterInnen haben Sie denn da in dieser
Hotline?
Also wir haben da gewechselt. Das hat nämlich immer was mit Inanspruchnahme
zu tun. Am Anfang hatten wir über 30, die in verschiedenen Schichten mitgearbeitet
haben. Inzwischen arbeiten dort 4 Personen, sowohl in der telefonischen
Beratung, als auch in der Internet-Beratung. Dazu kommen noch 2 in der Verwaltung
für Technik und Statistik.
Von 30 Mitarbeitern auf 4. Eine Folge der sinkenden
Anruferfrequenz?
Ja, anfangs gab es die meisten Anrufe. In der ersten Woche
über 13.000 Versuche. Mehrere Tausend am ersten Tag. Ganz wenige sind nur durchgekommen.
Wir mussten die Kapazitäten erweitern. Ein Gutteil der Gespräche wurde in den ersten
2 Monaten geführt. Nun haben wir pro Woche zwischen 60 und 100 Telefonate. Jetzt rufen
viele an, die schon mal angerufen haben. Das Profil der Anrufer ähnelt dem der Telefonseelsorge:
Wir haben Schweiger, Daueranrufer, Personen, die einsam sind... Außerdem haben wir
etwa 2 Anrufe pro Schicht, wo es dann um das Thema Missbrauch geht.
Wie
gehen Ihre Mitarbeiter mit der Belastung durch diese „dreckigen Geschichten“ um?
In
erster Zeit waren das „dreckige“ Geschichten. Unsere Hotline ist aber personalisiert
mit Leuten aus Beratungsstellen. Missbrauch kommt immer wieder vor. Sie sind entsprechend
geschult und vorbereitet. Dennoch ist es so: Wenn sie sich 5 Minuten mit einer Person
über schlimme Dinge unterhalten, auflegen und dann den nächsten holen, da sind sie
nachher fertig. Wenn möglich machen die Mitarbeiter deshalb nur eine Schicht pro Woche.
Nach der Schicht erhalten die Mitarbeiter die Möglichkeit, ihren Kollegen das zu erzählen,
was sie besonders belastet hat. Das wurde mit Supervision und Fallbesprechung begleitet,
denn das steckt man nicht einfach weg. In den Situationen mit Anrufer müssen sie aber
professionell reagieren und dürfen sich nicht von ihrer eigenen Betroffenheit überwältigen
lassen.
Gab es eine Vorbereitung auf dieses spezielle Problem „Missbrauch“?
Wir
haben nur Personen genommen, die entweder eine Ausbildung hatten im Umgang mit sexueller
Gewalt oder im Umgang mit traumatisierten Personen. Wir haben dann geschaut, dass
wir bevorzugt solche Mitarbeiter nehmen, die tatsächlich schon Felderfahrung hatten.
Das heißt, das waren Personen, die das Feld kannten.Die wurden dann nochmal
entsprechend auf das besondere Medium Telefon geschult. Da hat unsere Telefonseelsorge
mitgeholfen.
Wie gehen Sie mit der Wut um, die der Kirche entgegengebracht
wird und wie wird das weitergegeben?
Wir sind gerade am Anfang als allgemeine
Beschwerdehotline der katholischen Kirche genutzt worden. Das heißt, wann immer es
in den Medien um einen Bischof ging, der jemanden verärgert hat, dann hat jemand bei
uns angerufen und seine Kritik geäußert. Manchmal sehr vehement. Also wir hatten auch
Beschimpfer. Manchmal sehr nüchern. Manchmal vehement und sachlich gut begründet.
Und was wir dann zu tun hatten, war die Sachen aufzuzeichnen und an das Bonner Büro
von Bischof Ackermann weiterzuleiten, damit was an Kritik geäußert wurde dann auch
vorliegt und dann an anderer Stelle geguckt werden muss, wie wird damit umgegangen.
Sie
haben auch nicht gefiltert, sondern komplett weitergegeben?
Ja. Es ist ja
nicht unsere Aufgabe, grad bei Kritik, zu filtern. Wir hatten natürlich Dinge, da
war klar, da hat jemand seine aggressiven oder pornografischen Impulse ausgelebt und
in einer sehr unfletigen Weise Dinge vorgebracht. Da wurde das natürlich auf den Sachgehalt
reduziert.
Kann sich hinter der Aggressivität nicht auch eine Unfähigkeit
sich auszudrücken verstecken?
Richtig. Im Gespräch gehts zunächst darum,
herauszufinden, wo kommt diese Wut her? Hat die vielleicht einen persönlichen Bezug?
Ist der Betreffende selbst irgendwann Opfer geworden? Hat der einen Verwandten, einen
Freund, der davon betroffen ist oder ist er da in irgend einer Weise beteiligt. Dann
zeigen wir ihm Wege auf, wie es weitergehen kann. Also welche persönlichen Schritte
man gehen kann. Was man machen kann in der Familie oder in der Partnerschaft. Wie
damit umgegangen werden kann. Aber man muss auch sagen im Vergleich waren diese sehr
wütenden Anrufe eigentlich in der Minderheit. Der überwiegende Teil der Anrufer war
hochemotional, ofts ehr verletzt, war in akuten Krisen zum Teil oder gar in Retraumatisierung.
Aber denen ging es dann nicht darum jetzt jemanden zu beschimpfen, sondern für sich
Hilfe und Wege zu finden. Dann hieß das am Telefon zu stabilisieren mit den üblichen
fachlichen Methoden.
Retraumatisierung meint, dass man das nach 20-30 Jahren
nochmal durchleben muss?
So ist es. Wir haben ja einen relativ hohen Altersdurchschnitt
bei denen, die angerufen haben. Das ist auch bei der Anlaufstelle der Bundesregierung
so. Das Durchschnittsalter war 55,54 Jahre. Der jüngste Anrufer war 11, die älteste
Anruferin war 90 Jahre alt. Viele Menschen im höheren Alter schildern einmal,
dass es einfach sehr lang gedauert hat bis sie sich überhaupt nochmal dran erinnern,
was ihnen widerfahren ist, weil es nach einer Tat auch Gedächtnisverlust gab, Verdrängungsprozesse.
Dass dann durch die aktuelle Beschäftigung in den Medien und die dadurch sehr prägnant
vorgeführte Wirklichkeit von sexueller Gewalt in der Gesellschaft und in verschiedenen
Schattierungen, diese alten Ereignisse nochmal hochkamen und damit wieder lebendig
worden. Und man weiß heute aus der Traumaforschung, dass solche Dinge anders erinnert
werden, das heißt, die sind dann präsent als wären sie gestern passiert. Sie
reden da mit jemandem, der 80 Jahre alt ist, der erzählt von der ihm zugefügten Gewalt,
als wär die ihm gestern passiert. Und leidet auch in dem Moment noch so darunter wie
damals oder sogar noch mehr, als er es damals konnte.
In den Medien dominiert
der Blick auf die Täter. Sie blicken auf die Opfer. Wie unterscheidet sich Ihr Blick
von dem der Medien?
Also wir haben ja klar eine Dienstleistung gegenüber
den Opfern zu bringen. Das ist der eine Punkt. Insofern kommen bei uns Täter nur durch
die Brille der Opfer vor. Täter selber haben sich fast gar nicht gemeldet. Das bedeutet,
dass bei uns schon noch mal die Wahrnehmung als wir Kinder waren auf die Täter deutlich
wird, in der Erinnerung als gesetzte, machtvolle, charismatische Personen, von denen
man über längere Phasen hinweg in eine Abhängigkeit oder ein missbräuchliches Verhältnis
geführt wurde. Der zweite Unterschied, ich sagte das grad schon, wir haben ja als
Alltagsarbeit in der Beratung leider immer wieder mit Missbrauch zu tun und ich war
gewissermaßen überrascht davon, wieviele Leute erschreckt waren davon, dass es Missbrauch
gibt. Wenn man allein guckt, wieviel in Deutschland an offizieller Statistik zu Missbrauchsfällen
kommt, dann folgert daraus, dass pro Stunde 1,5 Fälle von Missbrauch vorkommen. Jede
Stunde. Die meisten Menschen benehmen sich aber oder benahmen sich so in der öffentlichen
Diskussion, als hätten sie diese Wirklichkeit noch nie wahrgenommen. Das müssten dann
eher Medienexperten erklären, als solche aus der Beratung, warum es gerade jetzt möglich
war auf diese befreiende Weise erstmalig sehr breit über das Themenfeld zu diskutieren.
Ihre Hotline wird von den Betroffenen als Schritt empfunden, der gut war?
Ja,
das wird auch von vielen so benannt. Also es gibt ja den Bericht aus der Antike, wo
einer allen Sklaven ein gelbes Gewandt geben wollte und ein anderer sagt, nein, das
machen wir nicht, sonst merken sie, wieviele sie sind. Und so etwa war es hier bei
dieser Diskussion. Viele Opfer haben erst gemerkt: das war ja nicht nur ich.Und wir
sind nicht nur 3, sondern wir sind viele. Und wenn jeder, der sexuelle Gewalt erlitten
hat, eine Mütze tragen würde, man würde sich in deutschen Städten und in anderen Städten
wundern, wie wenig Leute ohne Mütze rumlaufen.
Das ist eine ziemlich deprimierende
Einsicht?
Ja, aber sehen Sie, wenn Sie in der Beratung arbeiten, dann wissen
Sie das seit Jahr und Tag. Und dieses Wissen jetzt mit anderen zu teilen, zu sagen,
jetzt haben wir das mal gesellschaftlich im Blick, also dass in unserer Gesellschaft
die Wahrscheinlichkeit von sexueller Gewalt betroffen zu sein höher ist als die Wahrscheinlichkeit
an Zucker zu erkranken, wenn man das epidemologisch anguckt und gucken Sie mal wieviele
Leute Sie kennen, die zuckerkrank sind, dann haben wir jetzt auch eine Riesenchance
dafür zu sorgen, dass das künftig anders wird. Dass Prävention anders greift und dass
dort, wo so etwas geschieht, schneller ans Tageslicht kommt. Früher haben schon Untersuchungen
gezeigt, dass Opfer sehr häufig überhaupt erstmal das Thema anschneiden, ansprechen
müssen, bevor es ihnen geglaubt wird.
Haben Sie für sich selbst ein Fazit?
Also
ich hab das Gefühl, dass die Hotline ein wichtiges Angebot ist, das Menschen geholfen
hat. Ein Fazit können wir erst am Schluss ziehen, wenn wir das ausgewertet haben.
Aber was ich eben sagte, ist für mich Fazit. Wir haben jetzt eine große Chance, ganz
anders als früher über Dinge, die uns gar nicht vertraut sind, zu sprechen. Es geht
ja auch um ein wenig erforschtes Dunkelfeld. Wir haben jetzt also die Chance
in anderer Weise präventiv zu handeln und eine Umgebung für Kinder und Jugendliche
zu schaffen, in der die sicher aufwachsen können. Die sollten wir nutzen.
Wie
lange brauchen wir die Hotline noch?
Wie lange wir sie brauchen, weiß ich
nicht, aber ansonsten, ist es keine Frage der Schätzung, sondern der Auftragslage.
Wir haben von der Bischofskonferenz den Auftrag bis September diesen Jahres die Hotline
durchzuführen. Und da inzwischen die Präventionsordnung vorliegt und auch eine Rahmenordnung
neu verfasst wurde zur Bearbeitung von Delikten, gehe ich davon aus, dass es davon
abhängen wird, wie sich die einzelnen Diözesen, Vereine auf den Weg gemacht haben
werden. Ob man sowas zentrales braucht oder wie es denn dezentral einfach mit einer
guten Kultur des Umgangs mit dieser oft menschlichen Tragödie aussieht.