2011-01-04 13:33:49

Sudan: „Die Geschichte des Landes neu schreiben“


RealAudioMP3 Selbständigkeit und Fortschritt, soziale und wirtschaftliche Entwicklung – das verbinden die Menschen im Südsudan mit einer Loslösung vom Norden. In Afrikas größtem Staat wird am kommenden Sonntag über eine solche mögliche Teilung entschieden. Für viele Südsudanesen ist es geradezu undenkbar, Teil des Sudans zu bleiben, weil sie sich durch die nordsudanesische Bevölkerung benachteiligt und diskriminiert fühlen. Das beobachtet der Comboni-Missionar Bruder Hans Dieter Ritterbecks im Gespräch mit dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“. Er hält sich derzeit im Südsudan auf.
 
„Die Geschichte des Landes ist von Sklavenhandel, Diskriminierung und Unterdrückung geprägt, und die Südsudanesen wurden niemals als gleichberechtigt angesehen. Im Übrigen wurde vom Regierungssitz Khartum aus seit 2005 so gut wie nichts unternommen, um die Einheit attraktiv zu machen. Die klassische Gesellschaftsordnung im Nordsudan sieht nach wie vor folgendermaßen aus: Erstens der arabische muslimische Mann, zweitens die arabische muslimische Frau, drittens der nicht arabische muslimische Mann, viertens die nicht arabische muslimische Frau. Erst dann folgt der ganze Rest. Da sich nur wenige Südsudanesen zum Islam bekennen, kann man sich unschwer vorstellen, wo sie eingruppiert werden.“
 
Probleme bei Vorbereitung der Wahl
Im Südsudan überwiegen Christen und Anhänger der Naturreligionen; der Norden ist dagegen muslimisch geprägt. Die Vorbereitung des Referendums sei in einigen Regionen nicht ganz glatt abgelaufen, erzählt Ritterbecks und nennt ein Beispiel:
 
„Vor einigen Tagen hörte ich von einem Journalisten, dass beispielsweise in der Region Abyei überhaupt keine Registrierung stattgefunden hatte. In dieser erdölreichen Region wird ein gesondertes Referendum abgehalten. Abyei wird von dem südsudanesischen Stamm der Dinka Ngok besiedelt, die sich wohl mehrheitlich für die Unabhängigkeit entscheiden würden. Khartum besteht allerdings darauf, dass auch die Misseriya bei der Registrierung berücksichtigt werden. Dieser nordsudanesische Nomadenstamm treibt saisonweise seine Herden in das Weideland um Abyei und würde geschlossen für die Einheit stimmen.“
 
Ein anderes Problem bei der Durchführung der Wahl: Viele Südsudanesen seien Analphabeten, ihnen habe man bei der Registrierung das Wie und Was der Abstimmung bildlich erklären müssen.
 
„Auf dem Wahlschein hat man sich darum mit zwei einfachen Abbildungen beholfen: Ein Handschlag mit zwei Händen steht für die Einheit und eine ausgestreckte Hand steht für die Trennung. Letzteres würden wir im Deutschen mit Winken oder "Auf Wiedersehen" übersetzen. Also: "Bye-bye, Khartum". Das hat hier jeder kapiert, und ich denke, die Menschen wissen, worum es geht.“
 
Norden will Einheit aus wirtschaftlichen Gründen
Das Referendum beginnt am kommenden Sonntag und dauert insgesamt eine Woche. Für eine Gültigkeit der Abstimmung müssen 60 Prozent aller Registrierten ihre Stimme abgeben. Andernfalls sei das Ergebnis ungültig, so Ritterbecks. Das käme dem Norden entgegen, denn er wolle den Süden auf keinen Fall in die Unabhängigkeit entlassen, glaubt der Comboni-Missionar. Grund: Erdölvorkommen im Südsudan. Was die Lebensbedingungen der Christen im Norden des Sudans betreffe – die würden sich mit der Loslösung des Südsudans verschlechtern, meint Ritterbecks. Dafür gebe es schon jetzt konkrete Hinweise:
 
„Der Präsident des Nordens, Omar Hassan al-Bashir, hat schon verlauten lassen, dass sich die Verfassung des Nordens im Falle der Unabhängigkeit des Südens verändern wird. Er sagte, dass die Scharia und der Islam die neuen Grundsteine für die reformierte Verfassung sein werden. Wenn das tatsächlich eintritt, wird es für Christen und Nichtmuslime im Norden noch viel schwieriger.“
 
Bei einem Scheitern des Referendums würde der Südsudan unilateral seine Unabhängigkeit erklären, das habe der Präsident des Südsudan, Salva Kiir, schon im Vorfeld der Wahl angekündigt, so Ritterbecks:
„Er scheint sich sicher zu sein, dass weite Teile der internationalen Gemeinschaft eine solche Entscheidung mittragen würden. Das Problem wäre allerdings die Grenze, da es noch keine übereinstimmende Demarkationslinie gibt.“
 
Immerhin – auch wenn sich beide Interessenlagen direkt gegenüber stehen, habe er massive Einschüchterungen oder Gewaltandrohungen bisher nicht beobachten können, so Ritterbecks. Und im Gegensatz zu anderen Beobachtern hält der Comboni-Missionar auch Ausschreitungen nach der Wahl für eher unwahrscheinlich:
 
„Es wird zwar beobachtet, dass beide Seiten massiv Truppen an der vermeintlichen Grenze zusammengezogen haben. Ich hoffe aber, dass es sich dabei nur um ein Muskelspiel handelt. Der Sudan hat bereits zwei Kriege hinter sich; man müsste meinen, dass die Menschen genug haben. In diesem Zusammenhang muss aber auch gesagt werden, dass die Südsudanesen bereits im Unabhängigkeitstaumel sind. Das ist eine hochbrisante emotionale Angelegenheit. Sollte es während des Referendums tatsächlich chaotisch werden, könnte das zu Überreaktionen führen.“
 
Versöhnung und AufbauDas Referendum von diesem Sonntag ist Kernstück des Friedensabkommens aus dem Jahr 2005 zwischen dem Nord- und Südteil des Landes. Damals einigten sich die Zentralregierung in Khartum und die Südsudanesische Befreiungsarmee „SPLA“ (Sudanese People Liberation Army) unter den Augen internationaler Vermittler auf die Einrichtung einer autonomen Region Südsudan, die sich weitgehend selbst verwalten sollte. Die Unabhängigkeit des Südsudans sei ein Zielpunkt des damals begonnenen Prozesses, so Ritterbecks. Nach jahrzehntelangem Krieg gehe nun die Aufbauarbeit im Sudan erst richtig los, prognostiziert er:  „Es gibt eine Menge zu tun, denn es mangelt überall an Fachkräften. Die internationale Staatengemeinschaft ist aufgefordert, hier konstruktive Hilfe zu leisten. Es geht dabei nicht nur um Ausbildung, sondern auch um ein generelles Umdenken. Einerseits sind viele Menschen hier noch stark in der Tradition verankert und ziehen mit Speer und Stock bewaffnet hinter ihren Kühen her. Aber andererseits gibt es in Juba oder anderen größeren Städten des Südsudan viele junge Leute, die mit allen modernen Kommunikationstechniken vertraut sind.“
 
Eine andere Herausforderung sei nach zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg nach wie vor der Friedens- und Versöhnungsprozess innerhalb der Bevölkerung, so der Geistliche. Hier spiele die Kirche eine wesentliche Rolle:
 
„Die Auseinandersetzung mit dem Norden hat viele Wunden hinterlassen und auch die südsudanesische Rebellenorganisation SPLM (Sudanese People’s Liberation Movement) hat viel Schuld auf sich geladen. Überhaupt bilden die Südsudanesen keine brüderliche Volksgemeinschaft. Unter den vielen ethnischen Gruppen herrschen oft Spannungen, die wir uns als Europäer kaum vorstellen können. Es wird noch dauern, bis sich ein allgemeines nationales Bewusstsein herausgebildet hat. Das ist eine Herausforderung, die von der heranwachsenden und nachfolgenden Generation bewältigt werden muss. Hier leistet die Kirche einen maßgeblichen Beitrag.“
 
Egal, was die Zukunft bringt – die Kirche bereite sich schon jetzt darauf vor, auch andere Aufgaben wahrzunehmen, so der Missionar: zum Beispiel Demokratie und Aufbau des Landes zu stärken.

„Hinzu kommt, dass die Kirche auch ein wachsames und kritisches Auge auf die ‚Neuen Herren‛ des neuen südsudanesischen Staates haben muss. Auch das tut sie jetzt schon, aber in Zukunft kommt dieser Aufgabe noch mehr Bedeutung zu. Denn bisher hatte man mit Khartum genug zu tun, jetzt aber wird im eigenen Haus gefegt. Ein Bischof hat bereits ein sehr mutiges Wort gesprochen, als er sagte: ‚Wir wollen nicht die alten Diktatoren gegen neue eintauschen.‛ Dieses Zitat zeigt, dass sich die Kirche schon auf die neue Situation vorbereitet.“ 
(kirche-in-not 04.01.2011 pr)







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