Wir dokumentieren die Predigt von Papst Benedikt XVI. bei der Mitternachtsmesse im
Wortlaut
Liebe Brüder und Schwestern! „Mein Sohn bist du, heute habe ich
dich gezeugt“ – mit diesem Wort aus Psalm 2 eröffnet die Kirche die Liturgie der Heiligen
Nacht. Sie weiß, dass dieses Wort ursprünglich zum Krönungsritual der Könige von Israel
gehörte. Der König, der von sich aus ein Mensch ist wie andere Menschen, wird „Sohn
Gottes“ durch die Berufung und Einsetzung in sein Amt. Sie ist eine Art Adoption durch
Gott, ein Akt der Entscheidung, durch den er diesem Menschen eine neue Existenz schenkt,
ihn in sein eigenes Sein hineinzieht. Die Lesung aus dem Propheten Jesaja, die wir
eben gehört haben, stellt denselben Vorgang in einer Situation der Not und der Bedrohung
Israels noch leuchtender dar: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt.
Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter“ (Jes 9, 5). Die Einsetzung ins Königsamt
ist wie eine neue Geburt. Gerade als Neugeborener aus Gottes eigenem Entschluss, als
Kind von Gott her, schafft der König Hoffnung. Auf seinen Schultern ruht die Zukunft.
Er ist Träger der Verheißung des Friedens. In der Nacht zu Bethlehem ist dieses prophetische
Wort auf eine Weise Wahrheit geworden, die in der Zeit Jesajas noch nicht vorstellbar
gewesen wäre. Ja, nun ist es wirklich ein Kind, auf dessen Schultern die Herrschaft
liegt. In ihm erscheint das neue Königtum, das Gott in der Welt aufrichtet. Dieses
Kind ist wirklich aus Gott geboren. Es ist Gottes ewiges Wort, das Menschsein und
Gottsein einander verbindet. Von diesem Kind gelten die Würdetitel, die das Krönungslied
des Propheten ihm zulegt: Wunderbarer Ratgeber – Starker Gott – Vater in Ewigkeit
– Friedensfürst (Jes 9, 5). Ja, dieser König braucht keine Ratgeber aus den
Weisen der Welt. Es trägt Gottes Weisheit und Rat in sich selbst. Er ist gerade in
der Schwäche des Kindseins der starke Gott und zeigt uns so gegenüber den auftrumpfenden
Mächten dieser Welt Gottes eigene Stärke.
Die Worte des Krönungsrituals in
Israel waren in Wahrheit immer nur Rituale der Hoffnung, die auf eine von Gott zu
schenkende Zukunft vorausschauten. Keiner der Könige, die auf diese Weise begrüßt
wurden, entsprach der Größe dieser Worte. In ihnen allen blieben die Worte von der
Sohnschaft Gottes, von der Einsetzung ins Erbe der Völker, vom Eigentum bis ans Ende
der Erde (Ps 2, 8) nur Verweise auf Kommendes – gleichsam Wegzeichen der Hoffnung,
die auf eine Zukunft hinführen, die in jenem Augenblick noch unverstehbar war. So
ist die Erfüllung des Wortes, die in der Nacht zu Bethlehem beginnt, zugleich unendlich
größer und weltlich gesehen geringer, als das prophetische Wort ahnen ließ. Sie ist
größer, denn dieses Kind ist wirklich Gottes Sohn, wirklich „Gott von Gott, Licht
vom Licht, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater“. Die unendliche Entfernung
zwischen Gott und Mensch ist überbrückt. Gott hat sich nicht nur herabgebeugt, wie
die Psalmen es beten; er ist wirklich „herabgestiegen“, in die Welt gekommen, einer
von uns geworden, um uns alle an sich zu ziehen. Dieses Kind ist wirklich Emmanuel
– Gott mit uns. Sein Reich geht wirklich bis an die Enden der Erde. Er hat Inseln
des Friedens errichtet in der weltumspannenden Weite der heiligen Eucharistie. Wo
immer sie gefeiert wird, ist eine Insel des Friedens, der von Gott stammt. Dieses
Kind hat das Licht der Güte in den Menschen entzündet und ihnen Kraft gegeben, der
Tyrannei der Macht zu widerstehen. Es baut in jeder Generation sein Reich von innen
her, vom Herzen her. Aber zugleich ist wahr, dass der „Stock des Treibers“ nicht zerbrochen
ist. dass auch heute Stiefel dröhnend daherstampfen und dass es immer noch und immer
wieder den „blutbefleckten Mantel“ gibt (Jes 9, 3f). So gehört zu dieser Nacht
die Freude über Gottes Nähe. Wir danken dafür, dass Gott als Kind sich in unsere Hände
gibt, um unsere Liebe gleichsam bettelt, uns seinen Frieden ins Herz senkt. Aber diese
Freude ist doch auch Bitte: Herr, mache deine Verheißung ganz wahr. Zerbrich die Stöcke
der Treiber. Verbrenne die dröhnenden Stiefel. Lass die Zeit der blutbefleckten Mäntel
zu Ende gehen. Laß es wahr werden: „Der Friede wird kein Ende haben“ (Jes 9,
6). Wir danken dir für deine Güte, aber wir bitten dich auch: Zeige deine Macht. Richte
die Herrschaft deiner Wahrheit und deiner Liebe auf in der Welt – das „Reich der Gerechtigkeit,
der Liebe und des Friedens“.
„Maria gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen“ (Lk
2, 7). Mit diesem Satz erzählt der heilige Lukas ganz ohne Pathos das große Ereignis,
auf das die prophetischen Worte in der Geschichte Israels vorausgeschaut hatten. Lukas
nennt das Kind den „Erstgeborenen“. In der Sprache, die sich in der Heiligen Schrift
des Alten Bundes geformt hatte, bedeutet „Erstgeborener“ nicht den Anfang einer Reihe
von anderen Kindern. Das Wort „Erstgeborener“ ist ein Würdetitel, ganz unabhängig
davon, ob weitere Geschwister folgen oder nicht. So wird Israel von Gott im Buch Exodus
(4, 22) als „mein erstgeborener Sohn“ bezeichnet, und damit wird seine Erwählung,
seine einzigartige Würde, die besondere Liebe Gottes des Vaters ausgedrückt. Die werdende
Kirche wusste, dass in Jesus dieses Wort eine neue Tiefe empfangen hatte; dass die
Verheißungen Israels in ihm zusammengefasst sind. So nennt der Hebräer-Brief Jesus
den Erstgeborenen, einfach um ihn nach den Vorbereitungen im Alten Testament als den
Sohn zu bezeichnen, den Gott in die Welt sendet (Hebr 1, 5 – 7). Der Erstgeborene
gehört in besonderer Weise Gott, und daher musste er in besonderer Weise – wie in
vielen Religionen – Gott übergeben und durch ein stellvertretendes Opfer abgelöst
werden, wie es auch der heilige Lukas in der Geschichte von der Darstellung Jesu im
Tempel erzählt. Der Erstgeborene gehört Gott in besonderer Weise, ist gleichsam zum
Opfer bestimmt. Im Kreuzesopfer Jesu erfüllt sich in einzigartiger Weise die Bestimmung
des Erstgeborenen. Er bringt in sich selbst die Menschheit Gott dar und vereint so
Mensch und Gott, damit Gott alles in allem sei. Paulus hat in den Briefen an die Kolosser
und die Epheser den Gedanken Jesu als des Erstgeborenen ausgeweitet und vertieft:
Jesus, so sagen uns die Briefe, ist der Erstgeborene der Schöpfung – das eigentliche
Urbild des Menschen, nach dem Gott den Menschen geschaffen hat. Der Mensch kann Gottes
Bild sein, weil Jesus Gott und Mensch, das wahre Bild Gottes und des Menschen ist.
Er ist der Erstgeborene von den Toten, sagen uns diese Briefe des weiteren. Er hat
in der Auferstehung die Mauer des Todes durchbrochen, für uns alle. Er hat dem Menschen
den Raum des ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott eröffnet. Endlich wird uns
gesagt: Er ist der Erstgeborene unter vielen Brüdern. Ja, er ist nun doch der erste
einer Reihe von Geschwistern: der erste, der uns das Mitsein mit Gott eröffnet. Er
schafft die wahre Brüderlichkeit – nicht die von der Sünde entstellte Brüderlichkeit
von Kain und Abel, von Romulus und Remus, sondern die neue Brüderlichkeit, in der
wir Gottes eigene Familie sind. Diese neue Familie Gottes beginnt in dem Augenblick,
da Maria den „Erstgeborenen“ mit Windeln umwickelt und in die Krippe legt. Bitten
wir ihn: Herr Jesus, der du als der erste unter vielen Geschwistern geboren werden
wolltest, schenk uns die wahre Geschwisterlichkeit. Hilf uns, dass wir dir ähnlich
werden. Hilf uns in dem anderen, der meiner bedarf, in denen, die leidend oder verlassen
sind, in allen Menschen dein Gesicht zu erkennen und mit dir als Brüder und Schwestern
zu leben, um zu einer Familie, zu deiner Familie zu werden.
Das Weihnachtsevangelium
erzählt uns am Ende, dass ein großes himmlisches Heer von Engeln Gott lobte und sprach:
„Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede den Menschen seiner Gnade.“ (Lk
2, 14). Die Kirche hat diesen Lobpreis, den die Engel angesichts des Ereignisses der
Heiligen Nacht angestimmt haben, zu einem Hymnus der Freude über Gottes Herrlichkeit
ausgeweitet. „Wir danken dir für deine Herrlichkeit.“ Wir danken dir für die Schönheit,
für die Größe, die Güte Gottes, die uns in dieser Nacht sichtbar werden. Das Erscheinen
der Schönheit, des Schönen, macht froh, ohne dass wir nach seiner Nützlichkeit fragen
müssten. Gottes Herrlichkeit, aus der alle Schönheit stammt, lässt uns in Staunen
und Freude ausbrechen. Wer Gottes ansichtig wird, wird froh, und in dieser Nacht sehen
wir etwas von seinem Licht. Aber auch von den Menschen spricht das Engelswort der
Heiligen Nacht: „Frieden den Menschen die er liebt.“ Die lateinische Übersetzung des
Engelsworts, die wir in der Liturgie gebrauchen und die auf Hieronymus zurückgeht,
lautet anders: „Friede den Menschen, die guten Willens sind.“ Das Wort von den Menschen
des guten Willens ist gerade in den letzten Jahrzehnten auf besondere Weise in den
kirchlichen Sprachschatz eingegangen. Welche Übersetzung aber ist richtig? Wir müssen
beide Texte zusammenlesen; nur so verstehen wir das Engelswort recht. Falsch wäre
eine Auslegung, die nur Gottes alleiniges Wirken gelten lässt, als ob er den Menschen
nicht zu einer freien Antwort der Liebe gerufen hätte. Falsch wäre aber auch eine
moralisierende Auslegung, nach der der Mensch sich gleichsam mit seinem guten Willen
erlösen könnte. Beides gehört zusammen: Gnade und Freiheit; Gottes zuvorkommende Liebe,
ohne die wir ihn nicht lieben könnten, und unsere Antwort, auf die er wartet, um die
er uns in der Geburt seines Sohnes förmlich bittet. Das Ineinander von Gnade und Freiheit,
das Ineinander von Ruf und Antwort können wir nicht in voneinander getrennte Teile
auseinandernehmen. Beides ist unlösbar ineinander verwoben. So ist dieses Wort Verheißung
und Anruf zugleich. Gott ist uns zuvorgekommen im Geschenk seines Sohnes. Gott kommt
uns immer wieder auf unerwartete Weise zuvor. Er lässt nicht nach, uns zu suchen,
uns aufzurichten, sooft wir es nötig haben. Er lässt das verlorene Schaf nicht in
der Öde, in die es sich verirrt hat. Gott lässt sich durch unsere Sünde nicht beirren.
Er fängt immer wieder neu mit uns an. Aber er wartet doch auf unser Mitlieben. Er
liebt uns, damit wir Mitliebende werden und so Friede auf Erden sein könne.
Lukas
hat nicht gesagt, dass die Engel gesungen haben. Er schreibt ganz nüchtern: Das himmlische
Heer lobte Gott und sprach: Ehre sei Gott in der Höhe… (Lk 2, 13f). Aber immer
wussten die Menschen, dass das Sprechen der Engel anders ist als das Reden der Menschen.
dass es gerade in dieser Nacht der freudigen Botschaft ein Singen gewesen ist, in
dem Gottes hohe Herrlichkeit aufstrahlte. So ist dieses Lied der Engel von Anfang
an als Musik von Gott her gehört worden, ja, als Einladung mitzusingen in der Freude
des Herzens über das Geliebtsein von Gott. Cantare amantis est, sagt Augustinus: Singen
ist Sache des Liebenden. So ist das Lied der Engel die Jahrhunderte hindurch immer
neu Gesang der Liebe und Freude, Gesang der Liebenden geworden. In dieser Stunde stimmen
wir voll Dankbarkeit in dieses Singen aller Jahrhunderte ein, das Himmel und Erde,
Engel und Menschen verbindet. Ja, wir danken dir für deine Herrlichkeit. Wir danken
für deine Liebe. Lass uns immer mehr Mitliebende mit dir und so Menschen des Friedens
werden! Amen.