Papst-Botschaft zu Religionsfreiheit und Weltfrieden. Volltext
RELIGIONSFREIHEIT, EIN WEG FÜR DEN FRIEDEN 1. Zu Beginn eines neuen Jahres
will mein Glückwunsch alle und jeden einzelnen erreichen; es ist ein Wunsch für ein
frohes Wohlergehen, vor allem aber ist es ein Friedenswunsch. Auch das Jahr, das seine
Türen schließt, war leider von Verfolgung, von Diskriminierung, von schrecklichen
Gewalttaten und von religiöser Intoleranz gezeichnet. Ich denke besonders an das
geschätzte Land Irak, das auf seinem Weg in die ersehnte Stabilität und Versöhnung
weiterhin ein Schauplatz von Gewalt und Anschlägen ist. Mir kommen die jüngsten Leiden
der christlichen Gemeinde in den Sinn und insbesondere der niederträchtige Angriff
auf die syro-katholische Kathedrale „Unserer Lieben Frau von der Immerwährenden Hilfe“
in Bagdad, wo am vergangenen 31. Oktober zwei Priester und über fünfzig Gläubige,
die zur Feier der heiligen Messe versammelt waren, getötet wurden. Diesem Anschlag
folgten in den Tagen danach weitere Angriffe, auch auf Privathäuser. Sie haben in
der christlichen Gemeinde Angst ausgelöst sowie bei vielen ihrer Mitglieder den Wunsch
geweckt, auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zu emigrieren. Ihnen bekunde
ich meine Nähe und die der ganzen Kirche, was auch in der kürzlich abgehaltenen Sonderversammlung
der Bischofssynode für den Nahen Osten konkret zum Ausdruck gekommen ist. Diese Versammlung
hat die katholischen Gemeinden im Irak und im gesamten Nahen Osten ermutigt, die Gemeinschaft
zu leben und in jenen Ländern weiterhin ein mutiges Glaubenszeugnis zu geben. Von
Herzen danke ich den Regierungen, die sich bemühen, die Leiden dieser Brüder und Schwestern
in ihrer menschlichen Existenz zu lindern, und fordere die Katholiken auf, für ihre
Brüder und Schwestern im Glauben, die unter Gewalt und Intoleranz leiden, zu beten
und sich mit ihnen solidarisch zu zeigen. In diesem Zusammenhang schien mir eine besonders
gute Gelegenheit gegeben, euch allen einige Gedanken über die Religionsfreiheit als
Weg für den Frieden mitzuteilen. Denn es ist schmerzlich festzustellen, daß es in
einigen Regionen der Welt nicht möglich ist, den eigenen Glauben frei zu bekennen
und zum Ausdruck zu bringen, ohne das Leben und die persönliche Freiheit aufs Spiel
zu setzen. In anderen Gebieten existieren lautlosere und raffiniertere Formen von
Vorurteil und Widerstand gegen die Gläubigen und gegen religiöse Symbole. Die Christen
sind gegenwärtig die Religionsgruppe, welche die meisten Verfolgungen aufgrund ihres
Glaubens erleidet. Viele erfahren tagtäglich Beleidigungen und leben oft in Angst
wegen ihrer Suche nach der Wahrheit, wegen ihres Glaubens an Jesus Christus und wegen
ihres offenen Aufrufs zur Anerkennung der Religionsfreiheit. Das kann man alles nicht
dulden, weil es eine Beleidigung Gottes und der Menschenwürde ist; es stellt außerdem
eine Bedrohung für die Sicherheit und den Frieden dar und verhindert eine echte ganzheitliche
Entwicklung des Menschen. In der Religionsfreiheit nämlich findet die Besonderheit
der menschlichen Person, durch die sie das eigene persönliche und gemeinschaftliche
Leben auf Gott hinordnen kann, ihren Ausdruck: Im Licht Gottes versteht man die Identität,
den Sinn und das Ziel der Person vollständig. Diese Freiheit willkürlich zu verweigern
oder zu beschränken bedeutet, eine verkürzende Sicht des Menschen zu haben; die öffentliche
Rolle der Religion zu verdunkeln bedeutet, eine ungerechte Gesellschaft aufzubauen,
da sie nicht im rechten Verhältnis zur wahren Natur der menschlichen Person steht;
dies bedeutet, die Durchsetzung eines echten und dauerhaften Friedens der ganzen Menschheitsfamilie
unmöglich zu machen. Ich fordere daher die Menschen guten Willens auf, den Einsatz
für den Aufbau einer Welt zu erneuern, in der alle frei sind, ihre Religion oder ihren
Glauben zu bekennen und ihre Liebe zu Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und
mit allen Gedanken zu leben (vgl. Mt 22,37). Das ist die Gesinnung, welche die Botschaft
zur Feier des XLIV. Weltfriedenstags, die dem Thema Religionsfreiheit, ein Weg für
den Frieden gewidmet ist, inspiriert und leitet. Das heilige Recht auf Leben
und auf ein religiöses Leben 2. Das Recht auf Religionsfreiheit ist in
der Würde des Menschen selbst verankert, dessen transzendente Natur nicht ignoriert
oder vernachlässigt werden darf. Gott hat Mann und Frau als sein Abbild erschaffen
(vgl. Gen 1,27). Deshalb besitzt jeder Mensch das heilige Recht auf ein ganzheitliches
Leben auch in spiritueller Hinsicht. Ohne die Anerkennung des eigenen geistigen Wesens,
ohne die Öffnung auf das Transzendente hin zieht der Mensch sich auf sich selbst zurück,
kann er keine Antworten auf die Fragen seines Herzens nach dem Sinn des Lebens finden
und keine dauerhaften ethischen Werte und Grundsätze gewinnen, kann er nicht einmal
echte Freiheit erfahren und eine gerechte Gesellschaft entwickeln. Die Heilige
Schrift offenbart in Übereinstimmung mit unserer eigenen Erfahrung den tiefen Wert
der Menschenwürde: „Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die
du befestigt: Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du
dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit
Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk
deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt“ (Ps 8,4-7). Angesichts der erhabenen
Wirklichkeit der menschlichen Natur kann uns das gleiche Staunen überkommen, das der
Psalmist zum Ausdruck bringt. Sie zeigt sich als ein Offensein für das Mysterium,
als die Fähigkeit, den Fragen über sich selbst und über den Ursprung des Universums
auf den Grund zu gehen, als innerer Widerhall der höchsten Liebe Gottes, der Ursprung
und Ziel aller Dinge, eines jeden Menschen und aller Völker ist. Die transzendente
Würde der Person ist ein wesentlicher Wert der jüdisch-christlichen Weisheit, sie
kann aber dank der Vernunft von allen erkannt werden. Diese Würde im Sinn einer Fähigkeit,
die eigene Materialität zu überschreiten und die Wahrheit zu suchen, muß als ein allgemeines
Gut anerkannt werden, das für den Aufbau einer auf die volle Verwirklichung des Menschen
ausgerichteten Gesellschaft unverzichtbar ist. Die Achtung wesentlicher Elemente der
Menschenwürde wie das Recht auf Leben und das Recht auf die Religionsfreiheit ist
eine Bedingung für die moralische Legitimität jeder gesellschaftlichen und rechtlichen
Vorschrift. Religionsfreiheit und gegenseitige Achtung 3. Die
Religionsfreiheit ist der Ausgangspunkt der moralischen Freiheit. Tatsächlich verleiht
das in der menschlichen Natur verwurzelte Offensein für die Wahrheit und das Gute
jedem Menschen volle Würde und gewährleistet den gegenseitigen Respekt zwischen Personen.
Darum ist die Religionsfreiheit nicht nur als Schutz gegenüber Nötigungen zu verstehen,
sondern in erster Linie als Fähigkeit, die eigenen Entscheidungen gemäß der Wahrheit
zu ordnen. Es besteht eine untrennbare Verbindung zwischen Freiheit und Achtung
des anderen: „Die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen sind bei der Ausübung
ihrer Rechte durch das Sittengesetz verpflichtet, sowohl die Rechte der andern wie
auch die eigenen Pflichten den anderen und dem Gemeinwohl gegenüber zu beachten.“
Eine Gott gegenüber feindliche oder gleichgültige Freiheit endet in der Verneinung
ihrer selbst und gewährleistet nicht die vollkommene Achtung gegenüber dem anderen.
Ein Wille, der sich für gänzlich unfähig hält, die Wahrheit und das Gute zu suchen,
hat keine objektiven Gründe noch Motive für sein Handeln außer denen, die seine augenblicklichen
und zufälligen Interessen ihm diktieren; er hat keine „Identität“, die durch wirklich
freie und bewußte Entscheidungen zu schützen und aufzubauen ist. Er kann daher nicht
die Achtung seitens anderer „Willen“ fordern, die sich ebenfalls von ihrem tiefsten
Sein losgelöst haben, die also andere „Gründe“ oder sogar gar keinen „Grund“ geltend
machen können. Die Illusion, im ethischen Relativismus den Schlüssel für ein friedliches
Zusammenleben zu finden, ist in Wirklichkeit der Ursprung von Spaltungen und von Verneinung
der Würde der Menschen. So ist es verständlicherweise notwendig, eine zweifache Dimension
in der Einheit der menschlichen Person anzuerkennen: die religiöse und die soziale.
In diesem Zusammenhang ist es unvorstellbar, daß die Gläubigen „einen Teil von sich
– ihren Glauben – unterdrücken müssen, um aktive Bürger zu sein. Es sollte niemals
erforderlich sein, Gott zu verleugnen, um in den Genuß der eigenen Rechte zu kommen“. Die
Familie, eine Schule der Freiheit und des Friedens 4. Wenn die Religionsfreiheit
ein Weg für den Frieden ist, dann ist die religiöse Erziehung der bevorzugte Weg,
die neuen Generationen zu befähigen, im anderen den eigenen Bruder bzw. die eigene
Schwester zu erkennen, mit denen man gemeinsam vorangehen und zusammenarbeiten muß,
damit alle sich als lebendige Glieder ein und derselben Menschheitsfamilie empfinden,
aus der niemand ausgeschlossen werden darf. Die auf die Ehe gegründete Familie,
Ausdruck inniger Gemeinschaft und gegenseitiger Ergänzung zwischen einem Mann und
einer Frau, fügt sich in diesen Zusammenhang als die erste Schule von Bildung und
von sozialem, kulturellem, moralischem und geistlichem Wachstum der Kinder ein, die
im Vater und in der Mutter stets die ersten Zeugen eines Lebens finden sollten, das
auf die Suche nach der Wahrheit und die Liebe zu Gott ausgerichtet ist. Die Eltern
selbst müßten immer frei sein, ihr Erbe des Glaubens, der Werte und der Kultur ohne
Zwänge und in Verantwortung an ihre Kinder weiterzugeben. Die Familie, die erste Zelle
der menschlichen Gesellschaft, ist der vorrangige Bereich der Erziehung zu harmonischen
Beziehungen auf allen nationalen und internationalen Ebenen menschlichen Zusammenlebens.
Das ist der Weg, der weise eingeschlagen werden muß, um ein solides und solidarisches
gesellschaftliches Gefüge zu schaffen, um die jungen Menschen darauf vorzubereiten,
im Leben ihre Verantwortung zu übernehmen, in einer freien Gesellschaft, in einem
Geist der Verständnisses und des Friedens. Ein gemeinsames Erbe 5. Man
könnte sagen, daß unter den Grundrechten und Grundfreiheiten, die in der Menschenwürde
wurzeln, die Religionsfreiheit einen speziellen Stand besitzt. Wenn die Religionsfreiheit
anerkannt wird, ist die Würde der Person in ihrer Wurzel geachtet und das Ethos sowie
die Institutionen der Völker werden gestärkt. Wenn umgekehrt die Religionsfreiheit
verweigert wird, wenn versucht wird zu verbieten, daß man die eigene Religion oder
den eigenen Glauben bekennt und ihnen gemäß lebt, wird die Würde des Menschen beleidigt,
und mit ihr werden die Gerechtigkeit und der Frieden bedroht, die auf jener rechten,
im Licht des höchsten Wahren und Guten aufgebauten gesellschaftlichen Ordnung basieren. In
diesem Sinne ist die Religionsfreiheit auch eine Errungenschaft politischer und rechtlicher
Kultur. Sie ist ein wesentliches Gut: Jeder Mensch muß frei das Recht wahrnehmen können,
seine Religion oder seinen Glauben als einzelner oder gemeinschaftlich zu bekennen
und auszudrücken, sowohl öffentlich als auch privat, im Unterricht, in Bräuchen, in
Veröffentlichungen, im Kult und in der Befolgung der Riten. Er dürfte nicht auf Hindernisse
stoßen, falls er sich eventuell einer anderen Religion anschließen oder gar keine
Religion bekennen wollte. In diesem Bereich erweist sich die internationale Ordnung
als bedeutungsvoll und ist ein wesentlicher Bezugspunkt für die Staaten, da sie keinerlei
Ausnahme von der Religionsfreiheit gestattet, außer dem legitimen Bedürfnis der öffentlichen
Ordnung, die auf der Gerechtigkeit beruht. Auf diese Weise erkennt die internationale
Ordnung den Rechten religiöser Natur den gleichen Status zu wie dem Recht auf Leben
und auf persönliche Freiheit, womit sie deren Zugehörigkeit zum wesentlichen Kern
der Menschenrechte beweist, zu jenen universalen und natürlichen Rechten, die das
menschliche Gesetz niemals verweigern darf. Die Religionsfreiheit ist nicht ausschließliches
Erbe der Gläubigen, sondern der gesamten Familie der Völker der Erde. Sie ist ein
unabdingbares Element eines Rechtsstaates; man kann sie nicht verweigern, ohne zugleich
alle Grundrechte und -freiheiten zu verletzen, da sie deren Zusammenfassung und Gipfel
ist. Sie ist „eine Art ‚Lackmustest‘ für die Achtung aller weiteren Menschenrechte“.
Während sie die Ausübung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten fördert, schafft
sie die nötigen Voraussetzungen für die Verwirklichung einer ganzheitlichen Entwicklung,
die einheitlich die Ganzheit der Person in allen ihren Dimensionen betrifft. Die
öffentliche Dimension der Religion 6. Obschon die Religionsfreiheit wie
jede Freiheit von der persönlichen Sphäre ausgeht, verwirklicht sie sich in der Beziehung
zu den anderen. Eine Freiheit ohne Beziehung ist keine vollendete Freiheit. Auch die
Religionsfreiheit erschöpft sich nicht in der rein individuellen Dimension, sondern
sie verwirklicht sich in der eigenen Gemeinschaft und in der Gesellschaft, in Übereinstimmung
mit dem relationalen Wesen der Person und mit der öffentlichen Natur der Religion. Der
relationale Charakter ist eine entscheidende Komponente der Religionsfreiheit, die
die Gemeinschaften der Gläubigen zur Solidarität für das Gemeinwohl drängt. In dieser
gemeinschaftlichen Dimension bleibt jeder Mensch einzig und unwiederholbar, und zugleich
vollendet und verwirklicht er sich ganz. Der Beitrag, den die religiösen Gemeinschaften
für die Gesellschaft leisten, ist unbestreitbar. Zahlreiche karitative und kulturelle
Einrichtungen bestätigen die konstruktive Rolle der Gläubigen für das gesellschaftliche
Leben. Noch bedeutender ist der ethische Beitrag der Religion im politischen Bereich.
Er sollte nicht marginalisiert oder verboten, sondern als wertvolle Unterstützung
zur Förderung des Gemeinwohls verstanden werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch
die religiöse Dimension der Kultur zu erwähnen, die über die Jahrhunderte hin durch
die sozialen und vor allem ethischen Beiträge der Religion entwickelt wurde. Diese
Dimension stellt keinesfalls eine Diskriminierung derer dar, die ihre Glaubensinhalte
nicht teilen, sondern sie stärkt vielmehr den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die
Integration und die Solidarität. Religionsfreiheit, eine Kraft der Freiheit
und der Zivilisation: die Gefahren ihrer Instrumentalisierung 7. Die
Instrumentalisierung der Religionsfreiheit zur Verschleierung geheimer Interessen
– wie zum Beispiel der Umsturz der konstituierten Ordnung, das Horten von Ressourcen
oder die Erhaltung der Macht durch eine Gruppe – kann der Gesellschaft ungeheuren
Schaden zufügen. Fanatismus, Fundamentalismus und Handlungen, die gegen die Menschenrechte
verstoßen, können niemals gerechtfertigt werden, am wenigsten, wenn sie im Namen der
Religion geschehen. Das Bekenntnis einer Religion darf nicht instrumentalisiert, noch
mit Gewalt aufgezwungen werden. Die Staaten und die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften
dürfen also niemals vergessen, daß die Religionsfreiheit die Voraussetzung für die
Suche nach der Wahrheit ist und daß sich die Wahrheit nicht mit Gewalt durchsetzt,
sondern „kraft der Wahrheit selbst“. In diesem Sinne ist die Religion eine positive
und treibende Kraft für den Aufbau der zivilen und der politischen Gesellschaft. Wie
könnte man den Beitrag der großen Weltreligionen zur Entwicklung der Zivilisation
leugnen? Die aufrichtige Suche nach Gott hat zu einer vermehrten Achtung der Menschenwürde
geführt. Die christlichen Gemeinschaften haben mit ihrem Erbe an Werten und Grundsätzen
erheblich dazu beigetragen, daß Menschen und Völker sich ihrer eigenen Identität und
ihrer Würde bewußt wurden, und ebenso sind sie an der Errungenschaft demokratischer
Einrichtungen sowie an der Festschreibung der Menschenrechte und der entsprechenden
Pflichten beteiligt. Auch heute, in einer zunehmend globalisierten Gesellschaft,
sind die Christen berufen, nicht allein mit einem verantwortlichen zivilen, wirtschaftlichen
und politischen Engagement, sondern auch mit dem Zeugnis der eigenen Nächstenliebe
und des persönlichen Glaubens einen wertvollen Beitrag zu leisten zum mühsamen und
erhebenden Einsatz für die Gerechtigkeit, für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen
und für die rechte Ordnung der menschlichen Angelegenheiten. Die Ausschließung der
Religion aus dem öffentlichen Leben entzieht diesem einen lebenswichtigen Bereich,
der offen ist für die Transzendenz. Ohne diese Grunderfahrung ist es schwierig, die
Gesellschaften auf allgemeine ethische Grundsätze hin zu orientieren, und kaum möglich,
nationale und internationale Richtlinien aufzustellen, in denen die Grundrechte und
-freiheiten vollständig anerkannt und verwirklicht werden können, entsprechend den
– leider immer noch unbeachteten oder bestrittenen – Zielsetzungen der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte von 1948. Eine Frage der Gerechtigkeit und
der Zivilisation: Der Fundamentalismus und die Feindseligkeit gegenüber
Gläubigen beeinträchtigen die positive Laizität der Staaten 8. Mit der
gleichen Entschiedenheit, mit der alle Formen von Fanatismus und religiösem Fundamentalismus
verurteilt werden, muß auch allen Formen von Religionsfeindlichkeit, die die öffentliche
Rolle der Gläubigen im zivilen und politischen Leben begrenzen, entgegengetreten werden. Man
darf nicht vergessen, daß der religiöse Fundamentalismus und der Laizismus spiegelbildlich
einander gegenüberstehende extreme Formen der Ablehnung des legitimen Pluralismus
und des Prinzips der Laizität sind. Beide setzen nämlich eine einengende und partielle
Sicht des Menschen absolut, indem sie im ersten Fall Formen von religiösem Integralismus
und im zweiten von Rationalismus unterstützen. Die Gesellschaft, die die Religion
gewaltsam aufzwingen oder – im Gegenteil – verbieten will, ist ungerecht gegenüber
dem Menschen und Gott, aber auch gegenüber sich selbst. Gott ruft die Menschheit zu
sich mit einem Plan der Liebe, der den ganzen Menschen in seiner natürlichen und geistlichen
Dimension einbezieht und zugleich eine Antwort in Freiheit und Verantwortung erwartet,
die aus ganzem Herzen und mit der ganzen individuellen und gemeinschaftlichen Existenz
gegeben wird. So muß also auch die Gesellschaft, insofern sie Ausdruck der Person
und der Gesamtheit der sie grundlegenden Dimensionen ist, so leben und sich organisieren,
daß sie das Sich-öffnen auf die Transzendenz hin begünstigt. Genau aus diesem Grund
dürfen die Gesetze und die Institutionen einer Gesellschaft nicht so gestaltet sein,
daß sie die religiöse Dimension der Bürger nicht beachten oder gänzlich von ihr absehen.
Durch das demokratische Wirken von Bürgern, die sich ihrer hohen Berufung bewußt sind,
müssen die Gesetze und Institutionen dem Wesen des Menschen angepaßt werden, damit
sie ihn in seiner religiösen Dimension unterstützen können. Da diese kein Werk des
Staates ist, kann sie nicht manipuliert werden, sondern muß vielmehr anerkannt und
respektiert werden. Wenn die Rechtsordnung – sei es auf nationaler oder internationaler
Ebene – den religiösen oder antireligiösen Fanatismus zuläßt oder toleriert, kommt
sie ihrer Aufgabe nicht nach, die Gerechtigkeit und das Recht eines jeden zu schützen
und zu fördern. Diese Wirklichkeiten können nicht der Willkür des Gesetzgebers oder
der Mehrheit ausgesetzt werden, denn – wie schon Cicero lehrte – die Rechtsprechung
besteht aus mehr als einer bloßen Schaffung des Gesetzes und seiner Anwendung. Sie
schließt ein, jedem seine Würde zuzuerkennen. Und diese ist ohne garantierte und in
ihrem Wesen gelebte Religionsfreiheit verstümmelt und verletzt, der Gefahr ausgesetzt,
unter die Vorherrschaft von Götzen, von relativen Gütern zu geraten, die absolut gesetzt
werden. All das bringt die Gesellschaft in die Gefahr von politischen und ideologischen
Totalitarismen, welche die öffentliche Macht nachdrücklich betonen, während die Gewissensfreiheit,
die Freiheit des Denkens und die Religionsfreiheit, als wären sie Konkurrenten, Beeinträchtigungen
oder Zwang erleiden. Der Dialog zwischen zivilen und religiösen Institutionen
9. Das Erbe an Grundsätzen und an Werten, die durch eine authentische
Religiosität zum Ausdruck kommen, ist ein Reichtum für die Völker und ihr Ethos. Es
spricht unmittelbar das Gewissen und die Vernunft der Menschen an, erinnert an das
Gebot der moralischen Umkehr, motiviert dazu, die Tugenden zu üben und im Zeichen
der Brüderlichkeit als Glieder der großen Menschheitsfamilie einander in Liebe zu
begegnen. Unter Berücksichtigung der positiven Laizität der staatlichen Institutionen
muß die öffentliche Dimension der Religion immer anerkannt werden. Zu diesem Zweck
ist ein gesunder Dialog zwischen den zivilen und den religiösen Institutionen für
die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und der Eintracht der Gesellschaft von
grundlegender Bedeutung. In der Liebe und der Wahrheit leben 10. In
der globalisierten Welt, die von zunehmend multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften
gekennzeichnet ist, können die großen Religionen einen wichtigen Faktor der Einheit
und des Friedens für die Menschheitsfamilie darstellen. Auf der Basis der eigenen
religiösen Überzeugungen und der rationalen Suche nach dem Gemeinwohl sollen ihre
Anhänger verantwortungsvoll ihren eigenen Einsatz in einem Umfeld der Religionsfreiheit
ausüben. Es ist notwendig, in den verschiedenen religiösen Kulturen das zu beherzigen,
was sich für das zivile Miteinander als positiv erweist, während alles der Würde des
Menschen Entgegenstehende verworfen werden muß. Der öffentliche Raum, den die internationale
Gemeinschaft den Religionen und ihrem Angebot eines „guten Lebens“ zur Verfügung stellt,
fördert das Hervortreten eines gemeinsam geteilten Maßstabs der Wahrheit und des Guten
wie auch einen moralischen Konsens – beides Dinge, die für ein gerechtes und friedvolles
Miteinander grundlegend sind. Die Leader der großen Religionen sind wegen ihrer Rolle,
ihres Einflusses und ihrer Autorität in ihren eigenen Gemeinschaften als erste zum
gegenseitigen Respekt und zum Dialog angehalten. Die Christen ihrerseits werden
vom Glauben an Gott selbst, dem Vater des Herrn Jesus Christus, dazu aufgefordert,
als Brüder und Schwestern zu leben, die in der Kirche zusammenkommen und am Aufbau
einer neuen Welt mitarbeiten, der prophetischen Vorwegnahme der Reiches Gottes, wo
die Menschen und Völker „nichts Böses mehr tun und kein Verbrechen begehen […]; denn
das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt
ist“ (vgl. Jes 11,9). Dialog als gemeinsame Suche 11. Für die
Kirche stellt der Dialog zwischen den Anhängern verschiedener Religionen ein wichtiges
Werkzeug dar, um mit allen Religionsgemeinschaften zum Gemeinwohl zusammenzuarbeiten.
Die Kirche selbst lehnt nichts von alledem ab, was in den verschiedenen Religionen
wahr und heilig ist. „Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen,
jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber
für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen,
die alle Menschen erleuchtet.“ Der aufgezeigte Weg ist nicht der des Relativismus
oder des religiösen Synkretismus. Denn die Kirche „verkündet und sie muß verkündigen
Christus, der ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ ist (Joh 14,6), in dem die Menschen
die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat“.
Dies schließt jedoch den Dialog und die gemeinsame Suche nach der Wahrheit in verschiedenen
Lebensumfeldern nicht aus, da nämlich, wie ein vom heiligen Thomas von Aquin oft gebrauchtes
Wort sagt, „jede Wahrheit, von wem auch immer sie vorgebracht wird, vom Heiligen Geist
kommt“. Im Jahr 2011 begehen wir den 25. Jahrestag des Weltgebetstages für den
Frieden, zu dem Papst Johannes Paul II. 1986 nach Assisi eingeladen hatte. Damals
haben die Leader der großen Weltreligionen Zeugnis davon gegeben, daß die Religion
ein Faktor der Einheit und des Friedens und nicht der Trennung und des Konflikts ist.
Die Erinnerung an diese Erfahrung ist Grund zur Hoffnung auf eine Zukunft, in der
alle Gläubigen sich als Arbeiter für die Gerechtigkeit und Friedensstifter sehen und
wirklich zu solchen machen. Moralische Wahrheit in Politik und Diplomatie 12. Die
Politik und die Diplomatie sollten auf das von den großen Weltreligionen angebotene
moralische und geistige Erbe schauen, um die Wahrheit sowie die allgemeinen Prinzipien
und Werte zu erkennen und zu vertreten, die nicht geleugnet werden können, ohne damit
auch die Würde des Menschen zu leugnen. Was heißt aber, praktisch gesprochen, die
moralische Wahrheit in der Welt der Politik und der Diplomatie zu fördern? Es bedeutet,
auf der Basis der objektiven und vollständigen Kenntnis der Fakten verantwortungsvoll
zu handeln; es bedeutet, politische Ideologien aufzubrechen, die die Wahrheit und
die Würde des Menschen letztlich verdrängen und unter dem Vorwand des Friedens, der
Entwicklung und der Menschenrechte Pseudo-Werte fördern wollen; es bedeutet, ein ständiges
Bemühen zu fördern, das positive Recht auf die Prinzipien des Naturrechts zu gründen.
Das alles ist notwendig und hängt mit der Achtung der Würde und des Wertes der menschlichen
Person zusammen, wie sie die Völker der Erde in der Charta der Organisation der Vereinten
Nationen von 1945 festgelegt haben, welche die Werte und allgemeinen moralischen Prinzipien
als Maßstab für die Normen, Einrichtungen und Systeme des Miteinanders auf nationaler
und internationaler Ebene darlegt. Jenseits von Haß und Vorurteil 13. Trotz
der Lehren der Geschichte und der Anstrengungen der Staaten, der internationalen Organisationen
auf Welt- und Ortsebene, der Nichtregierungsorganisationen und aller Menschen guten
Willens, die sich jeden Tag für den Schutz der Grundrechte und -freiheiten einsetzen,
sind heute noch in der Welt Verfolgungen, Diskriminierungen, Akte der Gewalt und Intoleranz
aus religiösen Gründen zu verzeichnen. Insbesondere in Asien und Afrika sind die Opfer
hauptsächlich Angehörige der religiösen Minderheiten, die daran gehindert werden,
die eigene Religion frei zu bekennen oder sie zu wechseln, und zwar durch Einschüchterung
und Verletzung der Grundrechte, der Grundfreiheiten und der notwendigen Güter bis
hin zur Beraubung der persönlichen Freiheit oder zum Verlust des Lebens selbst. Es
gibt dann – wie ich bereits festgestellt habe – raffiniertere Formen der Feindseligkeit
gegenüber der Religion, die in den westlichen Ländern mitunter in der Verleugnung
der Geschichte und der religiösen Symbole, die die Identität und die Kultur der Mehrheit
der Bürger widerspiegeln, zum Ausdruck gebracht werden. Oft fachen sie Haß und Vorurteile
an und stehen nicht im Einklang mit einer sachlichen und ausgewogenen Sicht des Pluralismus
und der Laizität der Institutionen, ohne zu beachten, daß die jungen Generationen
Gefahr laufen, mit dem wertvollen geistigen Erbe ihrer Länder nicht in Berührung zu
kommen. Die Verteidigung der Religion verläuft über die Verteidigung der Rechte
und Freiheiten der Religionsgemeinschaften. Die Leader der großen Weltreligionen und
die Verantwortlichen der Nationen mögen daher ihr Bemühen um die Förderung und den
Schutz der Religionsfreiheit erneuern, insbesondere um die Verteidigung der religiösen
Minderheiten, die keine Gefahr für die Identität der Mehrheit darstellen, sondern,
im Gegenteil, eine Gelegenheit zum Dialog und zur gegenseitigen kulturellen Bereicherung.
Ihre Verteidigung ist die ideale Art und Weise, den Geist des Wohlwollens, der Offenheit
und der Gegenseitigkeit zu stärken, mit dem die Grundrechte und -freiheiten in allen
Gebieten und Regionen der Welt geschützt werden können. Die Religionsfreiheit
in der Welt 14. Ich wende mich schließlich den christlichen Gemeinschaften
zu, die unter Verfolgung, Diskriminierung, Akten der Gewalt und der Intoleranz leiden,
insbesondere in Asien, in Afrika, im Nahen Osten und besonders im Heiligen Land, dem
von Gott auserlesenen und gesegneten Ort. Während ich ihnen meine väterliche Zuneigung
erneuere und sie meines Gebetes versichere, bitte ich alle Verantwortlichen um schnelles
Handeln, um jeden Übergriff auf Christen zu beenden, die in jenen Gebieten leben.
Die Jünger Christi mögen angesichts der gegenwärtigen Widrigkeiten nicht den Mut verlieren,
denn das Zeugnis des Evangeliums ist und wird immer ein Zeichen des Widerspruchs sein. Betrachten
wir in unserem Herzen die Worte Jesu: „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet
werden. [...] Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden
satt werden. [...] Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt
und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im
Himmel wird groß sein“ (Mt 5,4-12). Erneuern wir nun „die übernommene Verpflichtung
zur Nachsicht und zum Verzeihen, die wir im Vater unser von Gott erbitten, wo wir
selbst die Bedingung und das Maß des ersehnten Erbarmens festlegen, wenn wir nämlich
beten: ‚Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‘ (Mt 6,12)“.
Gewalt wird nicht mit Gewalt überwunden. Unser Schmerzensschrei soll immer vom Glauben,
von der Hoffnung und vom Zeugnis der Liebe Gottes begleitet werden. Ich drücke auch
meine Hoffnung aus, daß im Westen, besonders in Europa, die Feindschaft und die Vorurteile
gegen Christen aufhören, die darauf beruhen, daß sie ihr eigenes Leben in einer konsequenten
Weise nach den Werten und den Grundsätzen ausrichten wollen, wie sie im Evangelium
zum Ausdruck gebracht sind. Europa möge sich vielmehr mit seinen eigenen christlichen
Wurzeln wiederversöhnen, die grundlegend sind, um die Rolle zu begreifen, die es gehabt
hat, die es hat und die es in der Geschichte haben will. So wird es auf Gerechtigkeit,
Eintracht und Frieden hoffen können, wenn es einen ernsthaften Dialog mit allen Völkern
pflegt. Religionsfreiheit, ein Weg für den Frieden 15. Die Welt
braucht Gott. Sie braucht ethische und geistliche Werte, die allgemein geteilt werden.
Und die Religion kann bei dieser Suche einen wertvollen Beitrag für den Aufbau einer
gerechten und friedlichen sozialen Ordnung auf nationaler und internationaler Ebene
leisten. Der Friede ist ein Geschenk Gottes und zugleich ein Plan, der realisiert
werden muß und nie ganz vollendet ist. Eine mit Gott versöhnte Gesellschaft ist näher
am Frieden, der nicht einfach das Fehlen von Krieg, nicht bloß Frucht militärischer
oder wirtschaftlicher Vorherrschaft und noch weniger täuschender Irreführung oder
geschickter Manipulationen ist. Der Friede ist hingegen das Ergebnis eines Prozesses
der Reinigung und des kulturellen, moralischen und geistlichen Fortschritts einer
jeden Person und eines jeden Volkes, in dem die menschliche Würde vollkommen geachtet
wird. Alle, die Mitarbeiter des Friedens werden wollen, und besonders die Jugendlichen
lade ich ein, auf ihre innere Stimme zu hören, um in Gott den festen Bezugspunkt für
den Gewinn echter Freiheit und die unerschöpfliche Kraft zu finden, um die Welt mit
einem neuen Geist auszurichten, der befähigt, die Fehler der Vergangenheit nicht zu
wiederholen. Papst Paul VI., dessen Weisheit und Weitblick die Einrichtung des Weltfriedenstags
zu verdanken ist, lehrt: „Man muß dem Frieden vor allem andere Waffen geben als jene,
die zum Töten und Vernichten der Menschheit bestimmt sind. Man braucht vor allem moralische
Waffen, die dem internationalen Recht Kraft und Geltung verschaffen; zuallererst jene
zur Einhaltung der Verträge.“ Die Religionsfreiheit ist eine echte Waffe des Friedens
mit einer geschichtlichen und prophetischen Mission. Sie bringt in der Tat die tiefsten
Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen, die die Welt verändern und verbessern
können, zur Geltung und macht sie fruchtbar. Sie erlaubt, die Hoffnung auf eine Zukunft
der Gerechtigkeit und des Friedens zu nähren, auch gegenüber den schweren Ungerechtigkeiten
sowie den materiellen und moralischen Nöten. Auf daß alle Menschen und die Gesellschaften
auf allen Ebenen und in jedem Teil der Erde bald die Religionsfreiheit als Weg für
den Frieden erfahren können!