Verbum Domini: „Das
Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit“. Mit diesem Satz aus dem Ersten Petrusbrief stehen
wir vor dem Geheimnis Gottes, der sich durch das Geschenk seines Wortes mitteilt.
Ich möchte einige Grundlinien für eine Wiederentdeckung des göttlichen Wortes – Quelle
ständiger Erneuerung – im Leben der Kirche aufzeigen. Und ich rufe alle Gläubigen
auf, die persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Christus, dem sichtbar gewordenen
Wort des Lebens, neu zu entdecken und ihn zu verkünden.
In einer Welt, die
Gott oft als überflüssig oder fremd empfindet, bekennen wir wie Petrus, daß nur er
»Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68) hat. Es gibt keine größere Priorität als diese:
dem Menschen von heute den Zugang zu Gott wieder zu öffnen, zu dem Gott, der spricht.
(Es gilt) wiederzuentdecken, was wir im Alltag allzuleicht als selbstverständlich
voraussetzen: daß Gott redet, daß er antwortet auf unser Fragen. (Allerdings können
wir) unsere Beziehung zum Wort Gottes nur innerhalb des »Wir« der Kirche vertiefen,
im Hören aufeinander und in der gegenseitigen Annahme. Die Bibel darf nicht ein Wort
der Vergangenheit bleiben, sondern muss als lebendiges und aktuelles Wort wahrgenommen
werden.
Das Neue der biblischen Offenbarung besteht darin, daß Gott sich im
Dialog zu erkennen gibt, den er mit uns führen möchte. »Gott ist die Liebe« (1
Joh 4,16), sagt der Apostel Johannes und kennzeichnet damit das christliche Gottesbild
und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges. Als Abbild Gottes,
der die Liebe ist, können wir also uns selbst nur in der Annahme des Wortes verstehen.
Im Licht der Offenbarung klärt sich das Rätsel des menschlichen Daseins endgültig.
Das
Heil des Menschen ist der Beweggrund aller Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen
Gesichtspunkt her betrachten, entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch
innerhalb der Schöpfung einnimmt. So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer
erhalten haben, in ihrer ganzen Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die
Gabe der Vernunft, der Freiheit und des Gewissens.
Wer das göttliche Wort
kennt, kennt auch die tiefste Bedeutung eines jeden Geschöpfs. Das Wort Gottes drängt
uns zu einer Änderung unseres Begriffs von Realismus: Realist ist der, der im Wort
Gottes das Fundament von allem erkennt. Das brauchen wir besonders in unserer Zeit,
in der viele Dinge, auf die man für den Aufbau des Lebens vertraut und seine Hoffnung
zu setzen sucht ist, ihr vergängliches Wesen offenbaren. Haben, Genuß und Macht erweisen
sich früher oder später als unfähig, das tiefste Verlangen des menschlichen Herzens
zu stillen. »Herr, dein Wort bleibt auf ewig, es steht fest wie der Himmel« (Ps 119).
Das ewige Wort ist in Christus ein Mensch geworden, »geboren von einer Frau«
(Gal 4,4). Hier stehen wir vor der Person Jesu selbst. Seine einzigartige Geschichte
ist das endgültige Wort, das Gott zur Menschheit spricht. Von da aus versteht man,
warum am Anfang des Christseins … nicht ein ethischer Entschluß oder eine große
Idee [steht], sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem
Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.
Das
ewige Wort hat sich klein gemacht – so klein, daß es in eine Krippe paßte. Die Sendung
Jesu findet ihre Erfüllung im Ostergeheimnis: Das Wort verstummt, wird zur Totenstille,
denn es hat sich »ausgesagt« bis hin zum Schweigen, ohne irgendetwas zurückzuhalten,
was es uns mitteilen sollte.
Die christliche Heilsordnung, nämlich der neue
und endgültige Bund, ist unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung
mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit
(vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13). Er ist das einzige und endgültige Wort, das der Menschheit
gegeben wurde.
Man kann den Sinn des Wortes nicht erfassen, wenn man das Wirken
des Heiligen Geistes in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen nicht annimmt.
Letztendlich ist es die lebendige Überlieferung der Kirche, die uns die Heilige Schrift
als Wort Gottes angemessen verstehen läßt. Ein Schlüsselbegriff, der dazu dient, die
Heilige Schrift als Wort Gottes in menschlichen Worten zu erfassen, ist die Inspiration.
Auch hier kann man eine Analogie anführen: So wie das Wort Gottes im Schoß der Jungfrau
Maria Fleisch geworden ist durch das Wirken des Heiligen Geistes, wird die Heilige
Schrift durch das Wirken desselben Geistes im Schoß der Kirche geboren. So erkennt
man die ganze Bedeutung des menschlichen Autors, der die inspirierten Texte geschrieben
hat, und gleichzeitig Gott selbst als den wahren Autor.
Eine adäquate Annäherung
an die Schrift und ihre korrekte Hermeneutik muß in demselben Geist geschehen, in
dem sie geschrieben wurde. Wenn in uns das Bewußtsein für die Inspiration abnimmt,
dann besteht die Gefahr, die Schrift als Objekt historischen Interesses zu lesen und
nicht als Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine
Gegenwart in der Geschichte erfahren können. Es ist ein grundlegendes Kriterium der
Bibelhermeneutik, dass das Leben der Kirche der ursprüngliche Ort der Schriftauslegung
ist. Dies verweist auf den kirchlichen Bezug nicht als äußeres Kriterium, dem die
Exegeten sich beugen müssen, sondern es ist eine Erfordernis, das in der Schrift selbst
und in der Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, liegt. Das richtige
Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung
zu dem hat, wovon der Text spricht.
Natürlich muß der Nutzen anerkannt werden,
der dem Leben der Kirche aus der historischkritischen Exegese und den anderen Methoden
der Textanalyse, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, erwachsen ist. Für die katholische
Sichtweise der Heiligen Schrift ist die Berücksichtigung dieser Methoden unverzichtbar.
Die Heilsgeschichte ist keine Mythologie, sondern wirkliche Geschichte und muß deshalb
mit den Methoden ernsthafter Geschichtswissenschaft untersucht werden. Das Zweite
Vatikanische Konzil führt drei grundlegende Kriterien an, die dazu dienen, die göttliche
Dimension der Bibel zu berücksichtigen: 1) Auslegung des Textes mit Rücksicht auf
die Einheit der ganzen Schrift – das wird heute kanonische Exegese genannt, 2) Berücksichtigung
der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche, und schließlich 3) Beachtung der Analogie
des Glaubens. Nur dort, wo beide methodologische Ebenen, die historisch-kritische
und die theologische, berücksichtigt werden, kann man von einer theologischen Exegese
sprechen, die der Heiligen Schrift angemessen ist. Ein wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung
einer angemessenen Schrifthermeneutik ergibt sich aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter
und ihren exegetischen Ansatz.
Gewiß, unter rein geschichtlichem oder literarischem
Gesichtspunkt ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Sammlung literarischer
Texte, deren Abfassung sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte und deren einzelne
Bücher nicht leicht als Teile einer inneren Einheit erkennbar sind; es bestehen sogar
sichtbare Spannungen zwischen ihnen. Doch die Person Christi gibt allen »Schriften«
in dem Bezug auf das eine »Wort« Einheit. Die innere Einheit der ganzen Bibel ist
ein entscheidendes Kriterium für eine korrekte Hermeneutik des Glaubens.
Papst
Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere „bevorzugten Brüder“ im
Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«. Natürlich bedeuten diese Worte keine Absage
an den Bruch, von dem das Neue Testament in bezug auf die Institutionen des Alten
Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis
Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale
Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft. Das Beispiel
des hl. Paulus (vgl. Röm 9-11) zeigt im Gegenteil, daß eine Haltung des Respekts,
der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk … die einzige wirklich christliche
Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation [ist], die in geheimnisvoller Weise
Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist. Wir nähren uns aus denselben spirituellen
Wurzeln. Wir begegnen einander als Brüder – Brüder, die in gewissen Augenblicken ihrer
Geschichte ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, sich aber jetzt fest entschlossen
darum bemühen, Brücken beständiger Freundschaft zu bauen. Ich möchte noch einmal bekräftigen,
wie wertvoll für die Kirche der Dialog mit den Juden ist.
Wer den biblischen
Text so behandelt, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre,
sieht nicht, daß das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden
ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Die wahre Antwort auf
eine fundamentalistische Interpretation ist die »Auslegung der Heiligen Schrift im
Glauben«.
Mit Blick auf die Ökumene sind wir überzeugt, daß das gemeinsame
Hören und Meditieren der Schrift uns eine reale, wenn auch noch nicht volle Gemeinschaft
leben läßt. Es ist daher gut, unter Wahrung der geltenden Normen und der verschiedenen
Traditionen die ökumenischen Wortgottesdienste zu vermehren. Diese liturgischen Feiern
nutzen der Ökumene. Es muß jedoch darauf geachtet werden, daß sie den Gläubigen nicht
als Ersatz für die Teilnahme an der Heiligen Messe angeboten werden.
Bekanntlich
wird das Evangelium vom Priester oder vom Diakon verkündet, die Erste und Zweite Lesung
hingegen in der lateinischen Tradition vom damit beauftragten Lektor, einem Mann oder
einer Frau. Die mit dieser Aufgabe betrauten Lektoren müssen, auch wenn sie nicht
die Beauftragung erhalten haben, wirklich dafür geeignet und gut vorbereitet sein.
Die Synode hat auch den Wunsch geäußert, daß sich das Stundengebet im Gottesvolk stärker
verbreiten möge, besonders das Gebet der Laudes und der Vesper. Die Synodenväter haben
alle Hirten aufgefordert, in den ihnen anvertrauten Gemeinden die Wort-Gottes-Feiern
zu verbreiten: vor allem in jenen Gemeinden, in denen es aufgrund des Priestermangels
nicht möglich ist, an den gebotenen Feiertagen das eucharistische Opfer zu feiern.
Ich empfehle, daß von den zuständigen Autoritäten Direktorien für deren Riten verfaßt
werden, die sich die Erfahrung der Teilkirchen zunutze machen. Auf solche Weise sollen
in diesen Situationen Wort-Gottes-Feiern gefördert werden, die den Glauben der Gemeinde
nähren, wobei jedoch vermieden wird, daß sie mit Eucharistiefeiern verwechselt werden;
sie sollten vielmehr bevorzugte Gelegenheiten sein, zu Gott zu beten, daß er heilige
Priester nach seinem Herzen sende.
Die Synode hat außerdem noch einmal nachdrücklich
bekräftigt, daß die der Heiligen Schrift entnommenen Lesungen nie durch andere Texte
ersetzt werden dürfen, so bedeutsam diese vom pastoralen oder geistlichen Gesichtspunkt
aus auch sein mögen: Kein Text der Spiritualität oder der Literatur kann den Wert
und den Reichtum erlangen, der in der Heiligen Schrift, dem Wort Gottes, enthalten
ist. Man sollte die „biblische Pastoral“ nicht neben anderen Formen der Pastoral,
sondern als Seele der ganzen Pastoral fördern. Dort, wo die Gläubigen nicht zu einer
Bibelkenntnis gemäß dem Glauben der Kirche und im Schoß ihrer lebendigen Überlieferung
herangebildet werden, entsteht ein pastorales Vakuum, in dem unter anderem Sekten
Boden finden können, um Wurzeln zu schlagen. Das Bibelapostolat muß verstärkt werden.
Die Synode wünscht, daß jedes Haus seine Bibel haben möge und sie in würdiger Weise
aufbewahre, um in ihr lesen und mit ihr beten zu können.
Die Synodenväter
haben an die glückliche Formulierung erinnert, die das Heilige Land als »das fünfte
Evangelium«bezeichnet. Wie wichtig ist es doch, daß es in jener Gegend christliche
Gemeinden gibt, trotz aller Schwierigkeiten! Die Bischofssynode bringt allen Christen,
die im Land Jesu leben und den Glauben an den Auferstandenen bezeugen, ihre zutiefst
empfundene Nähe zum Ausdruck. Hier sind die Christen aufgerufen, nicht nur ein Lichtstrahl
des Glaubens für die universale Kirche zu sein, sondern auch Sauerteig der Eintracht,
der Weisheit und des Gleichgewichts im Leben einer Gesellschaft, die traditionell
stets pluralistisch, multiethnisch und multireligiös war und dies auch weiterhin ist«.
DieKirche ist ihrem Wesen nach missionarisch. Wir können die Worte des ewigen
Lebens, die uns in der Begegnung mit Jesus Christus geschenkt werden, nicht für uns
behalten: Sie sind an alle, an einen jeden Menschen gerichtet. Jeder Mensch unserer
Zeit, ob er es weiß oder nicht, braucht diese Verkündigung. Der Herr selbst erwecke,
wie zur Zeit des Propheten Amos, bei den Menschen neuen Hunger und neuen Durst nach
einem Wort des Herrn (vgl. Am 8,11). Wir haben die Verantwortung, das weiterzugeben,
was wir unsererseits aus Gnade empfangen haben. Alle Getauften sind für die Verkündigung
verantwortlich. Kein Christgläubiger darf sich von dieser Verantwortung entbunden
fühlen. Dieses Bewußtsein muß in jeder Pfarrei, Gemeinschaft, Vereinigung und kirchlichen
Bewegung neu erweckt werden.
Die Diakonie der Nächstenliebe, die in unseren
Kirchen niemals fehlen darf, muß stets an die Verkündigung des Wortes und an die
Feier der heiligen Geheimnisse geknüpft sein. Zugleich muß anerkannt und hervorgehoben
werden, daß die Armen selbst auch Träger der Evangelisierung sind. In der Bibel ist
der wahre Arme derjenige, der ganz auf Gott vertraut, und Jesus selbst bezeichnet
sie im Evangelium als selig, »denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,3; vgl. Lk
6,20). Die Kirche darf die Armen nicht enttäuschen: Die Hirten sind aufgerufen, ihnen
zuzuhören, von ihnen zu lernen, sie in ihrem Glauben zu leiten und sie zu ermutigen,
ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Indem die Offenbarung uns den Plan
Gottes für den Kosmos kundtut, veranlaßt sie uns auch, falsche Haltungen des Menschen
anzuprangern, wenn dieser die Dinge nicht als Abglanz des Schöpfers erkennt, sondern
sie als reine Materie betrachtet, die skrupellos manipuliert werden kann. In diesem
Fall fehlt dem Menschen jene wesentliche Demut, die es ihm erlaubt, die Schöpfung
als Geschenk Gottes anzuerkennen, das nach dessen Plan angenommen und gebraucht werden
muß. Die Anmaßung des Menschen, der so lebt, als gäbe es Gott nicht, führt im Gegenteil
dazu, die Natur auszubeuten und zu entstellen, weil er in ihr nicht das Werk des Schöpferwortes
wahrnimmt.
Wir anerkennen, daß in der Überlieferung des Islam viele biblische
Gestalten, Symbole und Themen vorhanden sind. Ich wünsche, daß die vor vielen Jahren
geknüpften vertrauensvollen Beziehungen zwischen Christen und Muslimen fortbestehen
und sich in einem Geist des aufrichtigen und respektvollen Dialogs weiterentwickeln.
Die Synode hat den Wunsch geäußert, daß in diesem Dialog die Achtung vor dem Leben
als Grundwert, die unveräußerlichen Rechte des Mannes und der Frau und ihre gleiche
Würde vertieft werden mögen. Unter Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen sozio-politischer
Ordnung und religiöser Ordnung müssen die Religionen ihren Beitrag zum Gemeinwohl
leisten. Ein Dialog der Religionen untereinander wäre nicht fruchtbar, wenn er
nicht auch die wahre Achtung jedes Menschen einschließen würde, damit dieser seine
Religion frei ausüben kann. Achtung und Dialog verlangen Gegenseitigkeit in allen Bereichen,
vor allem was die Grundfreiheiten, und ganz speziell die Religionsfreiheit, betrifft.
Ich erinnere alle Christen daran, daß unsere persönliche und gemeinschaftliche
Beziehung zu Gott von der wachsenden Vertrautheit mit dem göttlichen Wort abhängt.
Schließlich wende ich mich an alle Menschen, auch an jene, die sich von der Kirche
entfernt, den Glauben aufgegeben oder die Verkündigung des Heils nie vernommen haben.
Zu jedem einzelnen sagt der Herr: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an.« (Offb 3,20).