2010-11-11 12:02:39

Großes Vatikan-Dokument zum Thema Heilige Schrift - "Eine Bibel für jedes Haus"


Der Vatikan hat an diesem Donnerstag ein Schlüsseldokument zum Thema Heilige Schrift veröffentlicht: Es ist der Abschlußtext einer Bischofssynode zu diesem Thema, die vor zwei Jahren im Vatikan stattfand, und hat die Form eines Päpstlichen „Nachsynodalen Schreibens“. Wir dokumentieren hier die Kernsätze aus dem Text „Verbum Domini“ aus der Feder von Papst Benedikt XVI.

Verbum Domini: „Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. Dieses Wort ist das Evangelium, das euch verkündet worden ist“. Mit diesem Satz aus dem Ersten Petrusbrief stehen wir vor dem Geheimnis Gottes, der sich durch das Geschenk seines Wortes mitteilt. Gott hat sein ewiges Wort auf menschliche Weise ausgesprochen; sein Wort »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14). Das ist die frohe Botschaft, die durch die Jahrhunderte hindurch bis zu uns in unsere Zeit gelangt.

Ich möchte einige Grundlinien für eine Wiederentdeckung des göttlichen Wortes – Quelle ständiger Erneuerung – im Leben der Kirche aufzeigen. Und ich rufe alle Gläubigen auf, die persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Christus, dem sichtbar gewordenen Wort des Lebens, neu zu entdecken und ihn zu verkünden: damit das Geschenk des göttlichen Lebens, die Gemeinschaft, in der Welt immer mehr Verbreitung finden möge.
„Bibel darf kein Wort der Vergangenheit bleiben“

In einer Welt, die Gott oft als überflüssig oder fremd empfindet, bekennen wir wie Petrus, daß nur er »Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68) hat. Es gibt keine größere Priorität als diese: dem Menschen von heute den Zugang zu Gott wieder zu öffnen, zu dem Gott, der spricht. (Es gilt) wiederzuentdecken, was wir im Alltag allzuleicht als selbstverständlich voraussetzen: daß Gott redet, daß er antwortet auf unser Fragen. (Allerdings können wir) unsere Beziehung zum Wort Gottes nur innerhalb des »Wir« der Kirche vertiefen, im Hören aufeinander und in der gegenseitigen Annahme. Die Bibel darf nicht ein Wort der Vergangenheit bleiben, sondern muss als lebendiges und aktuelles Wort wahrgenommen werden.

Das Neue der biblischen Offenbarung besteht darin, daß Gott sich im Dialog zu erkennen
gibt, den er mit uns führen möchte. Das Innerste des göttlichen Lebens ist Gemeinschaft, ist das absolute Geschenk. »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,16), sagt der Apostel Johannes und kennzeichnet damit das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges. Als Abbild Gottes, der die Liebe ist, können wir also uns selbst nur in der Annahme des Wortes verstehen. Im Licht der Offenbarung klärt sich das Rätsel des menschlichen Daseins endgültig.

Das Christentum ist keine „Buchreligion“, sondern es ist die »Religion des Wortes Gottes« - nicht »eines schriftlichen, stummen Wortes, sondern des menschgewordenen,
lebendigen Wortes«.

Wenn im Mittelpunkt der göttlichen Offenbarung das Christusereignis steht, dann muß man ebenfalls erkennen, daß die Schöpfung selbst auch ein wesentlicher Teil dieser mehrstimmigen Symphonie ist, in der das einzige Wort seinen Ausdruck findet. Die Aussagen der Schrift verweisen darauf, daß alles, was geworden ist, nicht Frucht eines irrationalen Zufalls, sondern von Gott gewollt ist, zu seinem Plan gehört. Die Schöpfung entsteht aus dem Logos und trägt die unauslöschliche Spur der schöpferischen Vernunft, die ordnet und leitet. Die Schöpfung ist der Ort, an dem sich die ganze Geschichte der Liebe zwischen Gott und seinem Geschöpf entfaltet; das Heil des Menschen ist der Beweggrund aller Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt her betrachten, entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt. So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer erhalten haben, in ihrer ganzen Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die Gabe der Vernunft, der Freiheit und des Gewissens. Darin finden wir auch das, was in der philosophischen Tradition als »Naturrecht« bezeichnet wird.

„Am Anfang des Christseins steht ein Ereignis“

Wer das göttliche Wort kennt, kennt auch die tiefste Bedeutung eines jeden Geschöpfs. Das Wort Gottes drängt uns zu einer Änderung unseres Begriffs von Realismus: Realist ist der,
der im Wort Gottes das Fundament von allem erkennt. Das brauchen wir besonders in unserer Zeit, in der viele Dinge, auf die man für den Aufbau des Lebens vertraut und seine Hoffnung zu setzen sucht ist, ihr vergängliches Wesen offenbaren. Haben, Genuß und Macht erweisen sich früher oder später als unfähig, das tiefste Verlangen des menschlichen Herzens zu stillen. »Herr, dein Wort bleibt auf ewig, es steht fest wie der Himmel« (Ps 119) – wer auf dieses Wort baut, baut das Haus seines Lebens auf Fels (vgl. Mt 7,24).

Das ewige Wort ist in Christus ein Mensch geworden, »geboren von einer Frau« (Gal 4,4). Hier äußert sich das Wort nicht vor allem in einer Rede, in Begriffen oder Regeln. Hier stehen wir vor der Person Jesu selbst. Seine einzigartige Geschichte ist das endgültige Wort, das Gott zur Menschheit spricht. Von da aus versteht man, warum am Anfang des
Christseins … nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee [steht], sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.

Das göttliche Wort drückt sich wirklich in menschlichen Worten aus. In der Betrachtung dieser »Christologie des Wortes« hat die patristische und mittelalterliche Überlieferung ein eindrucksvolles Wort verwendet: Das Wort hat sich kurz gemacht. Das ewige Wort hat sich klein gemacht – so klein, daß es in eine Krippe paßte. Jetzt hat das Wort ein Gesicht, das wir sehen können: Jesus von Nazaret. Die Sendung Jesu findet ihre Erfüllung im Ostergeheimnis: Das Wort verstummt, wird zur Totenstille, denn es hat sich »ausgesagt« bis hin zum Schweigen, ohne irgendetwas zurückzuhalten, was es uns mitteilen sollte. Das Neue Testament präsentiert uns das Ostergeheimnis in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift als ihre innerste Erfüllung: Der Sieg Christi über den Tod geschieht durch die schöpferische Macht des Wortes Gottes. Das ist letztlich der befreiende Inhalt der österlichen Offenbarung.

Wenn wir uns diese wesentlichen Elemente unseres Glaubens ins Gedächtnis rufen, können wir die tiefe Einheit zwischen Schöpfung und neuer Schöpfung und der ganzen Heilsgeschichte in Christus betrachten. Um es in einem Bild auszudrücken, können wir den Kosmos mit einem »Buch« vergleichen – so sagte es auch Galileo Galilei – und ihn als »das Werk eines Autors [betrachten], der sich durch die „Symphonie“ der Schöpfung kundtut. Innerhalb dieser Symphonie findet sich an einem bestimmten Punkt das, was man in der Sprache der Musik ein „Solo“ nennen würde: ein Thema, das einem einzelnen Instrument oder einer einzigen Stimme anvertraut ist. Und dieses Thema ist so wichtig, daß von ihm die Bedeutung des gesamten Werkes abhängt. Dieses „Solo“ ist Jesus.

„Christliche Heilsordnung ist unüberholbar“

Die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, ist unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13). Er ist das einzige und endgültige Wort, das der Menschheit gegeben wurde. Folglich hat die Synode empfohlen, »den Gläubigen zu helfen, das Wort Gottes von Privatoffenbarungen zu unterscheiden«. Diese »sind nicht dazu da, die endgültige Offenbarung Christi … zu „vervollständigen“, sondern sollen helfen, in einem bestimmten Zeitalter tiefer aus ihr zu leben«. Der Wert der Privatoffenbarungen ist wesentlich unterschieden von der einer öffentlichen Offenbarung; der Maßstab für die Wahrheit einer Privatoffenbarung ist ihre
Hinordnung auf Christus selbst. Wenn sie uns von ihm wegführt, dann kommt sie sicher nicht vom Heiligen Geist. Die kirchliche Approbation einer Privatoffenbarung zeigt daher im wesentlichen an, daß die entsprechende Botschaft nichts enthält, was dem Glauben und den guten Sitten entgegensteht; sie ist eine Hilfe, die angeboten wird, aber von der man nicht Gebrauch machen muß.

Das Wort Gottes kommt durch das Wirken des Heiligen Geistes in menschlichen Worten
zum Ausdruck. Derselbe Geist, der durch die Propheten gesprochen hat, stützt und inspiriert die Kirche in ihrer Aufgabe, das Wort Gottes zu verkündigen. Man kann den Sinn des Wortes nicht erfassen, wenn man das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen nicht annimmt. Letztendlich ist es die lebendige Überlieferung der Kirche, die uns die Heilige Schrift als Wort Gottes angemessen verstehen läßt. Daraus geht hervor, wie wichtig es ist, daß das Volk Gottes klar unterwiesen wird, den Zugang zur Heiligen Schrift in Verbindung mit der lebendigen Überlieferung der Kirche zu suchen und so in ihr das Wort Gottes selbst zu erkennen. Unter dem Gesichtspunkt des geistlichen Lebens ist es sehr wichtig, dafür zu sorgen, daß diese Haltung bei den Gläubigen zunimmt. In diesem Zusammenhang kann der Hinweis auf eine von den Kirchenvätern entwickelte Analogie zwischen dem Wort Gottes, das »Fleisch« wird, und dem Wort, das »Buch« wird, hilfreich sein.

Die Heilige Schrift stellt sich uns trotz der Vielfalt ihrer Formen und Inhalte als Einheit dar. Denn durch alle Worte der Heiligen Schrift sagt Gott nur ein Wort: sein eingeborenes Wort, in dem er sich selbst ganz aussagt (vgl. Hebr 1,1-3). 19. Ein Schlüsselbegriff, der dazu dient, die Heilige Schrift als Wort Gottes in menschlichen Worten zu erfassen, ist die Inspiration. Auch hier kann man eine Analogie anführen: So wie das Wort Gottes im Schoß der Jungfrau Maria Fleisch geworden ist durch das Wirken des Heiligen Geistes, wird die Heilige Schrift durch das Wirken desselben Geistes im Schoß der Kirche geboren. So erkennt man die ganze Bedeutung des menschlichen Autors, der die inspirierten Texte geschrieben hat, und gleichzeitig Gott selbst als den wahren Autor.
„Schrift nicht nur als Objekt historischen Interesses lesen“
  Eine adäquate Annäherung an die Schrift und ihre korrekte Hermeneutik muß in demselben Geist geschehen, in dem sie geschrieben wurde. Wenn in uns das Bewußtsein für die Inspiration abnimmt, dann besteht die Gefahr, die Schrift als Objekt historischen Interesses zu lesen und nicht als Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte erfahren können. Gewiß wurden in der theologischen Reflexion Inspiration und Wahrheit stets als zwei Schlüsselbegriffe für eine kirchliche Hermeneutik der Heiligen Schrift betrachtet. Dennoch muß man einräumen, daß es heute notwendig ist, diese Wirklichkeiten adäquat zu vertiefen, um besser antworten zu können auf das, was für eine wesensgemäße Auslegung der heiligen Texte erforderlich ist. In dieser Hinsicht möchte ich meinen dringenden Wunsch zum Ausdruck bringen, daß die Forschung in diesem Bereich fortschreiten und für die Bibelwissenschaft und für das geistliche Leben der Gläubigen Früchte tragen möge.

Wie das Kreuz Christi zeigt, spricht Gott auch durch sein Schweigen. Das Schweigen Gottes, die Erfahrung der Ferne des allmächtigen Vaters, ist ein entscheidender Abschnitt
auf dem irdischen Weg des Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes. Am Holz des Kreuzes hängend, hat er den Schmerz beklagt, den dieses Schweigen ihm zufügt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34; Mt 27,46). Diese Erfahrung Jesu ist bezeichnend für die Situation des Menschen, der, nachdem er das Wort Gottes gehört und erkannt hat, es auch mit seinem Schweigen aufnehmen muß. Es ist eine Erfahrung, die etliche Heilige und Mystiker gemachthaben und die auch heute zum Weg vieler Gläubigen gehört. Das Schweigen Gottes ist wie eine Verlängerung der Worte, die er zuvor gesprochen hat. In diesen dunklen Augenblicken spricht er im Geheimnis seines Schweigens. Darum erscheint in der Dynamik der christlichen Offenbarung das Schweigen als wichtiger Ausdruck des Wortes Gottes.

„Jeder Mensch ist Empfänger des Wortes“

Jeder Mensch ist der Empfänger des Wortes: Er wird angesprochen und aufgerufen, durch eine freie Antwort in diesen Dialog der Liebe einzutreten. Der Mensch wurde im Wort erschaffen und lebt in ihm; er kann sich selbst nicht verstehen, wenn er sich diesem Dialog nicht öffnet. In diesem Dialog mit Gott verstehen wir uns selbst und finden eine Antwort auf die tiefsten Fragen, die wir in unserem Herzen tragen. Das Wort Gottes stellt sich nämlich nicht gegen den Menschen, es unterdrückt nicht seine echten Wünsche, sondern es erleuchtet sie sogar, indem es sie reinigt und zur Vollendung führt. Wie wichtig ist es doch für unsere Zeit zu entdecken, daß nur Gott auf das Verlangen antwortet, das im Herzen eines jeden Menschen wohnt! In unserer Zeit hat sich leider, vor allem im Westen, die Vorstellung verbreitet, daß Gott mit dem Leben und den Problemen des Menschen nichts zu tun hat, daß seine Gegenwart sogar eine Bedrohung für die Unabhängigkeit des Menschen sein kann. In Wirklichkeit zeigt uns die gesamte Heilsökonomie, daß Gott zugunsten des Menschen und seines ganzheitlichen Heils spricht und in die Geschichte eingreift. Wir müssen daher alles tun, um dem Menschen das Wort Gottes in der ihm eigenen Aufgeschlossenheit gegenüber seinen Problemen nahezubringen, als Antwort auf seine Fragen, als Weitung seines Werthorizontes und zugleich als Erfüllung seiner persönlichen Erwartungen. Die Seelsorge der Kirche muß deutlich machen, daß Gott die Nöte des Menschen und sein Schreien hört.

Sehr häufig finden wir sowohl im Alten als auch im Neuen Testament die Beschreibung
der Sünde als ein Nichthören auf das Wort, als Bundesbruch und damit als Verschlossenheit gegenüber Gott, der zur Gemeinschaft mit sich ruft. Die Heilige Schrift zeigt uns, daß die Sünde des Menschen im wesentlichen Ungehorsam und »Nichthören« ist. Gerade der radikale Gehorsam Christi bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8) entlarvt diese Sünde bis auf den Grund.

In unserer Zeit müssen die Gläubigen unterwiesen werden, die Verbindung zwischen Maria von Nazaret und dem gläubigen Hören auf das göttliche Wort tiefer zu entdecken. Ich fordere auch die Fachleute auf, die Beziehung zwischen Mariologie und Theologie des Wortes weiter zu vertiefen. Das kann sowohl für das geistliche Leben als auch für die theologischen und biblischen Studien sehr nützlich sein. Denn das, was das Glaubensverständnis über Maria aussagt, gehört zum innersten Kern der christlichen Wahrheit. Tatsächlich ist die Inkarnation des Wortes undenkbar ohne die Freiheit dieser jungen Frau, die durch ihre Zustimmung entscheidend zum Eintritt des Ewigen in die Zeit beiträgt. Sie ist die Gestalt der Kirche, die auf das Wort Gottes hört, das in ihr Fleisch wird. Die Bezugnahme auf die Mutter Gottes zeigt uns außerdem, daß das Handeln Gottes in der Welt immer unsere Freiheit mit einschließt. Jeder gläubige Christ, so der hl. Ambrosius, empfängt und gebiert gewissermaßen das Wort Gottes in sich: Wenn es auch nur eine Mutter Christi dem Fleische nach gibt, so ist doch dem Glauben nach Christus die Frucht aller. Was an Maria geschehen ist, kann daher in jedem von uns täglich beim Hören auf das Wort und bei der Feier der Sakramente wieder geschehen.

„Enge Verbindung zwischen Wort und Glauben“

Gerade durch die innere Verbindung zwischen Wort und Glauben wird deutlich, daß die authentische Bibelhermeneutik nur im kirchlichen Glauben angesiedelt sein kann. Der hl. Bonaventura sagt, daß es ohne den Glauben keinen Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt.
Es ist also ein grundlegendes Kriterium der Bibelhermeneutik, dass das Leben der Kirche der ursprüngliche Ort der Schriftauslegung ist. Dies verweist auf den kirchlichen Bezug
nicht als äußeres Kriterium, dem die Exegeten sich beugen müssen, sondern es ist ein Erfordernis, das in der Schrift selbst und in der Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, liegt. Die Auslegung der Heiligen Schrift verlangt die Teilnahme
der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit. Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde, müssen also die Exegeten, die Theologen und das ganze Volk Gottes sie als das betrachten, was sie wirklich ist: als das Wort Gottes, das sich uns durch menschliche Worte mitteilt (vgl. 1 Thess 2,13). Das ist eine immerwährende, in der Bibel selbst enthaltene Gegebenheit: »Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden « (2 Petr 1,20). Die Bibel ist das Buch der Kirche, und aus ihrem Eingebettetsein im kirchlichen Leben entspringt auch ihre wahre Hermeneutik.

Der hl. Hieronymus erinnert daran, daß wir die Schrift niemals alleine lesen können. Wir finden zu viele verschlossene Türen und gleiten leicht in den Irrtum ab. Die Bibel wurde vom Volk Gottes und für das Volk Gottes unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Nur in dieser Gemeinschaft mit dem Volk Gottes können wir wirklich mit dem »Wir« in den Kern der Wahrheit eintreten, die Gott selbst uns mitteilen will. Die Kirchlichkeit der Bibelauslegung ist kein von außen auferlegter Anspruch: Das Buch ist wirklich die Stimme des pilgernden Gottesvolkes, und nur im Glauben dieses Volkes befinden wir uns sozusagen in der richtigen Tonart, um die Heilige Schrift zu verstehen. Ansätze, die unter Ausklammerung des Glaubens an den heiligen Text herangehen, können zwar interessante Elemente zutage fördern, indem sie auf die Struktur des Textes und seine Formen eingehen; ein solcher Versuch wäre jedoch stets nur vorbereitender Art und vom Aufbau her unvollständig. Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht.

Die Synode hat mit Freude das vermehrte Studium des Wortes Gottes in der Kirche innerhalb der letzten Jahrzehnte gewürdigt und ihren herzlichen Dank gegenüber den zahlreichen Exegeten und Theologen ausgedrückt, die durch ihre Hingabe, ihren Einsatz und ihr Fachwissen einen wesentlichen Beitrag zur Vertiefung des Schriftverständnisses geleistet haben und leisten, indem sie sich mit den komplexen Problemen auseinandersetzen, die unsere Zeit der Bibelforschung stellt.

„Wichtige Beziehung zwischen Exegese und Theologie“

Von der fruchtbaren Beziehung zwischen Exegese und Theologie hängt ein großer Teil der pastoralen Wirkkraft der Arbeit der Kirche und des geistlichen Lebens der Gläubigen ab. Zunächst muß der Nutzen anerkannt werden, der dem Leben der Kirche aus der historischkritischen Exegese und den anderen Methoden der Textanalyse, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, erwachsen ist. Für die katholische Sichtweise der Heiligen Schrift ist die Berücksichtigung dieser Methoden unverzichtbar. Die Heilsgeschichte ist keine Mythologie, sondern wirkliche Geschichte und muß deshalb mit den Methoden ernsthafter Geschichtswissenschaft untersucht werden.

Die Bibel-Enzykliken der Päpste Leo XIII. und Pius XII. lehnen einen Bruch zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der Sicht des Glaubens, zwischen dem wörtlichen Sinn und dem geistlichen Sinn ab. Dieses Gleichgewicht fl oß später in das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 ein: »Die katholischen Exegeten dürfen bei ihrer Interpretationsarbeit nie vergessen, daß sie das Wort Gottes auslegen. Ihr gemeinsamer Auftrag ist noch nicht beendet, wenn die Quellen unterschieden, die Gattungen bestimmt und die literarischen Ausdrucksmittel erklärt sind. Das Ziel ihrer Arbeit ist erst erreicht, wenn sie den Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes erfaßt haben«. Das Zweite Vatikanische Konzil führt drei grundlegende Kriterien an, die dazu dienen, die göttliche Dimension der Bibel zu berücksichtigen: 1) Auslegung des Textes mit Rücksicht auf die Einheit der ganzen Schrift – das wird heute kanonische Exegese genannt, 2) Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche, und schließlich 3) Beachtung der Analogie des Glaubens. Nur dort, wo beide methodologische Ebenen, die historisch-kritische und die theologische, berücksichtigt werden, kann man von einer theologischen Exegese sprechen, die allein der Heiligen Schrift angemessen ist.
  „Historisch-kritische Methode: Ja, aber...“

Das positive Ergebnis der Anwendung der modernen historisch-kritischen Forschung ist nicht zu leugnen. Während jedoch die heutige akademische – auch die katholische – Exegese im Bereich der historisch-kritischen Methode auf hohem Niveau arbeitet, ist ein entsprechendes Studium der theologischen Dimension der biblischen Texte einzufordern, damit die Vertiefung gemäß der drei von der dogmatischen Konstitution Dei Verbum angegebenen Elemente voranschreitet. Wenn zwischen den beiden Ansatzebenen unterschieden wird, so geschieht dies keinesfalls in der Absicht, sie voneinander zu trennen, noch sie gegeneinander auszuspielen oder sie auch einfach nur nebeneinanderzustellen. Allein in gegenseitiger Abhängigkeit sind sie sinnvoll. Eine Trennung zwischen ihnen, die zu nichts führt, läßt leider nicht selten Exegese und Theologie einander fremd erscheinen, selbst auf höchster akademischer Ebene.

Wenn die Exegese nur auf die erste Ebene reduziert wird, dann wird die Schrift selbst zu einem Buch der Vergangenheit. In einer solchen Verkürzung wird das Ereignis der Offenbarung Gottes durch sein Wort natürlich in keiner Weise verständlich. Das Fehlen einer Hermeneutik des Glaubens in bezug auf die Schrift zeigt sich außerdem nicht nur in Form einer Abwesenheit – sondern an ihre Stelle tritt unvermeidlich eine andere Hermeneutik – eine positivistische, säkularisierte Hermeneutik, deren grundlegender Schlüssel die Überzeugung ist, daß das Göttliche sich in der Menschheitsgeschichte nicht zeigt. Dieser Hermeneutikzufolge muß dann, wenn ein göttliches Element vorhanden zu sein scheint, dieses auf andere Weise erklärt und alles auf das menschliche Element reduziert werden. Eine solche Haltung muß unweigerlich dem Leben der Kirche Schaden zufügen, da sie Zweifel aufkommen läßt an den wesentlichen Geheimnissen des Christentums und ihrem historischen Wert, wie zum Beispiel die Einsetzung der Eucharistie und die Auferstehung Christi. Damit wird nämlich eine philosophische Hermeneutik aufgezwungen, die die Möglichkeit, daß das Göttliche in die Geschichte
eintritt und in ihr gegenwärtig ist, leugnet. Die Übernahme einer solchen Hermeneutik
in die theologischen Studien führt unvermeidlich zu einem heftigen Dualismus zwischen der Exegese, die nur auf der ersten Ebene stattfindet, und der Theologie, die in eine Spiritualisierung des Schriftsinnes abdriftet, die das historische Wesen der Offenbarung nicht berücksichtigt. All das kann sich auch auf das geistliche Leben und auf die Seelsorge nur negativ auswirken: Die Abwesenheit dieser zweiten methodologischen Ebene hat einen tiefen Graben zwischen der wissenschaftlichen Exegese und der lectio divina aufgerissen. Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß dieser Dualismus manchmal dem intellektuellen Ausbildungsweg sogar einiger Priesteramtskandidaten Unsicherheit und wenig Standfestigkeit verleiht.
„Bei Exegese Beziehung von Vernunft und Glauben beachten“

Nicht unterschätzt werden darf zudem die Gefahr, die der Absicht innewohnt, die Wahrheit der Heiligen Schrift von der Anwendung einer einzigen Methode abzuleiten, und dabei die Notwendigkeit einer Exegese im weiteren Sinn außer acht läßt, die es erlaubt, zusammen mit der ganzen Kirche zum vollen Sinn der Texte zu gelangen. Alle, die sich dem Studium der Heiligen Schriften widmen, müssen stets berücksichtigen, daß auch den verschiedenen hermeneutischen Methoden eine philosophische Auffassung zugrunde liegt: sie gilt es vor ihrer Anwendung auf die heiligen Texte eingehend zu prüfen. Im hermeneutischen Zugang zur Heiligen Schrift steht die richtige Beziehung zwischen Glaube und Vernunft auf dem Spiel. Die säkularisierte Hermeneutik der Heiligen Schrift wird ja von einer Vernunft betrieben, die sich grundsätzlich der Möglichkeit verschließen will, daß Gott in das Leben der Menschen eintritt und in menschlichen Worten zu den Menschen spricht. Auch in diesem Fall gilt also die Aufforderung, den Horizont der eigenen Rationalität zu erweitern. Bei der Anwendung von Methoden zur historischen Analyse muß man es daher vermeiden, gegebenenfalls vorhandene Kriterien zu übernehmen, die die Offenbarung Gottes im Leben der Menschen von vornherein ausschließen.

Ein wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung einer angemessenen Schrifthermeneutik ergibt sich auch aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz. Tatsächlich besitzt die Theologie der Kirchenväter noch heute großen Wert, weil in ihrem Mittelpunkt das Studium der Heiligen Schrift in ihrer Ganzheit steht. Die Väter sind nämlich zunächst einmal und im wesentlichen »Kommentatoren der Heiligen Schrift«. Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese.

Ein authentischer Interpretationsprozeß ist niemals nur ein intellektueller Prozeß, sondern auch ein Prozeß des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben als ein »vom Geist geleitetes« Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt. Eine solche Transzendierung kann im einzelnen literarischen Fragment nur in Beziehung zur Gesamtheit der Schrift stattfinden. Es ist ja ein einziges Wort, zu dem hin die Überschreitung erfolgen soll. Diesem Prozeß wohnt eine Dramatik inne; der befreiende Geist ist nicht einfach die eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus ist der Herr, der uns den Weg zeigt«.

„Bibel ist nicht einfach nur ein Buch“

Gewiß, unter rein geschichtlichem oder literarischem Gesichtspunkt ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Sammlung literarischer Texte, deren Abfassung sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte und deren einzelne Bücher nicht leicht als Teile einer inneren Einheit erkennbar sind; es bestehen sogar sichtbare Spannungen zwischen ihnen. Das gilt bereits innerhalb der Bibel Israels, die wir Christen als das Alte Testament bezeichnen. Es gilt noch mehr, wenn wir als Christen das Neue Testament und seine Schriften gleichsam als hermeneutischen Schlüssel mit der Bibel Israels verknüpfen und sie so als Weg zu Christus auslegen. Im Neuen Testament wird der Ausdruck »die Schrift« (vgl. Röm 4,3; 1 Petr 2,6) normalerweise nicht verwendet, sondern vielmehr »die Schriften« (vgl. Mt 21,43; Joh 5,39; Röm 1,2; 2 Petr 3,16), die freilich zusammen dann doch als das eine Wort Gottes an uns angesehen werden. Daraus wird deutlich, daß es die Person Christi ist, die allen »Schriften« in dem Bezug auf das eine »Wort« Einheit verleiht. Die innere Einheit der ganzen Bibel ist ein entscheidendes Kriterium für eine korrekte Hermeneutik des Glaubens.

„Wurzel des Christentums liegt im Alten Testament“

Es ist eindeutig, daß das Neue Testament selbst das Alte Testament als Wort Gottes anerkennt und somit die Autorität der Heiligen Schriften des jüdischen Volkes aufgreift.
Es erkennt sie implizit und explizit an. Im vierten Evangelium sagt Jesus, daß »die Schrift nicht aufgehoben werden kann« (Joh 10,35), und der hl. Paulus präzisiert im besonderen, daß die Offenbarung des Alten Testaments für uns Christen auch weiterhin gilt (vgl. Röm 15,4; 1 Kor 10,11). Außerdem bekräftigen wir, »daß Jesus von Nazaret ein Jude war und das Heilige Land das Mutterland der Kirche ist«; die Wurzel des Christentums liegt im Alten Testament, und das Christentum nährt sich stets aus dieser Wurzel. Daher hat die gesunde christliche Lehre stets jede Form des Markionismus abgelehnt, der immer wiederkehrt und auf verschiedene Weise dazu neigt, das Alte und das Neue Testament einander entgegenzusetzen. Außerdem sagt das Neue Testament selbst, daß es mit dem Alten übereinstimmt, und verkündet, daß im Geheimnis des Lebens, des Todes und der Auferstehung Christi die Heiligen Schriften des jüdischen Volkes ihre vollkommene Erfüllung gefunden haben. Diese Überlegungen zeigen die unersetzliche Bedeutung des Alten Testaments für die Christen, heben aber zugleich die Originalität der christologischen Auslegung hervor. Die Christen lesen also das Alte Testament im Licht des gestorbenen und auferstandenen Christus. Wenn die typologische Auslegung den unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testamentes in bezug auf das Neue Testament offenbart, darf sie jedoch nicht dazu verleiten zu vergessen, daß auch das Alte Testament selbst seinen Offenbarungswert behält. Aus diesem Grund haben die Synodenväter gesagt, daß »das jüdische Bibelverständnis den Christen beim Verständnis und Studium der Schriften helfen kann«.

Die Synode hat sich auch mit dem Thema der Bibelstellen auseinandergesetzt, die aufgrund der darin gelegentlich enthaltenen Gewalt und Unsittlichkeit dunkel und schwierig erscheinen. Diesbezüglich muß man sich vor Augen führen, daß die biblische Offenbarung tief in der Geschichte verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam etappenweise umgesetzt. Es wäre falsch, jene Abschnitte der Schrift, die uns problematisch erscheinen, nicht zu berücksichtigen.
„Juden, unsere bevorzugten Brüder“

Papst Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere „bevorzugten Brüder“ im Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«. Natü rlich bedeuten diese Worte keine Absage an den Bruch, von dem das Neue Testament in bezug auf die Institutionen des Alten Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft. Das Beispiel des hl. Paulus (vgl. Röm 9-11) zeigt im Gegenteil, daß eine Haltung des Respekts, der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk … die einzige wirklich christliche Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation [ist], die in geheimnisvoller Weise Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist. Wir nähren uns aus denselben spirituellen Wurzeln. Wir begegnen einander als Brüder – Brüder, die in gewissen Augenblicken ihrer Geschichte ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, sich aber jetzt fest entschlossen darum bemühen, Brücken beständiger Freundschaft zu bauen. Ich möchte noch einmal bekräftigen, wie wertvoll für die Kirche der Dialog mit den Juden ist.
  Die von der fundamentalistischen Lesart der Bibel befürwortete »Wörtlichkeit« ist in Wirklichkeit ein Verrat sowohl am wörtlichen als auch am geistlichen Sinn, indem sie den Weg für Instrumentalisierungen verschiedener Art öffnet, zum Beispiel durch die Verbreitung kirchenfeindlicher Auslegungen der Schrift selbst. Wer den biblischen Text
so behandelt, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre, sieht nicht,
daß das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Das Christentum vernimmt im Gegensatz dazu in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt und durch die Wirklichkeit einer menschlichen Geschichte hindurch ausbreitet. Die wahre Antwort auf eine fundamentalistische Interpretation ist die »Auslegung der Heiligen Schrift im Glauben«.

Die Synodenväter haben regelmäßigere Kontakte zwischen Seelsorgern, Exegeten und Theologen empfohlen. Die Bischofskonferenzen sollten diese Begegnungen fördern, um eine größere Gemeinsamkeit im Dienst am Wort Gottes zu unterstützen«. Eine solche Zusammenarbeit hilft allen, die eigene Arbeit besser durchzuführen zum Wohl der
ganzen Kirche. Sich nämlich in den Gesichtskreis der Pastoralarbeit zu versetzen bedeutet auch für die Wissenschaftler, dem heiligen Text in seinem Wesen als Mitteilung zu begegnen, die der Herr den Menschen für das Heil macht.

Für ökumenische Wortgottesdienste

Mit Blick auf die Ökumene sind wir überzeugt, daß das gemeinsame Hören und Meditieren
der Schrift uns eine reale, wenn auch noch nicht volle Gemeinschaft leben läßt. Gemeinsam das Wort Gottes hören; die lectio divina der Bibel halten; sich überraschen lassen von der Neuheit des Wortes Gottes, die nie alt wird und sich nie erschöpft; unsere Taubheit für jene Worte überwinden, die nicht mit unseren Meinungen oder Vorurteilen übereinstimmen; hören und studieren in der Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten – all das stellt einen Weg dar, der beschritten werden muß, um die Einheit im Glauben zu erreichen, als Antwort auf das Hören des Wortes. Es ist daher gut, unter Wahrung der geltenden Normen und der verschiedenen Traditionen die ökumenischen Wortgottesdienste zu vermehren. Diese liturgischen Feiern nutzen der Ökumene. Es muß jedoch darauf geachtet werden, daß sie den Gläubigen nicht als Ersatz für die Teilnahme an der Heiligen Messe angeboten werden. Wer sich erinnert, wie sehr die Debatten rund um die Heilige Schrift besonders im Abendland die Spaltungen beeinflußt haben, vermag zu erfassen, was für einen beachtlichen Fortschritt (ökumenische) Gemeinschaftsübersetzungen darstellen. Darum ist die Förderung der Gemeinschaftsübersetzungen der Bibel Teil der ökumenischen Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die diese wichtige Verantwortung übernommen haben, und sie ermutigen, ihr Werk fortzusetzen.

Es muß vermieden werden, einen Wissenschaftsbegriff aufrechtzuerhalten, demzufolge
die wissenschaftliche Forschung der Schrift gegenüber einen neutralen Standpunkt einnimmt. Darum ist es notwendig, daß die Priesteramtskandidaten zusammen mit dem Studium der Sprachen, in denen die Bibel geschrieben wurde, und der entsprechenden Auslegungsmethoden ein tiefes geistliches Leben pflegen, um zu verstehen, daß man die Schrift nur erfassen kann, wenn man sie lebt.

„Heiligkeit aktualisiert die Bibel“

Jeder Heilige ist wie ein Lichtstrahl, der vom Wort Gottes ausgeht: So denken wir
auch an den hl. Pio von Pietrelcina als Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit; an
den hl. Josemaría Escrivá in seiner Verkündigung des universalen Rufs zur Heiligkeit; an die sel. Teresa von Kalkutta, Missionarin der Nächstenliebe Gottes für die Ärmsten der Armen, bis hin zu den Märtyrern des Nationalsozialismus und des Kommunismus, auf der einen Seite vertreten durch eine Karmelitin, die hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), und auf der anderen durch den Kardinalerzbischof von Zagreb, den sel. Alois Stepinac. Die Heiligkeit in bezug auf das Wort Gottes gehört gewissermaßen zur prophetischen Überlieferung, in der das Wort Gottes das Leben des Propheten selbst in den Dienst nimmt. In diesem Sinne stellt die Heiligkeit in der Kirche eine Hermeneutik der Schrift dar, der sich niemand entziehen kann.

Die Beziehung zwischen Christus, dem Wort des Vaters, und der Kirche kann nicht einfach nur als Ereignis der Vergangenheit verstanden werden, sondern es ist eine lebendige Beziehung, in die persönlich einzutreten jeder Gläubige berufen ist. Tatsächlich sprechen wir von der Gegenwart des Wortes Gottes heute bei uns: »Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,20). Die Kirche ist eine Gemeinschaft, die das Wort Gottes hört und verkündet. Die Kirche lebt nicht von sich selbst, sondern vom Evangelium und schöpft aus dem Evangelium immer aufs neue Orientierung für ihren Weg. Es ist ein Hinweis, den jeder Christ aufnehmen und auf sich selbst anwenden soll: Nur wer zuerst und vor allem auf das Wort Gottes hört, wird es dann auch verkünden können.

Die Liturgie ist das bevorzugte Umfeld, in dem Gott in der Gegenwart unseres
Lebens zu uns spricht. Man muß also die wesentliche Bedeutung, die die liturgische Handlung für das Verständnisdes Wortes Gottes besitzt, verstehen und erleben. Außerdem gibt es eine enge Beziehung zwischen der Heiligen Schrift und der sakramentalen Handlung bzw. der Eucharistie. Die Eucharistie öffnet uns für das Verständnis der Heiligen Schrift, ebenso wie die Heilige Schrift ihrerseits das eucharistische Geheimnis beleuchtet und erklärt. In der Tat: Ohne die Erkenntnis der Realpräsenz des Herrn in der Eucharistie bleibt das Verständnis der Schrift unvollständig. Darum hat die Kirche von jeher dem Wort Gottes und der Eucharistie gleichermaßen Verehrung erwiesen, wenn auch in unterschiedlichen gottesdienstlichen Formen. Die Sakramentalität des Wortes läßt sich in Analogie zur Realpräsenz Christi unter den Gestalten des konsekrierten Brotes und Weines verstehen. Christus, der unter den Gestalten von Brot und Wein wirklich gegenwärtig ist, ist in analoger Weise auch in dem Wort gegenwärtig, das in der Liturgie verkündigt wird. Eine Vertiefung des Empfindens für die Sakramentalität des Wortes kann also förderlich sein, um das Geheimnis der Offenbarung mehr als eine Einheit in Tat und Wort zu verstehen.

„Lektoren gut ausbilden!“

Bekanntlich wird das Evangelium vom Priester oder vom Diakon verkündet, die Erste und Zweite Lesung hingegen in der lateinischen Tradition vom damit beauftragten Lektor, einem Mann oder einer Frau. Ich möchte mich hier zum Sprachrohr der Synodenväter machen, die die Notwendigkeit einer angemessenen Schulung des Lektors in der liturgischen Feier betont haben – insbesondere was den Lektorendienst betrifft, der als solcher im lateinischen Ritus ein Laiendienst ist. Die mit dieser Aufgabe betrauten Lektoren müssen, auch wenn sie nicht die Beauftragung erhalten haben, wirklich dafür geeignet und gut vorbereitet sein.

Mit Bezug auf das Lektionar angemessen zu predigen ist wirklich eine Kunst, die gepflegt
werden muß. Ich bitte die zuständigen Autoritäten, in Analogie zum eucharistischen
Kompendium auch Werkzeuge und Hilfsmittel zu erarbeiten, die den Amtsträgern
helfen können, ihre Aufgabe möglichst gut zu erfüllen – wie zum Beispiel homiletische Leitlinien, in denen die Prediger nützliche Hilfestellungen finden können.

Die Synode hat den Wunsch geäußert, daß sich das Stundengebet im Gottesvolk stärker
verbreiten möge, besonders das Gebet der Laudes und der Vesper. Eine solche Ausweitung wird von selbst zu einer größeren Vertrautheit der Gläubigen mit dem Wort Gottes führen. Zu diesem Zweck empfehle ich, daß dort, wo es möglich ist, die Pfarreien und Ordensgemeinschaften dieses Gebet unter Beteiligung der Gläubigen fördern.

Die Synodenväter haben alle Hirten aufgefordert, in den ihnen anvertrauten Gemeinden
die Wort-Gottes-Feiern zu verbreiten: Sie sind bevorzugte Gelegenheiten der Begegnung mit dem Herrn. Äußerst angezeigt ist die Wort-Gottes-Feier in jenen Gemeinden, in denen es aufgrund des Priestermangels nicht möglich ist, an den gebotenen Feiertagen das eucharistische Opfer zu feiern. Ich empfehle, daß von den zuständigen Autoritäten Direktorien für deren Riten verfaßt werden, die sich die Erfahrung der Teilkirchen zunutze machen. Auf solche Weise sollen in diesen Situationen Wort-Gottes-Feiern gefördert werden, die den Glauben der Gemeinde nähren, wobei jedoch vermieden wird, daß sie mit Eucharistiefeiern verwechselt werden; sie sollten vielmehr bevorzugte Gelegenheiten sein, zu Gott zu beten, daß er heilige Priester nach seinem Herzen sende.
„Stille wieder entdecken“

Unsere Zeit ist der inneren Sammlung nicht förderlich, und manchmal hat man den Eindruck, daß geradezu eine Angst besteht, sich auch nur für einen Augenblick von den Massenkommunikationsmitteln zu trennen. Daher ist es heute notwendig, dem Gottesvolk
den Wert der Stille zu vermitteln. Die Zentralität des Wortes Gottes im Leben der Kirche wiederzuentdecken bedeutet auch, den Sinn der inneren Sammlung und Ruhe wiederzuentdecken. Die große patristische Überlieferung lehrt uns, daß die Geheimnisse Christi an die Stille gebunden sind, und nur in ihr kann das Wort Raum in uns finden, wie in Maria, die zugleich Frau des Wortes und der Stille ist – diese Aspekte sind in ihr nicht voneinander zu trennen. Unsere Gottesdienste müssen dieses wahre Hören erleichtern.

Die Synode hat außerdem noch einmal nachdrücklich bekräftigt, daß die der Heiligen Schrift entnommenen Lesungen nie durch andere Texte ersetzt werden dürfen, so bedeutsam diese vom pastoralen oder geistlichen Gesichtspunkt aus auch sein mögen: Kein Text der Spiritualität oder der Literatur kann den Wert und den Reichtum erlangen, der in der Heiligen Schrift, dem Wort Gottes, enthalten ist. Es handelt sich um eine altehrwürdige Norm der Kirche, die bewahrt werden muß. Beim liturgischen Gesang bevorzuge man Gesänge,die ganz klar biblisch inspiriert sind und durch die harmonische Übereinstimmung von Text und Musik die Schönheit des göttlichen Wortes zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne ist es gut, jene Gesänge zu verwenden, die wir der Überlieferung der Kirche verdanken und die diesem Kriterium entsprechen. Ich denke insbesondere an den Gregorianischen Choral.

Man sollte die „biblische Pastoral“ nicht neben anderen Formen der Pastoral, sondern als Seele der ganzen Pastoral fördern. Es geht also nicht darum, in der Pfarrei oder in der Diözese noch weitere Begegnungen hinzuzufügen, sondern es muß sichergestellt werden, daß in den gewohnten Aktivitäten der christlichen Gemeinden, in den Pfarreien, in den Verbänden und in den Bewegungen wirklich das Herzensanliegen die persönliche Begegnung mit Christus ist, der sich uns in seinem Wort mitteilt. Ich ermuntere daher die Hirten und die Gläubigen, die Bedeutung der Bibel als Seele der Pastoral zu berücksichtigen: Das wird auch die beste Art sein, einigen pastoralen Problemen zu begegnen, die zum Beispiel mit der Ausbreitung von Sekten verbunden sind, welche eine verzerrte und instrumentalisierte Auslegung der Heiligen Schrift verbreiten. Dort, wo die Gläubigen nicht zu einer Bibelkenntnis gemäß dem Glauben der Kirche und im Schoß ihrer lebendigen Überlieferung herangebildet werden, entsteht ein pastorales Vakuum, in dem unter anderem Sekten Boden finden können, um Wurzeln zu schlagen. Das Bibelapostolat muß verstärkt werden.

Ich möchte daran erinnern, daß der grundlegende Faktor der Spiritualität der großen monastischen Tradition stets die Betrachtung der Heiligen Schrift war, insbesondere in der Form der lectio divina. Auch heute sind die älteren und neueren Formen des geweihten Lebens berufen, wahre Schulen des geistlichen Lebens zu sein, in denen die Schriften gemäß dem Heiligen Geist in der Kirche gelesen werden, so daß das ganze Gottesvolk daraus Nutzen ziehen kann.
„Für jedes Haus eine Bibel“

In Treue gegenüber dem Wort Gottes müssen wir hervorheben, daß die Institution der Ehe heute unter vielen Aspekten dem Angriff durch die gängige Mentalität ausgesetzt ist. Angesichts der weitverbreiteten Unordnung der Affekte und des Aufkommens von Denkweisen, die den menschlichen Leib und den Geschlechtsunterschied banalisieren, bekräftigt das Wort Gottes den ursprünglichen Wert des Menschen, der als Mann und Frau geschaffen wurde und zur treuen, gegenseitigen und fruchtbaren Liebe berufen ist.

Die Synode wünscht, daß jedes Haus seine Bibel haben möge und sie in würdiger
Weise aufbewahre, um in ihr lesen und mit ihr beten zu können. Die notwendige Hilfe kann von Priestern, Diakonen oder gut ausgebildeten Laien kommen. Die Synode hat auch die Bildung kleiner Gemeinschaften unter den Familien empfohlen, um das Gebet und die gemeinsame Betrachtung geeigneter Abschnitte aus der Schrift pflegen. Außerdem sollen die Eheleute sich daran erinnern, daß das Wort Gottes auch in den Schwierigkeiten des Ehe- und Familienlebens eine wertvolle Stütze ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auch das hervorheben, was die Synode über die Aufgabe der Frauen in bezug auf das Wort Gottes gesagt hat. Der Beitrag des »Genius der Frau«, wie Papst Johannes Paul II. ihn nannte, zur Kenntnis der Schrift wie zum gesamten Leben der Kirche ist heute größer als in der Vergangenheit und betrifft nunmehr auch den Bereich der biblischen Studien selbst. Die Synode hat sich in besonderer Weise mit der unverzichtbaren Rolle der Frauen in der Familie, in der Erziehung, in der Katechese und in der Vermittlung von Werten befaßt. Sie verstehen es, das Hören auf das Wort zu wecken, die persönliche Beziehung zu Gott und den Sinn der Vergebung und des Teilens gemäß dem Evangelium zu vermitteln, Überbringerinnen der Liebe, Lehrmeisterinnen der Barmherzigkeit und Friedenstifterinnen sowie Übermittlerinnen von Wärme und Menschlichkeit in einer Welt zu sein, die Menschen allzuoft nach kalten Kriterien der Ausbeutung und des Profi ts behandelt.
„Bibel immer in der Gemeinschaft lesen“

Das Wort Gottes ist ein Wort, das sich an jeden persönlich richtet, aber es ist auch ein Wort, das Gemeinschaft aufbaut, das die Kirche aufbaut. Deshalb muß der Text immer innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft angegangen werden: Von großer Bedeutung ist … die gemeinschaftliche Schriftlesung, weil das lebendige Subjekt der Heiligen Schrift das Volk Gottes, die Kirche, ist. Demnach gehört die Heilige Schrift nicht der Vergangenheit an, weil ihr Subjekt, das von Gott selbst inspirierte Volk Gottes, immer dasselbe ist, und daher ist das Wort immer im lebenden Subjekt lebendig. Es ist darum wichtig, die Heilige Schrift in der Gemeinschaft der Kirche zu lesen und zu hören, das heißt mit allen großen Zeugen dieses Wortes, von den ersten Kirchenvätern bis zu den Heiligen von heute und dem Lehramt von heute.  Die Ablaßpraxis schließt die Lehre von den unendlichen Verdiensten Christi ein, die die Kirche als Dienerin der Erlösung austeilt und zuwendet, aber sie schließt auch die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen ein und macht uns deutlich, wie eng wir in Christus miteinander vereint sind und wie sehr das übernatürliche Leben jedes Einzelnen den anderen nützen kann. Unter diesem Gesichtspunkt unterstützt uns die Lesung des Wortes Gottes auf dem Weg der Buße und der Bekehrung; sie erlaubt uns, das Empfinden für die Zugehörigkeit zur Kirche zu vertiefen und erhält uns in größerer Vertrautheit mit Gott.

Ich lade gemeinsam mit den Synodenvätern dazu ein, unter den Gläubigen, vor allem
im Familienleben, die marianischen Gebete zu fördern - als Hilfe zur Betrachtung der heiligen Geheimnisse, von denen die Bibel berichtet. Ein sehr nützliches Hilfsmittel ist zum Beispiel das persönliche oder gemeinschaftliche Gebet des Rosenkranzes. Außerdem hat die Synode empfohlen, unter den Gläubigen das Gebet des Angelus zu fördern. Auch einige frühe Gebete des christlichen Ostens, die unter Bezugnahme auf die Theotokos, die Mutter Gottes, die gesamte Heilsgeschichte durchlaufen, verdienen es, bekannt gemacht, geschätzt und verbreitet zu werden. Wir beziehen uns insbesondere auf den Akathistos und auf die Paraklesis. 306 Mit diesen Worten zu beten, erweitert die Seele und macht sie bereit für den Frieden, der von oben kommt.

„Christen, bleibt im Heiligen Land!“

Durch das Wirken des Heiligen Geistes ist das Wort zu einem genau definierten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort Mensch geworden, in einem Landstrich an den Grenzen des Römischen Reiches. Deshalb blicken wir, je mehr wir die Universalität und die Einzigartigkeit der Person Christi betrachten, um so mehr mit Dankbarkeit auf jenes Land, in dem Jesus geboren ist, gelebt hat und sich selbst für uns alle hingegeben hat. Darum haben die Synodenväter an die glückliche Formulierung erinnert, die das Heilige Land als »das fünfte Evangelium«bezeichnet. Wie wichtig ist es doch, daß es in jener Gegend christliche Gemeinden gibt, trotz aller Schwierigkeiten! Die Bischofssynode bringt allen Christen, die im Land Jesu leben und den Glauben an den Auferstandenen bezeugen, ihre zutiefst empfundene Nähe zum Ausdruck. Hier sind die Christen aufgerufen, nicht nur ein Lichtstrahl des Glaubens für die universale Kirche zu sein, sondern auch Sauerteig der Eintracht, der Weisheit und des Gleichgewichts im Leben einer Gesellschaft, die traditionell stets pluralistisch, multiethnisch und multireligiös war und dies auch weiterhin ist«.

DieKirche ist ihrem Wesen nach missionarisch. Wir können die Worte des ewigen Lebens, die uns in der Begegnung mit Jesus Christus geschenkt werden, nicht für uns behalten: Sie
sind an alle, an einen jeden Menschen gerichtet. Jeder Mensch unserer Zeit, ob er es weiß oder nicht, braucht diese Verkündigung. Der Herr selbst erwecke, wie zur Zeit des Propheten Amos, bei den Menschen neuen Hunger und neuen Durst nach einem Wort des Herrn (vgl. Am 8,11). Wir haben die Verantwortung, das weiterzugeben, was wir unsererseits aus Gnade empfangen haben. Die ersten christlichen Gemeinden haben gespürt, daß ihr Glaube nicht einem besonderen kulturellen Brauch zuzuordnen war, der von Volk zu Volk verschieden ist, sondern dem Bereich der Wahrheit, die unterschiedslos alle Menschen betrifft. Das Neue der christlichen Verkündigung ist, daß sie nun allen Völkern sagen darf: »Er hat sich gezeigt. Er selbst. Und nun ist der Weg zu ihm offen. Die Neuheit der christlichen Verkündigung besteht nicht in einem Gedanken, sondern in einem Faktum: Er hat sich gezeigt«.

„Alle Getauften müssen verkündigen!“

Alle Getauften sind für die Verkündigung verantwortlich. Kein Christgläubiger darf sich von dieser Verantwortung entbunden fühlen. Dieses Bewußtsein muß in jeder Pfarrei, Gemeinschaft, Vereinigung und kirchlichen Bewegung neu erweckt werden.

Die Synodenväter haben bekräftigt, daß auch in unserer Zeit ein entschlossener Einsatz in der missio ad gentes wichtig ist. Die Kirche darf sich keinesfalls auf eine Pastoral der »Aufrechterhaltung« beschränken, die nur auf jene ausgerichtet ist, die das Evangelium
Christi bereits kennen. Der missionarische Schwung ist ein klares Zeichen für die Reife einer kirchlichen Gemeinschaft. Daher muß die Verkündigung explizit sein. In der Kraft des Geistes (vgl. 1 Kor 2,4-5) muß die Kirche auf alle zugehen und auch weiterhin prophetisch das Recht und die Freiheit der Menschen verteidigen, das Wort Gottes zu hören. Dabei muß sie die wirksamsten Mittel suchen, um es zu verkünden, auch auf die Gefahr der Verfolgung hin.

Viele Menschen sind getauft, aber nicht genügend evangelisiert. Oft verlieren Nationen, die einst reich an Glauben und Berufungen waren, unter dem Einfluß einer säkularisierten Kultur ihre Identität. Das Erfordernis einer Neuevangelisierung muß furchtlos bekräftigt werden. Unsere Verantwortung beschränkt sich nicht darauf, der Welt allgemein anerkannte Werte anzubieten; vielmehr bedarf es der expliziten Verkündigung des Wortes Gottes. Es gibt keine wirkliche Evangelisierung, wenn nicht der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich, das Geheimnis von Jesus von Nazaret, des Sohnes Gottes, verkündet werden. Wir waren (auf der Synode) tiefbewegt von den Berichten jener, die auch unter Regimen, die dem Christentum feindselig gegenüberstehen, oder in Situationen der Verfolgung den Glauben gelebt und ein leuchtendes Zeugnis vom Evangelium gegeben haben. All das darf uns keine Angst machen. Ich möchte mit der ganzen Kirche Gott loben für das Zeugnis so vieler Brüder und Schwestern, die auch in unserer Zeit das Leben hingegeben haben, um die Wahrheit der Liebe Gottes mitzuteilen. Außerdem sage ich im Namen der ganzen Kirche Dank für die Christen, die angesichts von
Hindernissen und Verfolgungen um des Evangeliums willen nicht aufgeben. Zugleich sind wir mit tiefer und solidarischer Zuneigung den Gläubigen all jener christlichen Gemeinden nahe, die – besonders in Asien und in Afrika – in dieser Zeit um des Glaubens willen das Leben oder die gesellschaftliche Ausgrenzung riskieren. Wir sehen hier den Geist der Seligpreisungen des Evangeliums am Werk. Gleichzeitig erheben wir unsere Stimme dafür, daß die Regierungen der Nationen allen die Gewissens- und Religionsfreiheit und auch die Freiheit, den eigenen Glauben öffentlich zu bezeugen, gewährleisten mögen.

„Bibellesen drängt zu sozialem Engagement“

Im Licht der Worte des Herrn erkennen wir die »Zeichen der Zeit« in der Geschichte und scheuen nicht den Einsatz zugunsten der Leidenden und der Opfer des Egoismus. Es geht darum zu erreichen, daß durch die Kraft des Evangeliums die Urteilskriterien, die bestimmenden Werte, die Interessenpunkte, die Denkgewohnheiten, die Quellen der Inspiration und die Lebensmodelle der Menschheit, die zum Wort Gottes und zum Heilsplan im Gegensatz stehen, umgewandelt werden. Freilich ist es nicht die direkte Aufgabe der Kirche, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, auch wenn sie das Recht und die Pflicht besitzt, sich zu ethischen und moralischen Fragen zu äußern, die das Wohl der Menschen und der Völker betreffen. Es ist vor allem Aufgabe der gläubigen Laien, die in der Schule des Evangeliums herangebildet wurden, direkt in das gesellschaftliche und politische Handeln einzugreifen. Darüber hinaus möchte ich alle darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, die Menschenrechte jeder Person zu verteidigen und zu fördern, die auf dem Naturrecht beruhen, das ins Herz des Menschen eingeschrieben ist. Die Kirche wünscht sich, daß durch die Bestätigung dieser Rechte die Würde des Menschen wirksamer anerkannt und allgemein gefördert werde. Sie ist das Merkmal, das Gott, der Schöpfer, seinem Geschöpf aufgeprägt hat und von Jesus Christus durch seine Menschwerdung, seinen Tod und seine Auferstehung angenommen und erlöst wurde. Daher kann die Ausbreitung des Wortes Gottes die Bestätigung und die Achtung dieser Rechte nur stärken.

Manchmal scheinen die Feindseligkeiten auf unserem Planeten die Form eines interreligiösen Konflikts anzunehmen. Noch einmal möchte ich betonen, daß die Religion niemals Intoleranz oder Kriege rechtfertigen kann. Man kann nicht im Namen Gottes Gewalt anwenden! Jede Religion sollte auf einen rechten Gebrauch der Vernunft drängen und ethische Werte fördern, die das zivile Zusammenleben aufbauen. Getreu dem Werk der Versöhnung, das von Gott in Jesus Christus vollbracht wurde, müssen die Katholiken und alle Menschen guten Willens sich bemühen, Vorbilder der Versöhnung zu sein, um eine gerechte und friedliche Gesellschaft zu
schaffen.

Das Phänomen der Migration bietet neue Möglichkeiten für die Ausbreitung des Wortes
Gottes. In diesem Zusammenhang haben die Synodenväter bekräftigt, daß die Migranten das Recht haben, das Kerygma zu hören, das ihnen angeboten, nicht aber aufgezwungen wird.

„Schöpfung nicht ausbeuten“

Die Diakonie der Nächstenliebe, die in unseren Kirchen niemals fehlen darf, muß stets an
die Verkündigung des Wortes und an die Feier der heiligen Geheimnisse geknüpft sein. Zugleich muß anerkannt und hervorgehoben werden, daß die Armen selbst auch Träger der Evangelisierung sind. In der Bibel ist der wahre Arme derjenige, der ganz auf Gott vertraut, und Jesus selbst bezeichnet sie im Evangelium als selig, »denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,3; vgl. Lk 6,20). Die Kirche darf die Armen nicht enttäuschen: Die Hirten sind aufgerufen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen, sie in ihrem Glauben zu leiten und sie zu ermutigen, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Indem die Offenbarung uns den Plan Gottes für den Kosmos kundtut, veranlaßt sie uns auch, falsche Haltungen des Menschen anzuprangern, wenn dieser die Dinge nicht als Abglanz des Schöpfers erkennt, sondern sie als reine Materie betrachtet, die skrupellos manipuliert werden kann. In diesem Fall fehlt dem Menschen jene wesentliche Demut, die es ihm erlaubt, die Schöpfung als Geschenk Gottes anzuerkennen, das nach dessen Plan angenommen und gebraucht werden muß. Die Anmaßung des Menschen, der so lebt, als gäbe es Gott nicht, führt im Gegenteil dazu, die Natur auszubeuten und zu entstellen, weil er in ihr nicht das Werk des Schöpferwortes wahrnimmt.

„Bibel, ein Kodex für die Kulturen“

Das Wort Gottes hat durch die Jahrhunderte hindurch die verschiedenen Kulturen inspiriert und sittliche Grundwerte, hervorragende künstlerische Ausdrucksformen und vorbildliche Lebensstile hervorgebracht. Im Hinblick auf eine erneuerte Begegnung zwischen Bibel und Kulturen möchte ich daher gegenüber allen Kulturträgern noch einmal bekräftigen, daß sie nichts zu befürchten haben, wenn sie sich dem Wort Gottes öffnen, das die wahre Kultur niemals zerstört, sondern einen ständigen Ansporn darstellt für die Suche nach immer passenderen und bedeutungsvolleren menschlichen Ausdrucksformen. Jede wahre Kultur muß, um wirklich dem Menschen zu dienen, offen sein für die Transzendenz, also letztendlich für Gott. Der Sinn der Bibel als großer Kodex für die Kulturen muß vollständig wiedererlangt werden.

Unter den neuen Formen der Massenkommunikation spielt das Internet heute eine immer
größere Rolle. Es bietet ein neues Forum zur Verkündigung des Evangeliums, wobei man sich jedoch bewußt sein muß, daß die virtuelle Welt niemals die reale Welt ersetzen kann und daß sich die Evangelisierung die von den neuen Medien angebotene Virtualität zur Aufnahme bedeutender Beziehungen nur dann zunutze machen kann, wenn es zur persönlichen Begegnung kommt, die als solche stets unersetzlich bleibt. In der Welt des Internet, durch das Milliarden von Bildern auf Millionen Bildschirmen überall auf dem Erdkreis erscheinen, muß das Antlitz Christi sichtbar werden und seine Stimme zu hören sein, denn wo kein Platz für Christus ist, da ist auch kein Platz für den Menschen.

Viele Völker hungern und dürsten heute nach dem Wort Gottes, aber der Zugang zur Heiligen Schrift steht ihnen leider noch nicht weit offen, wie das Zweite Vatikanische Konzil es gewünscht hatte! Daher hält die Synode vor allem die Ausbildung von Fachleuten für wichtig, die sich der Bibelübersetzung in die verschiedenen Sprachen widmen. Ich ermutige dazu, Mittel in diesen Bereich zu investieren. Insbesondere möchte ich empfehlen, die Bemühungen der Katholischen Bibelföderation zu unterstützen, damit die Zahl der Übersetzungen der Heiligen Schrift und ihre flächendeckende Verbreitung weiter zunimmt.

„Ja zum Dialog mit dem Islam“

Wir anerkennen, daß in der Überlieferung des Islam viele biblische Gestalten, Symbole und Themen vorhanden sind. Ich wünsche, daß die vor vielen Jahren geknüpften vertrauensvollen Beziehungen zwischen Christen und Muslimen fortbestehen und sich in einem Geist des aufrichtigen und respektvollen Dialogs weiterentwickeln. Die Synode hat den Wunsch geäußert, daß in diesem Dialog die Achtung vor dem Leben als Grundwert, die unveräußerlichen Rechte des Mannes und der Frau und ihre gleiche Würde vertieft werden mögen. Unter Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen sozio-politischer Ordnung und religiöser Ordnung müssen die Religionen ihren Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Ein Dialog der Religionen untereinander wäre nicht fruchtbar, wenn er nicht auch die wahre Achtung jedes Menschen einschließen würde, damit dieser seine Religion frei ausüben kann. Achtung und Dialog verlangen Gegenseitigkeit in allen
Bereichen, vor allem was die Grundfreiheiten, und ganz speziell die Religionsfreiheit, betrifft.

Wenn wir die Zentralität des göttlichen Wortes im christlichen Leben wiederentdecken, finden wir den tiefsten Sinn dessen wieder, was Papst Johannes Paul II. nachdrücklich angemahnt hat: die missio ad gentes fortzusetzen und mit allen Kräften eine Neuevangelisierung vorzunehmen, vor allen in den Nationen, in denen das Evangelium durch einen weitverbreiteten Säkularismus in Vergessenheit geraten oder den meisten Menschen gleichgültig geworden ist. Ich erinnere alle Christen daran, daß unsere persönliche und gemeinschaftliche Beziehung zu Gott von der wachsenden Vertrautheit mit dem göttlichen Wort abhängt. Schließlich wende ich mich an alle Menschen, auch an jene, die sich von der Kirche entfernt, den Glauben aufgegeben oder die Verkündigung des Heils nie vernommen haben. Zu jedem einzelnen sagt der Herr: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir« (Offb 3,20).







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