Großes Vatikan-Dokument zum Thema Heilige Schrift - "Eine Bibel für jedes Haus"
Der Vatikan hat an diesem Donnerstag ein Schlüsseldokument zum Thema Heilige Schrift
veröffentlicht: Es ist der Abschlußtext einer Bischofssynode zu diesem Thema, die
vor zwei Jahren im Vatikan stattfand, und hat die Form eines Päpstlichen „Nachsynodalen
Schreibens“. Wir dokumentieren hier die Kernsätze aus dem Text „Verbum Domini“ aus
der Feder von Papst Benedikt XVI.
Verbum Domini: „Das Wort des Herrn bleibt
in Ewigkeit. Dieses Wort ist das Evangelium, das euch verkündet worden ist“. Mit diesem
Satz aus dem Ersten Petrusbrief stehen wir vor dem Geheimnis Gottes, der sich durch
das Geschenk seines Wortes mitteilt. Gott hat sein ewiges Wort auf menschliche Weise
ausgesprochen; sein Wort »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14). Das ist die frohe Botschaft,
die durch die Jahrhunderte hindurch bis zu uns in unsere Zeit gelangt.
Ich
möchte einige Grundlinien für eine Wiederentdeckung des göttlichen Wortes – Quelle
ständiger Erneuerung – im Leben der Kirche aufzeigen. Und ich rufe alle Gläubigen
auf, die persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Christus, dem sichtbar gewordenen
Wort des Lebens, neu zu entdecken und ihn zu verkünden: damit das Geschenk des göttlichen
Lebens, die Gemeinschaft, in der Welt immer mehr Verbreitung finden möge. „Bibel
darf kein Wort der Vergangenheit bleiben“
In einer Welt, die Gott oft
als überflüssig oder fremd empfindet, bekennen wir wie Petrus, daß nur er »Worte des
ewigen Lebens« (Joh 6,68) hat. Es gibt keine größere Priorität als diese: dem Menschen
von heute den Zugang zu Gott wieder zu öffnen, zu dem Gott, der spricht. (Es gilt)
wiederzuentdecken, was wir im Alltag allzuleicht als selbstverständlich voraussetzen:
daß Gott redet, daß er antwortet auf unser Fragen. (Allerdings können wir) unsere
Beziehung zum Wort Gottes nur innerhalb des »Wir« der Kirche vertiefen, im Hören aufeinander
und in der gegenseitigen Annahme. Die Bibel darf nicht ein Wort der Vergangenheit
bleiben, sondern muss als lebendiges und aktuelles Wort wahrgenommen werden.
Das
Neue der biblischen Offenbarung besteht darin, daß Gott sich im Dialog zu erkennen gibt,
den er mit uns führen möchte. Das Innerste des göttlichen Lebens ist Gemeinschaft,
ist das absolute Geschenk. »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,16), sagt der Apostel Johannes
und kennzeichnet damit das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild
des Menschen und seines Weges. Als Abbild Gottes, der die Liebe ist, können wir also
uns selbst nur in der Annahme des Wortes verstehen. Im Licht der Offenbarung klärt
sich das Rätsel des menschlichen Daseins endgültig.
Das Christentum ist keine
„Buchreligion“, sondern es ist die »Religion des Wortes Gottes« - nicht »eines schriftlichen,
stummen Wortes, sondern des menschgewordenen, lebendigen Wortes«.
Wenn
im Mittelpunkt der göttlichen Offenbarung das Christusereignis steht, dann muß man
ebenfalls erkennen, daß die Schöpfung selbst auch ein wesentlicher Teil dieser mehrstimmigen
Symphonie ist, in der das einzige Wort seinen Ausdruck findet. Die Aussagen der Schrift
verweisen darauf, daß alles, was geworden ist, nicht Frucht eines irrationalen Zufalls,
sondern von Gott gewollt ist, zu seinem Plan gehört. Die Schöpfung entsteht aus dem
Logos und trägt die unauslöschliche Spur der schöpferischen Vernunft, die ordnet und
leitet. Die Schöpfung ist der Ort, an dem sich die ganze Geschichte der Liebe zwischen
Gott und seinem Geschöpf entfaltet; das Heil des Menschen ist der Beweggrund aller
Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt her betrachten,
entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt.
So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer erhalten haben, in ihrer ganzen
Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die Gabe der Vernunft, der Freiheit
und des Gewissens. Darin finden wir auch das, was in der philosophischen Tradition
als »Naturrecht« bezeichnet wird.
„Am Anfang des Christseins steht ein
Ereignis“
Wer das göttliche Wort kennt, kennt auch die tiefste Bedeutung
eines jeden Geschöpfs. Das Wort Gottes drängt uns zu einer Änderung unseres Begriffs
von Realismus: Realist ist der, der im Wort Gottes das Fundament von allem erkennt.
Das brauchen wir besonders in unserer Zeit, in der viele Dinge, auf die man für den
Aufbau des Lebens vertraut und seine Hoffnung zu setzen sucht ist, ihr vergängliches
Wesen offenbaren. Haben, Genuß und Macht erweisen sich früher oder später als unfähig,
das tiefste Verlangen des menschlichen Herzens zu stillen. »Herr, dein Wort bleibt
auf ewig, es steht fest wie der Himmel« (Ps 119) – wer auf dieses Wort baut, baut
das Haus seines Lebens auf Fels (vgl. Mt 7,24).
Das ewige Wort ist in Christus
ein Mensch geworden, »geboren von einer Frau« (Gal 4,4). Hier äußert sich das Wort
nicht vor allem in einer Rede, in Begriffen oder Regeln. Hier stehen wir vor der Person
Jesu selbst. Seine einzigartige Geschichte ist das endgültige Wort, das Gott zur Menschheit
spricht. Von da aus versteht man, warum am Anfang des Christseins … nicht ein ethischer
Entschluß oder eine große Idee [steht], sondern die Begegnung mit einem Ereignis,
mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende
Richtung gibt.
Das göttliche Wort drückt sich wirklich in menschlichen Worten
aus. In der Betrachtung dieser »Christologie des Wortes« hat die patristische und
mittelalterliche Überlieferung ein eindrucksvolles Wort verwendet: Das Wort hat sich
kurz gemacht. Das ewige Wort hat sich klein gemacht – so klein, daß es in eine Krippe
paßte. Jetzt hat das Wort ein Gesicht, das wir sehen können: Jesus von Nazaret. Die
Sendung Jesu findet ihre Erfüllung im Ostergeheimnis: Das Wort verstummt, wird zur
Totenstille, denn es hat sich »ausgesagt« bis hin zum Schweigen, ohne irgendetwas
zurückzuhalten, was es uns mitteilen sollte. Das Neue Testament präsentiert uns das
Ostergeheimnis in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift als ihre innerste Erfüllung:
Der Sieg Christi über den Tod geschieht durch die schöpferische Macht des Wortes Gottes.
Das ist letztlich der befreiende Inhalt der österlichen Offenbarung.
Wenn
wir uns diese wesentlichen Elemente unseres Glaubens ins Gedächtnis rufen, können
wir die tiefe Einheit zwischen Schöpfung und neuer Schöpfung und der ganzen Heilsgeschichte
in Christus betrachten. Um es in einem Bild auszudrücken, können wir den Kosmos mit
einem »Buch« vergleichen – so sagte es auch Galileo Galilei – und ihn als »das Werk
eines Autors [betrachten], der sich durch die „Symphonie“ der Schöpfung kundtut. Innerhalb
dieser Symphonie findet sich an einem bestimmten Punkt das, was man in der Sprache
der Musik ein „Solo“ nennen würde: ein Thema, das einem einzelnen Instrument oder
einer einzigen Stimme anvertraut ist. Und dieses Thema ist so wichtig, daß von ihm
die Bedeutung des gesamten Werkes abhängt. Dieses „Solo“ ist Jesus.
„Christliche
Heilsordnung ist unüberholbar“
Die christliche Heilsordnung, nämlich
der neue und endgültige Bund, ist unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche
Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit
(vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13). Er ist das einzige und endgültige Wort, das der Menschheit
gegeben wurde. Folglich hat die Synode empfohlen, »den Gläubigen zu helfen, das Wort
Gottes von Privatoffenbarungen zu unterscheiden«. Diese »sind nicht dazu da, die endgültige
Offenbarung Christi … zu „vervollständigen“, sondern sollen helfen, in einem bestimmten
Zeitalter tiefer aus ihr zu leben«. Der Wert der Privatoffenbarungen ist wesentlich
unterschieden von der einer öffentlichen Offenbarung; der Maßstab für die Wahrheit
einer Privatoffenbarung ist ihre Hinordnung auf Christus selbst. Wenn sie uns von
ihm wegführt, dann kommt sie sicher nicht vom Heiligen Geist. Die kirchliche Approbation
einer Privatoffenbarung zeigt daher im wesentlichen an, daß die entsprechende Botschaft
nichts enthält, was dem Glauben und den guten Sitten entgegensteht; sie ist eine Hilfe,
die angeboten wird, aber von der man nicht Gebrauch machen muß.
Das Wort Gottes
kommt durch das Wirken des Heiligen Geistes in menschlichen Worten zum Ausdruck.
Derselbe Geist, der durch die Propheten gesprochen hat, stützt und inspiriert die
Kirche in ihrer Aufgabe, das Wort Gottes zu verkündigen. Man kann den Sinn des Wortes
nicht erfassen, wenn man das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche und in den
Herzen der Gläubigen nicht annimmt. Letztendlich ist es die lebendige Überlieferung
der Kirche, die uns die Heilige Schrift als Wort Gottes angemessen verstehen läßt.
Daraus geht hervor, wie wichtig es ist, daß das Volk Gottes klar unterwiesen wird,
den Zugang zur Heiligen Schrift in Verbindung mit der lebendigen Überlieferung der
Kirche zu suchen und so in ihr das Wort Gottes selbst zu erkennen. Unter dem Gesichtspunkt
des geistlichen Lebens ist es sehr wichtig, dafür zu sorgen, daß diese Haltung bei
den Gläubigen zunimmt. In diesem Zusammenhang kann der Hinweis auf eine von den Kirchenvätern
entwickelte Analogie zwischen dem Wort Gottes, das »Fleisch« wird, und dem Wort, das
»Buch« wird, hilfreich sein.
Die Heilige Schrift stellt sich uns trotz der
Vielfalt ihrer Formen und Inhalte als Einheit dar. Denn durch alle Worte der Heiligen
Schrift sagt Gott nur ein Wort: sein eingeborenes Wort, in dem er sich selbst ganz
aussagt (vgl. Hebr 1,1-3). 19. Ein Schlüsselbegriff, der dazu dient, die Heilige Schrift
als Wort Gottes in menschlichen Worten zu erfassen, ist die Inspiration. Auch hier
kann man eine Analogie anführen: So wie das Wort Gottes im Schoß der Jungfrau Maria
Fleisch geworden ist durch das Wirken des Heiligen Geistes, wird die Heilige Schrift
durch das Wirken desselben Geistes im Schoß der Kirche geboren. So erkennt man die
ganze Bedeutung des menschlichen Autors, der die inspirierten Texte geschrieben hat,
und gleichzeitig Gott selbst als den wahren Autor. „Schrift nicht nur als
Objekt historischen Interesses lesen“ Eine adäquate Annäherung an die
Schrift und ihre korrekte Hermeneutik muß in demselben Geist geschehen, in dem sie
geschrieben wurde. Wenn in uns das Bewußtsein für die Inspiration abnimmt, dann besteht
die Gefahr, die Schrift als Objekt historischen Interesses zu lesen und nicht als
Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart
in der Geschichte erfahren können. Gewiß wurden in der theologischen Reflexion Inspiration
und Wahrheit stets als zwei Schlüsselbegriffe für eine kirchliche Hermeneutik der
Heiligen Schrift betrachtet. Dennoch muß man einräumen, daß es heute notwendig ist,
diese Wirklichkeiten adäquat zu vertiefen, um besser antworten zu können auf das,
was für eine wesensgemäße Auslegung der heiligen Texte erforderlich ist. In dieser
Hinsicht möchte ich meinen dringenden Wunsch zum Ausdruck bringen, daß die Forschung
in diesem Bereich fortschreiten und für die Bibelwissenschaft und für das geistliche
Leben der Gläubigen Früchte tragen möge.
Wie das Kreuz Christi zeigt, spricht
Gott auch durch sein Schweigen. Das Schweigen Gottes, die Erfahrung der Ferne des
allmächtigen Vaters, ist ein entscheidender Abschnitt auf dem irdischen Weg des
Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes. Am Holz des Kreuzes hängend, hat er den
Schmerz beklagt, den dieses Schweigen ihm zufügt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast
du mich verlassen?« (Mk 15,34; Mt 27,46). Diese Erfahrung Jesu ist bezeichnend für
die Situation des Menschen, der, nachdem er das Wort Gottes gehört und erkannt hat,
es auch mit seinem Schweigen aufnehmen muß. Es ist eine Erfahrung, die etliche Heilige
und Mystiker gemachthaben und die auch heute zum Weg vieler Gläubigen gehört. Das
Schweigen Gottes ist wie eine Verlängerung der Worte, die er zuvor gesprochen hat.
In diesen dunklen Augenblicken spricht er im Geheimnis seines Schweigens. Darum erscheint
in der Dynamik der christlichen Offenbarung das Schweigen als wichtiger Ausdruck des
Wortes Gottes.
„Jeder Mensch ist Empfänger des Wortes“
Jeder
Mensch ist der Empfänger des Wortes: Er wird angesprochen und aufgerufen, durch eine
freie Antwort in diesen Dialog der Liebe einzutreten. Der Mensch wurde im Wort erschaffen
und lebt in ihm; er kann sich selbst nicht verstehen, wenn er sich diesem Dialog nicht
öffnet. In diesem Dialog mit Gott verstehen wir uns selbst und finden eine Antwort
auf die tiefsten Fragen, die wir in unserem Herzen tragen. Das Wort Gottes stellt
sich nämlich nicht gegen den Menschen, es unterdrückt nicht seine echten Wünsche,
sondern es erleuchtet sie sogar, indem es sie reinigt und zur Vollendung führt. Wie
wichtig ist es doch für unsere Zeit zu entdecken, daß nur Gott auf das Verlangen antwortet,
das im Herzen eines jeden Menschen wohnt! In unserer Zeit hat sich leider, vor allem
im Westen, die Vorstellung verbreitet, daß Gott mit dem Leben und den Problemen des
Menschen nichts zu tun hat, daß seine Gegenwart sogar eine Bedrohung für die Unabhängigkeit
des Menschen sein kann. In Wirklichkeit zeigt uns die gesamte Heilsökonomie, daß Gott
zugunsten des Menschen und seines ganzheitlichen Heils spricht und in die Geschichte
eingreift. Wir müssen daher alles tun, um dem Menschen das Wort Gottes in der ihm
eigenen Aufgeschlossenheit gegenüber seinen Problemen nahezubringen, als Antwort auf
seine Fragen, als Weitung seines Werthorizontes und zugleich als Erfüllung seiner
persönlichen Erwartungen. Die Seelsorge der Kirche muß deutlich machen, daß Gott die
Nöte des Menschen und sein Schreien hört.
Sehr häufig finden wir sowohl im
Alten als auch im Neuen Testament die Beschreibung der Sünde als ein Nichthören
auf das Wort, als Bundesbruch und damit als Verschlossenheit gegenüber Gott, der zur
Gemeinschaft mit sich ruft. Die Heilige Schrift zeigt uns, daß die Sünde des Menschen
im wesentlichen Ungehorsam und »Nichthören« ist. Gerade der radikale Gehorsam Christi
bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8) entlarvt diese Sünde bis auf den Grund.
In
unserer Zeit müssen die Gläubigen unterwiesen werden, die Verbindung zwischen Maria
von Nazaret und dem gläubigen Hören auf das göttliche Wort tiefer zu entdecken. Ich
fordere auch die Fachleute auf, die Beziehung zwischen Mariologie und Theologie des
Wortes weiter zu vertiefen. Das kann sowohl für das geistliche Leben als auch für
die theologischen und biblischen Studien sehr nützlich sein. Denn das, was das Glaubensverständnis
über Maria aussagt, gehört zum innersten Kern der christlichen Wahrheit. Tatsächlich
ist die Inkarnation des Wortes undenkbar ohne die Freiheit dieser jungen Frau, die
durch ihre Zustimmung entscheidend zum Eintritt des Ewigen in die Zeit beiträgt. Sie
ist die Gestalt der Kirche, die auf das Wort Gottes hört, das in ihr Fleisch wird.
Die Bezugnahme auf die Mutter Gottes zeigt uns außerdem, daß das Handeln Gottes in
der Welt immer unsere Freiheit mit einschließt. Jeder gläubige Christ, so der hl.
Ambrosius, empfängt und gebiert gewissermaßen das Wort Gottes in sich: Wenn es auch
nur eine Mutter Christi dem Fleische nach gibt, so ist doch dem Glauben nach Christus
die Frucht aller. Was an Maria geschehen ist, kann daher in jedem von uns täglich
beim Hören auf das Wort und bei der Feier der Sakramente wieder geschehen.
„Enge
Verbindung zwischen Wort und Glauben“
Gerade durch die innere Verbindung
zwischen Wort und Glauben wird deutlich, daß die authentische Bibelhermeneutik nur
im kirchlichen Glauben angesiedelt sein kann. Der hl. Bonaventura sagt, daß es ohne
den Glauben keinen Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt. Es ist also ein grundlegendes
Kriterium der Bibelhermeneutik, dass das Leben der Kirche der ursprüngliche Ort der
Schriftauslegung ist. Dies verweist auf den kirchlichen Bezug nicht als äußeres
Kriterium, dem die Exegeten sich beugen müssen, sondern es ist ein Erfordernis, das
in der Schrift selbst und in der Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet
hat, liegt. Die Auslegung der Heiligen Schrift verlangt die Teilnahme der Exegeten
am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit. Da die Heilige Schrift
in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde, müssen
also die Exegeten, die Theologen und das ganze Volk Gottes sie als das betrachten,
was sie wirklich ist: als das Wort Gottes, das sich uns durch menschliche Worte mitteilt
(vgl. 1 Thess 2,13). Das ist eine immerwährende, in der Bibel selbst enthaltene Gegebenheit:
»Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden « (2 Petr 1,20).
Die Bibel ist das Buch der Kirche, und aus ihrem Eingebettetsein im kirchlichen Leben
entspringt auch ihre wahre Hermeneutik.
Der hl. Hieronymus erinnert daran,
daß wir die Schrift niemals alleine lesen können. Wir finden zu viele verschlossene
Türen und gleiten leicht in den Irrtum ab. Die Bibel wurde vom Volk Gottes und für
das Volk Gottes unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Nur in dieser
Gemeinschaft mit dem Volk Gottes können wir wirklich mit dem »Wir« in den Kern der
Wahrheit eintreten, die Gott selbst uns mitteilen will. Die Kirchlichkeit der Bibelauslegung
ist kein von außen auferlegter Anspruch: Das Buch ist wirklich die Stimme des pilgernden
Gottesvolkes, und nur im Glauben dieses Volkes befinden wir uns sozusagen in der richtigen
Tonart, um die Heilige Schrift zu verstehen. Ansätze, die unter Ausklammerung des
Glaubens an den heiligen Text herangehen, können zwar interessante Elemente zutage
fördern, indem sie auf die Struktur des Textes und seine Formen eingehen; ein solcher
Versuch wäre jedoch stets nur vorbereitender Art und vom Aufbau her unvollständig.
Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige
Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht.
Die Synode hat mit Freude das
vermehrte Studium des Wortes Gottes in der Kirche innerhalb der letzten Jahrzehnte
gewürdigt und ihren herzlichen Dank gegenüber den zahlreichen Exegeten und Theologen
ausgedrückt, die durch ihre Hingabe, ihren Einsatz und ihr Fachwissen einen wesentlichen
Beitrag zur Vertiefung des Schriftverständnisses geleistet haben und leisten, indem
sie sich mit den komplexen Problemen auseinandersetzen, die unsere Zeit der Bibelforschung
stellt.
„Wichtige Beziehung zwischen Exegese und Theologie“
Von
der fruchtbaren Beziehung zwischen Exegese und Theologie hängt ein großer Teil der
pastoralen Wirkkraft der Arbeit der Kirche und des geistlichen Lebens der Gläubigen
ab. Zunächst muß der Nutzen anerkannt werden, der dem Leben der Kirche aus der historischkritischen
Exegese und den anderen Methoden der Textanalyse, die in jüngerer Zeit entwickelt
wurden, erwachsen ist. Für die katholische Sichtweise der Heiligen Schrift ist die
Berücksichtigung dieser Methoden unverzichtbar. Die Heilsgeschichte ist keine Mythologie,
sondern wirkliche Geschichte und muß deshalb mit den Methoden ernsthafter Geschichtswissenschaft
untersucht werden.
Die Bibel-Enzykliken der Päpste Leo XIII. und Pius XII.
lehnen einen Bruch zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, zwischen der wissenschaftlichen
Forschung und der Sicht des Glaubens, zwischen dem wörtlichen Sinn und dem geistlichen
Sinn ab. Dieses Gleichgewicht fl oß später in das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission
von 1993 ein: »Die katholischen Exegeten dürfen bei ihrer Interpretationsarbeit nie
vergessen, daß sie das Wort Gottes auslegen. Ihr gemeinsamer Auftrag ist noch nicht
beendet, wenn die Quellen unterschieden, die Gattungen bestimmt und die literarischen
Ausdrucksmittel erklärt sind. Das Ziel ihrer Arbeit ist erst erreicht, wenn sie den
Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes erfaßt haben«. Das
Zweite Vatikanische Konzil führt drei grundlegende Kriterien an, die dazu dienen,
die göttliche Dimension der Bibel zu berücksichtigen: 1) Auslegung des Textes mit
Rücksicht auf die Einheit der ganzen Schrift – das wird heute kanonische Exegese genannt,
2) Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche, und schließlich
3) Beachtung der Analogie des Glaubens. Nur dort, wo beide methodologische Ebenen,
die historisch-kritische und die theologische, berücksichtigt werden, kann man von
einer theologischen Exegese sprechen, die allein der Heiligen Schrift angemessen ist. „Historisch-kritische
Methode: Ja, aber...“
Das positive Ergebnis der Anwendung der modernen
historisch-kritischen Forschung ist nicht zu leugnen. Während jedoch die heutige akademische
– auch die katholische – Exegese im Bereich der historisch-kritischen Methode auf
hohem Niveau arbeitet, ist ein entsprechendes Studium der theologischen Dimension
der biblischen Texte einzufordern, damit die Vertiefung gemäß der drei von der dogmatischen
Konstitution Dei Verbum angegebenen Elemente voranschreitet. Wenn zwischen den beiden
Ansatzebenen unterschieden wird, so geschieht dies keinesfalls in der Absicht, sie
voneinander zu trennen, noch sie gegeneinander auszuspielen oder sie auch einfach
nur nebeneinanderzustellen. Allein in gegenseitiger Abhängigkeit sind sie sinnvoll.
Eine Trennung zwischen ihnen, die zu nichts führt, läßt leider nicht selten Exegese
und Theologie einander fremd erscheinen, selbst auf höchster akademischer Ebene.
Wenn
die Exegese nur auf die erste Ebene reduziert wird, dann wird die Schrift selbst zu
einem Buch der Vergangenheit. In einer solchen Verkürzung wird das Ereignis der Offenbarung
Gottes durch sein Wort natürlich in keiner Weise verständlich. Das Fehlen einer Hermeneutik
des Glaubens in bezug auf die Schrift zeigt sich außerdem nicht nur in Form einer
Abwesenheit – sondern an ihre Stelle tritt unvermeidlich eine andere Hermeneutik –
eine positivistische, säkularisierte Hermeneutik, deren grundlegender Schlüssel die
Überzeugung ist, daß das Göttliche sich in der Menschheitsgeschichte nicht zeigt.
Dieser Hermeneutikzufolge muß dann, wenn ein göttliches Element vorhanden zu sein
scheint, dieses auf andere Weise erklärt und alles auf das menschliche Element reduziert
werden. Eine solche Haltung muß unweigerlich dem Leben der Kirche Schaden zufügen,
da sie Zweifel aufkommen läßt an den wesentlichen Geheimnissen des Christentums und
ihrem historischen Wert, wie zum Beispiel die Einsetzung der Eucharistie und die Auferstehung
Christi. Damit wird nämlich eine philosophische Hermeneutik aufgezwungen, die die
Möglichkeit, daß das Göttliche in die Geschichte eintritt und in ihr gegenwärtig
ist, leugnet. Die Übernahme einer solchen Hermeneutik in die theologischen Studien
führt unvermeidlich zu einem heftigen Dualismus zwischen der Exegese, die nur auf
der ersten Ebene stattfindet, und der Theologie, die in eine Spiritualisierung des
Schriftsinnes abdriftet, die das historische Wesen der Offenbarung nicht berücksichtigt.
All das kann sich auch auf das geistliche Leben und auf die Seelsorge nur negativ
auswirken: Die Abwesenheit dieser zweiten methodologischen Ebene hat einen tiefen
Graben zwischen der wissenschaftlichen Exegese und der lectio divina aufgerissen.
Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß dieser Dualismus manchmal dem intellektuellen
Ausbildungsweg sogar einiger Priesteramtskandidaten Unsicherheit und wenig Standfestigkeit
verleiht. „Bei Exegese Beziehung von Vernunft und Glauben beachten“
Nicht
unterschätzt werden darf zudem die Gefahr, die der Absicht innewohnt, die Wahrheit
der Heiligen Schrift von der Anwendung einer einzigen Methode abzuleiten, und dabei
die Notwendigkeit einer Exegese im weiteren Sinn außer acht läßt, die es erlaubt,
zusammen mit der ganzen Kirche zum vollen Sinn der Texte zu gelangen. Alle, die sich
dem Studium der Heiligen Schriften widmen, müssen stets berücksichtigen, daß auch
den verschiedenen hermeneutischen Methoden eine philosophische Auffassung zugrunde
liegt: sie gilt es vor ihrer Anwendung auf die heiligen Texte eingehend zu prüfen.
Im hermeneutischen Zugang zur Heiligen Schrift steht die richtige Beziehung zwischen
Glaube und Vernunft auf dem Spiel. Die säkularisierte Hermeneutik der Heiligen Schrift
wird ja von einer Vernunft betrieben, die sich grundsätzlich der Möglichkeit verschließen
will, daß Gott in das Leben der Menschen eintritt und in menschlichen Worten zu den
Menschen spricht. Auch in diesem Fall gilt also die Aufforderung, den Horizont der
eigenen Rationalität zu erweitern. Bei der Anwendung von Methoden zur historischen
Analyse muß man es daher vermeiden, gegebenenfalls vorhandene Kriterien zu übernehmen,
die die Offenbarung Gottes im Leben der Menschen von vornherein ausschließen.
Ein
wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung einer angemessenen Schrifthermeneutik ergibt
sich auch aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz.
Tatsächlich besitzt die Theologie der Kirchenväter noch heute großen Wert, weil in
ihrem Mittelpunkt das Studium der Heiligen Schrift in ihrer Ganzheit steht. Die Väter
sind nämlich zunächst einmal und im wesentlichen »Kommentatoren der Heiligen Schrift«.
Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen
Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese.
Ein
authentischer Interpretationsprozeß ist niemals nur ein intellektueller Prozeß, sondern
auch ein Prozeß des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben
als ein »vom Geist geleitetes« Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt. Eine solche Transzendierung
kann im einzelnen literarischen Fragment nur in Beziehung zur Gesamtheit der Schrift
stattfinden. Es ist ja ein einziges Wort, zu dem hin die Überschreitung erfolgen soll.
Diesem Prozeß wohnt eine Dramatik inne; der befreiende Geist ist nicht einfach die
eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus
ist der Herr, der uns den Weg zeigt«.
„Bibel ist nicht einfach nur ein
Buch“
Gewiß, unter rein geschichtlichem oder literarischem Gesichtspunkt
ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Sammlung literarischer Texte,
deren Abfassung sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte und deren einzelne Bücher
nicht leicht als Teile einer inneren Einheit erkennbar sind; es bestehen sogar sichtbare
Spannungen zwischen ihnen. Das gilt bereits innerhalb der Bibel Israels, die wir Christen
als das Alte Testament bezeichnen. Es gilt noch mehr, wenn wir als Christen das Neue
Testament und seine Schriften gleichsam als hermeneutischen Schlüssel mit der Bibel
Israels verknüpfen und sie so als Weg zu Christus auslegen. Im Neuen Testament wird
der Ausdruck »die Schrift« (vgl. Röm 4,3; 1 Petr 2,6) normalerweise nicht verwendet,
sondern vielmehr »die Schriften« (vgl. Mt 21,43; Joh 5,39; Röm 1,2; 2 Petr 3,16),
die freilich zusammen dann doch als das eine Wort Gottes an uns angesehen werden.
Daraus wird deutlich, daß es die Person Christi ist, die allen »Schriften« in dem
Bezug auf das eine »Wort« Einheit verleiht. Die innere Einheit der ganzen Bibel ist
ein entscheidendes Kriterium für eine korrekte Hermeneutik des Glaubens.
„Wurzel
des Christentums liegt im Alten Testament“
Es ist eindeutig, daß das
Neue Testament selbst das Alte Testament als Wort Gottes anerkennt und somit die Autorität
der Heiligen Schriften des jüdischen Volkes aufgreift. Es erkennt sie implizit
und explizit an. Im vierten Evangelium sagt Jesus, daß »die Schrift nicht aufgehoben
werden kann« (Joh 10,35), und der hl. Paulus präzisiert im besonderen, daß die Offenbarung
des Alten Testaments für uns Christen auch weiterhin gilt (vgl. Röm 15,4; 1 Kor 10,11).
Außerdem bekräftigen wir, »daß Jesus von Nazaret ein Jude war und das Heilige Land
das Mutterland der Kirche ist«; die Wurzel des Christentums liegt im Alten Testament,
und das Christentum nährt sich stets aus dieser Wurzel. Daher hat die gesunde christliche
Lehre stets jede Form des Markionismus abgelehnt, der immer wiederkehrt und auf verschiedene
Weise dazu neigt, das Alte und das Neue Testament einander entgegenzusetzen. Außerdem
sagt das Neue Testament selbst, daß es mit dem Alten übereinstimmt, und verkündet,
daß im Geheimnis des Lebens, des Todes und der Auferstehung Christi die Heiligen Schriften
des jüdischen Volkes ihre vollkommene Erfüllung gefunden haben. Diese Überlegungen
zeigen die unersetzliche Bedeutung des Alten Testaments für die Christen, heben aber
zugleich die Originalität der christologischen Auslegung hervor. Die Christen lesen
also das Alte Testament im Licht des gestorbenen und auferstandenen Christus. Wenn
die typologische Auslegung den unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testamentes in
bezug auf das Neue Testament offenbart, darf sie jedoch nicht dazu verleiten zu vergessen,
daß auch das Alte Testament selbst seinen Offenbarungswert behält. Aus diesem Grund
haben die Synodenväter gesagt, daß »das jüdische Bibelverständnis den Christen beim
Verständnis und Studium der Schriften helfen kann«.
Die Synode hat sich auch
mit dem Thema der Bibelstellen auseinandergesetzt, die aufgrund der darin gelegentlich
enthaltenen Gewalt und Unsittlichkeit dunkel und schwierig erscheinen. Diesbezüglich
muß man sich vor Augen führen, daß die biblische Offenbarung tief in der Geschichte
verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam
etappenweise umgesetzt. Es wäre falsch, jene Abschnitte der Schrift, die uns problematisch
erscheinen, nicht zu berücksichtigen. „Juden, unsere bevorzugten Brüder“
Papst
Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere „bevorzugten Brüder“ im
Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«. Natü rlich bedeuten diese Worte keine Absage
an den Bruch, von dem das Neue Testament in bezug auf die Institutionen des Alten
Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis
Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale
Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft. Das Beispiel
des hl. Paulus (vgl. Röm 9-11) zeigt im Gegenteil, daß eine Haltung des Respekts,
der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk … die einzige wirklich
christliche Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation [ist], die in geheimnisvoller
Weise Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist. Wir nähren uns aus denselben
spirituellen Wurzeln. Wir begegnen einander als Brüder – Brüder, die in gewissen Augenblicken
ihrer Geschichte ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, sich aber jetzt fest
entschlossen darum bemühen, Brücken beständiger Freundschaft zu bauen. Ich möchte
noch einmal bekräftigen, wie wertvoll für die Kirche der Dialog mit den Juden ist. Die
von der fundamentalistischen Lesart der Bibel befürwortete »Wörtlichkeit« ist in Wirklichkeit
ein Verrat sowohl am wörtlichen als auch am geistlichen Sinn, indem sie den Weg für
Instrumentalisierungen verschiedener Art öffnet, zum Beispiel durch die Verbreitung
kirchenfeindlicher Auslegungen der Schrift selbst. Wer den biblischen Text so behandelt,
als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre, sieht nicht, daß
das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch
die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Das Christentum vernimmt im Gegensatz
dazu in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt
und durch die Wirklichkeit einer menschlichen Geschichte hindurch ausbreitet. Die
wahre Antwort auf eine fundamentalistische Interpretation ist die »Auslegung der Heiligen
Schrift im Glauben«.
Die Synodenväter haben regelmäßigere Kontakte zwischen
Seelsorgern, Exegeten und Theologen empfohlen. Die Bischofskonferenzen sollten diese
Begegnungen fördern, um eine größere Gemeinsamkeit im Dienst am Wort Gottes zu unterstützen«.
Eine solche Zusammenarbeit hilft allen, die eigene Arbeit besser durchzuführen zum
Wohl der ganzen Kirche. Sich nämlich in den Gesichtskreis der Pastoralarbeit zu
versetzen bedeutet auch für die Wissenschaftler, dem heiligen Text in seinem Wesen
als Mitteilung zu begegnen, die der Herr den Menschen für das Heil macht.
Für
ökumenische Wortgottesdienste
Mit Blick auf die Ökumene sind wir überzeugt,
daß das gemeinsame Hören und Meditieren der Schrift uns eine reale, wenn auch noch
nicht volle Gemeinschaft leben läßt. Gemeinsam das Wort Gottes hören; die lectio divina
der Bibel halten; sich überraschen lassen von der Neuheit des Wortes Gottes, die nie
alt wird und sich nie erschöpft; unsere Taubheit für jene Worte überwinden, die nicht
mit unseren Meinungen oder Vorurteilen übereinstimmen; hören und studieren in der
Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten – all das stellt einen Weg dar, der beschritten
werden muß, um die Einheit im Glauben zu erreichen, als Antwort auf das Hören des
Wortes. Es ist daher gut, unter Wahrung der geltenden Normen und der verschiedenen
Traditionen die ökumenischen Wortgottesdienste zu vermehren. Diese liturgischen Feiern
nutzen der Ökumene. Es muß jedoch darauf geachtet werden, daß sie den Gläubigen nicht
als Ersatz für die Teilnahme an der Heiligen Messe angeboten werden. Wer sich erinnert,
wie sehr die Debatten rund um die Heilige Schrift besonders im Abendland die Spaltungen
beeinflußt haben, vermag zu erfassen, was für einen beachtlichen Fortschritt (ökumenische)
Gemeinschaftsübersetzungen darstellen. Darum ist die Förderung der Gemeinschaftsübersetzungen
der Bibel Teil der ökumenischen Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle allen danken,
die diese wichtige Verantwortung übernommen haben, und sie ermutigen, ihr Werk fortzusetzen.
Es
muß vermieden werden, einen Wissenschaftsbegriff aufrechtzuerhalten, demzufolge die
wissenschaftliche Forschung der Schrift gegenüber einen neutralen Standpunkt einnimmt.
Darum ist es notwendig, daß die Priesteramtskandidaten zusammen mit dem Studium der
Sprachen, in denen die Bibel geschrieben wurde, und der entsprechenden Auslegungsmethoden
ein tiefes geistliches Leben pflegen, um zu verstehen, daß man die Schrift nur erfassen
kann, wenn man sie lebt.
„Heiligkeit aktualisiert die Bibel“
Jeder
Heilige ist wie ein Lichtstrahl, der vom Wort Gottes ausgeht: So denken wir auch
an den hl. Pio von Pietrelcina als Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit; an den
hl. Josemaría Escrivá in seiner Verkündigung des universalen Rufs zur Heiligkeit;
an die sel. Teresa von Kalkutta, Missionarin der Nächstenliebe Gottes für die Ärmsten
der Armen, bis hin zu den Märtyrern des Nationalsozialismus und des Kommunismus, auf
der einen Seite vertreten durch eine Karmelitin, die hl. Theresia Benedicta vom Kreuz
(Edith Stein), und auf der anderen durch den Kardinalerzbischof von Zagreb, den sel.
Alois Stepinac. Die Heiligkeit in bezug auf das Wort Gottes gehört gewissermaßen zur
prophetischen Überlieferung, in der das Wort Gottes das Leben des Propheten selbst
in den Dienst nimmt. In diesem Sinne stellt die Heiligkeit in der Kirche eine Hermeneutik
der Schrift dar, der sich niemand entziehen kann.
Die Beziehung zwischen Christus,
dem Wort des Vaters, und der Kirche kann nicht einfach nur als Ereignis der Vergangenheit
verstanden werden, sondern es ist eine lebendige Beziehung, in die persönlich einzutreten
jeder Gläubige berufen ist. Tatsächlich sprechen wir von der Gegenwart des Wortes
Gottes heute bei uns: »Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt«
(Mt 28,20). Die Kirche ist eine Gemeinschaft, die das Wort Gottes hört und verkündet.
Die Kirche lebt nicht von sich selbst, sondern vom Evangelium und schöpft aus dem
Evangelium immer aufs neue Orientierung für ihren Weg. Es ist ein Hinweis, den jeder
Christ aufnehmen und auf sich selbst anwenden soll: Nur wer zuerst und vor allem auf
das Wort Gottes hört, wird es dann auch verkünden können.
Die Liturgie ist
das bevorzugte Umfeld, in dem Gott in der Gegenwart unseres Lebens zu uns spricht.
Man muß also die wesentliche Bedeutung, die die liturgische Handlung für das Verständnisdes
Wortes Gottes besitzt, verstehen und erleben. Außerdem gibt es eine enge Beziehung
zwischen der Heiligen Schrift und der sakramentalen Handlung bzw. der Eucharistie.
Die Eucharistie öffnet uns für das Verständnis der Heiligen Schrift, ebenso wie die
Heilige Schrift ihrerseits das eucharistische Geheimnis beleuchtet und erklärt. In
der Tat: Ohne die Erkenntnis der Realpräsenz des Herrn in der Eucharistie bleibt das
Verständnis der Schrift unvollständig. Darum hat die Kirche von jeher dem Wort Gottes
und der Eucharistie gleichermaßen Verehrung erwiesen, wenn auch in unterschiedlichen
gottesdienstlichen Formen. Die Sakramentalität des Wortes läßt sich in Analogie zur
Realpräsenz Christi unter den Gestalten des konsekrierten Brotes und Weines verstehen.
Christus, der unter den Gestalten von Brot und Wein wirklich gegenwärtig ist, ist
in analoger Weise auch in dem Wort gegenwärtig, das in der Liturgie verkündigt wird.
Eine Vertiefung des Empfindens für die Sakramentalität des Wortes kann also förderlich
sein, um das Geheimnis der Offenbarung mehr als eine Einheit in Tat und Wort zu verstehen.
„Lektoren
gut ausbilden!“
Bekanntlich wird das Evangelium vom Priester oder vom
Diakon verkündet, die Erste und Zweite Lesung hingegen in der lateinischen Tradition
vom damit beauftragten Lektor, einem Mann oder einer Frau. Ich möchte mich hier zum
Sprachrohr der Synodenväter machen, die die Notwendigkeit einer angemessenen Schulung
des Lektors in der liturgischen Feier betont haben – insbesondere was den Lektorendienst
betrifft, der als solcher im lateinischen Ritus ein Laiendienst ist. Die mit dieser
Aufgabe betrauten Lektoren müssen, auch wenn sie nicht die Beauftragung erhalten haben,
wirklich dafür geeignet und gut vorbereitet sein.
Mit Bezug auf das Lektionar
angemessen zu predigen ist wirklich eine Kunst, die gepflegt werden muß. Ich bitte
die zuständigen Autoritäten, in Analogie zum eucharistischen Kompendium auch Werkzeuge
und Hilfsmittel zu erarbeiten, die den Amtsträgern helfen können, ihre Aufgabe
möglichst gut zu erfüllen – wie zum Beispiel homiletische Leitlinien, in denen die
Prediger nützliche Hilfestellungen finden können.
Die Synode hat den Wunsch
geäußert, daß sich das Stundengebet im Gottesvolk stärker verbreiten möge, besonders
das Gebet der Laudes und der Vesper. Eine solche Ausweitung wird von selbst zu einer
größeren Vertrautheit der Gläubigen mit dem Wort Gottes führen. Zu diesem Zweck empfehle
ich, daß dort, wo es möglich ist, die Pfarreien und Ordensgemeinschaften dieses Gebet
unter Beteiligung der Gläubigen fördern.
Die Synodenväter haben alle Hirten
aufgefordert, in den ihnen anvertrauten Gemeinden die Wort-Gottes-Feiern zu verbreiten:
Sie sind bevorzugte Gelegenheiten der Begegnung mit dem Herrn. Äußerst angezeigt ist
die Wort-Gottes-Feier in jenen Gemeinden, in denen es aufgrund des Priestermangels
nicht möglich ist, an den gebotenen Feiertagen das eucharistische Opfer zu feiern.
Ich empfehle, daß von den zuständigen Autoritäten Direktorien für deren Riten verfaßt
werden, die sich die Erfahrung der Teilkirchen zunutze machen. Auf solche Weise sollen
in diesen Situationen Wort-Gottes-Feiern gefördert werden, die den Glauben der Gemeinde
nähren, wobei jedoch vermieden wird, daß sie mit Eucharistiefeiern verwechselt werden;
sie sollten vielmehr bevorzugte Gelegenheiten sein, zu Gott zu beten, daß er heilige
Priester nach seinem Herzen sende. „Stille wieder entdecken“
Unsere
Zeit ist der inneren Sammlung nicht förderlich, und manchmal hat man den Eindruck,
daß geradezu eine Angst besteht, sich auch nur für einen Augenblick von den Massenkommunikationsmitteln
zu trennen. Daher ist es heute notwendig, dem Gottesvolk den Wert der Stille zu
vermitteln. Die Zentralität des Wortes Gottes im Leben der Kirche wiederzuentdecken
bedeutet auch, den Sinn der inneren Sammlung und Ruhe wiederzuentdecken. Die große
patristische Überlieferung lehrt uns, daß die Geheimnisse Christi an die Stille gebunden
sind, und nur in ihr kann das Wort Raum in uns finden, wie in Maria, die zugleich
Frau des Wortes und der Stille ist – diese Aspekte sind in ihr nicht voneinander zu
trennen. Unsere Gottesdienste müssen dieses wahre Hören erleichtern.
Die Synode
hat außerdem noch einmal nachdrücklich bekräftigt, daß die der Heiligen Schrift entnommenen
Lesungen nie durch andere Texte ersetzt werden dürfen, so bedeutsam diese vom pastoralen
oder geistlichen Gesichtspunkt aus auch sein mögen: Kein Text der Spiritualität oder
der Literatur kann den Wert und den Reichtum erlangen, der in der Heiligen Schrift,
dem Wort Gottes, enthalten ist. Es handelt sich um eine altehrwürdige Norm der Kirche,
die bewahrt werden muß. Beim liturgischen Gesang bevorzuge man Gesänge,die ganz klar
biblisch inspiriert sind und durch die harmonische Übereinstimmung von Text und Musik
die Schönheit des göttlichen Wortes zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne ist es gut,
jene Gesänge zu verwenden, die wir der Überlieferung der Kirche verdanken und die
diesem Kriterium entsprechen. Ich denke insbesondere an den Gregorianischen Choral.
Man
sollte die „biblische Pastoral“ nicht neben anderen Formen der Pastoral, sondern als
Seele der ganzen Pastoral fördern. Es geht also nicht darum, in der Pfarrei oder in
der Diözese noch weitere Begegnungen hinzuzufügen, sondern es muß sichergestellt werden,
daß in den gewohnten Aktivitäten der christlichen Gemeinden, in den Pfarreien, in
den Verbänden und in den Bewegungen wirklich das Herzensanliegen die persönliche Begegnung
mit Christus ist, der sich uns in seinem Wort mitteilt. Ich ermuntere daher die Hirten
und die Gläubigen, die Bedeutung der Bibel als Seele der Pastoral zu berücksichtigen:
Das wird auch die beste Art sein, einigen pastoralen Problemen zu begegnen, die zum
Beispiel mit der Ausbreitung von Sekten verbunden sind, welche eine verzerrte und
instrumentalisierte Auslegung der Heiligen Schrift verbreiten. Dort, wo die Gläubigen
nicht zu einer Bibelkenntnis gemäß dem Glauben der Kirche und im Schoß ihrer lebendigen
Überlieferung herangebildet werden, entsteht ein pastorales Vakuum, in dem unter anderem
Sekten Boden finden können, um Wurzeln zu schlagen. Das Bibelapostolat muß verstärkt
werden.
Ich möchte daran erinnern, daß der grundlegende Faktor der Spiritualität
der großen monastischen Tradition stets die Betrachtung der Heiligen Schrift war,
insbesondere in der Form der lectio divina. Auch heute sind die älteren und neueren
Formen des geweihten Lebens berufen, wahre Schulen des geistlichen Lebens zu sein,
in denen die Schriften gemäß dem Heiligen Geist in der Kirche gelesen werden, so daß
das ganze Gottesvolk daraus Nutzen ziehen kann. „Für jedes Haus eine Bibel“
In
Treue gegenüber dem Wort Gottes müssen wir hervorheben, daß die Institution der Ehe
heute unter vielen Aspekten dem Angriff durch die gängige Mentalität ausgesetzt ist.
Angesichts der weitverbreiteten Unordnung der Affekte und des Aufkommens von Denkweisen,
die den menschlichen Leib und den Geschlechtsunterschied banalisieren, bekräftigt
das Wort Gottes den ursprünglichen Wert des Menschen, der als Mann und Frau geschaffen
wurde und zur treuen, gegenseitigen und fruchtbaren Liebe berufen ist.
Die
Synode wünscht, daß jedes Haus seine Bibel haben möge und sie in würdiger Weise
aufbewahre, um in ihr lesen und mit ihr beten zu können. Die notwendige Hilfe kann
von Priestern, Diakonen oder gut ausgebildeten Laien kommen. Die Synode hat auch die
Bildung kleiner Gemeinschaften unter den Familien empfohlen, um das Gebet und die
gemeinsame Betrachtung geeigneter Abschnitte aus der Schrift pflegen. Außerdem sollen
die Eheleute sich daran erinnern, daß das Wort Gottes auch in den Schwierigkeiten
des Ehe- und Familienlebens eine wertvolle Stütze ist. In diesem Zusammenhang möchte
ich auch das hervorheben, was die Synode über die Aufgabe der Frauen in bezug auf
das Wort Gottes gesagt hat. Der Beitrag des »Genius der Frau«, wie Papst Johannes
Paul II. ihn nannte, zur Kenntnis der Schrift wie zum gesamten Leben der Kirche ist
heute größer als in der Vergangenheit und betrifft nunmehr auch den Bereich der biblischen
Studien selbst. Die Synode hat sich in besonderer Weise mit der unverzichtbaren Rolle
der Frauen in der Familie, in der Erziehung, in der Katechese und in der Vermittlung
von Werten befaßt. Sie verstehen es, das Hören auf das Wort zu wecken, die persönliche
Beziehung zu Gott und den Sinn der Vergebung und des Teilens gemäß dem Evangelium
zu vermitteln, Überbringerinnen der Liebe, Lehrmeisterinnen der Barmherzigkeit und
Friedenstifterinnen sowie Übermittlerinnen von Wärme und Menschlichkeit in einer Welt
zu sein, die Menschen allzuoft nach kalten Kriterien der Ausbeutung und des Profi
ts behandelt. „Bibel immer in der Gemeinschaft lesen“
Das
Wort Gottes ist ein Wort, das sich an jeden persönlich richtet, aber es ist auch ein
Wort, das Gemeinschaft aufbaut, das die Kirche aufbaut. Deshalb muß der Text immer
innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft angegangen werden: Von großer Bedeutung ist
… die gemeinschaftliche Schriftlesung, weil das lebendige Subjekt der Heiligen Schrift
das Volk Gottes, die Kirche, ist. Demnach gehört die Heilige Schrift nicht der Vergangenheit
an, weil ihr Subjekt, das von Gott selbst inspirierte Volk Gottes, immer dasselbe
ist, und daher ist das Wort immer im lebenden Subjekt lebendig. Es ist darum wichtig,
die Heilige Schrift in der Gemeinschaft der Kirche zu lesen und zu hören, das heißt
mit allen großen Zeugen dieses Wortes, von den ersten Kirchenvätern bis zu den Heiligen
von heute und dem Lehramt von heute. Die Ablaßpraxis schließt die Lehre von den unendlichen
Verdiensten Christi ein, die die Kirche als Dienerin der Erlösung austeilt und zuwendet,
aber sie schließt auch die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen ein und macht uns
deutlich, wie eng wir in Christus miteinander vereint sind und wie sehr das übernatürliche
Leben jedes Einzelnen den anderen nützen kann. Unter diesem Gesichtspunkt unterstützt
uns die Lesung des Wortes Gottes auf dem Weg der Buße und der Bekehrung; sie erlaubt
uns, das Empfinden für die Zugehörigkeit zur Kirche zu vertiefen und erhält uns in
größerer Vertrautheit mit Gott.
Ich lade gemeinsam mit den Synodenvätern dazu
ein, unter den Gläubigen, vor allem im Familienleben, die marianischen Gebete zu
fördern - als Hilfe zur Betrachtung der heiligen Geheimnisse, von denen die Bibel
berichtet. Ein sehr nützliches Hilfsmittel ist zum Beispiel das persönliche oder gemeinschaftliche
Gebet des Rosenkranzes. Außerdem hat die Synode empfohlen, unter den Gläubigen das
Gebet des Angelus zu fördern. Auch einige frühe Gebete des christlichen Ostens, die
unter Bezugnahme auf die Theotokos, die Mutter Gottes, die gesamte Heilsgeschichte
durchlaufen, verdienen es, bekannt gemacht, geschätzt und verbreitet zu werden. Wir
beziehen uns insbesondere auf den Akathistos und auf die Paraklesis. 306 Mit diesen
Worten zu beten, erweitert die Seele und macht sie bereit für den Frieden, der von
oben kommt.
„Christen, bleibt im Heiligen Land!“
Durch
das Wirken des Heiligen Geistes ist das Wort zu einem genau definierten Zeitpunkt
und an einem bestimmten Ort Mensch geworden, in einem Landstrich an den Grenzen des
Römischen Reiches. Deshalb blicken wir, je mehr wir die Universalität und die Einzigartigkeit
der Person Christi betrachten, um so mehr mit Dankbarkeit auf jenes Land, in dem Jesus
geboren ist, gelebt hat und sich selbst für uns alle hingegeben hat. Darum haben die
Synodenväter an die glückliche Formulierung erinnert, die das Heilige Land als »das
fünfte Evangelium«bezeichnet. Wie wichtig ist es doch, daß es in jener Gegend christliche
Gemeinden gibt, trotz aller Schwierigkeiten! Die Bischofssynode bringt allen Christen,
die im Land Jesu leben und den Glauben an den Auferstandenen bezeugen, ihre zutiefst
empfundene Nähe zum Ausdruck. Hier sind die Christen aufgerufen, nicht nur ein Lichtstrahl
des Glaubens für die universale Kirche zu sein, sondern auch Sauerteig der Eintracht,
der Weisheit und des Gleichgewichts im Leben einer Gesellschaft, die traditionell
stets pluralistisch, multiethnisch und multireligiös war und dies auch weiterhin ist«.
DieKirche ist ihrem Wesen nach missionarisch. Wir können die Worte des ewigen
Lebens, die uns in der Begegnung mit Jesus Christus geschenkt werden, nicht für uns
behalten: Sie sind an alle, an einen jeden Menschen gerichtet. Jeder Mensch unserer
Zeit, ob er es weiß oder nicht, braucht diese Verkündigung. Der Herr selbst erwecke,
wie zur Zeit des Propheten Amos, bei den Menschen neuen Hunger und neuen Durst nach
einem Wort des Herrn (vgl. Am 8,11). Wir haben die Verantwortung, das weiterzugeben,
was wir unsererseits aus Gnade empfangen haben. Die ersten christlichen Gemeinden
haben gespürt, daß ihr Glaube nicht einem besonderen kulturellen Brauch zuzuordnen
war, der von Volk zu Volk verschieden ist, sondern dem Bereich der Wahrheit, die unterschiedslos
alle Menschen betrifft. Das Neue der christlichen Verkündigung ist, daß sie nun allen
Völkern sagen darf: »Er hat sich gezeigt. Er selbst. Und nun ist der Weg zu ihm offen.
Die Neuheit der christlichen Verkündigung besteht nicht in einem Gedanken, sondern
in einem Faktum: Er hat sich gezeigt«.
„Alle Getauften müssen verkündigen!“
Alle
Getauften sind für die Verkündigung verantwortlich. Kein Christgläubiger darf sich
von dieser Verantwortung entbunden fühlen. Dieses Bewußtsein muß in jeder Pfarrei,
Gemeinschaft, Vereinigung und kirchlichen Bewegung neu erweckt werden.
Die
Synodenväter haben bekräftigt, daß auch in unserer Zeit ein entschlossener Einsatz
in der missio ad gentes wichtig ist. Die Kirche darf sich keinesfalls auf eine Pastoral
der »Aufrechterhaltung« beschränken, die nur auf jene ausgerichtet ist, die das Evangelium Christi
bereits kennen. Der missionarische Schwung ist ein klares Zeichen für die Reife einer
kirchlichen Gemeinschaft. Daher muß die Verkündigung explizit sein. In der Kraft des
Geistes (vgl. 1 Kor 2,4-5) muß die Kirche auf alle zugehen und auch weiterhin prophetisch
das Recht und die Freiheit der Menschen verteidigen, das Wort Gottes zu hören. Dabei
muß sie die wirksamsten Mittel suchen, um es zu verkünden, auch auf die Gefahr der
Verfolgung hin.
Viele Menschen sind getauft, aber nicht genügend evangelisiert.
Oft verlieren Nationen, die einst reich an Glauben und Berufungen waren, unter dem
Einfluß einer säkularisierten Kultur ihre Identität. Das Erfordernis einer Neuevangelisierung
muß furchtlos bekräftigt werden. Unsere Verantwortung beschränkt sich nicht darauf,
der Welt allgemein anerkannte Werte anzubieten; vielmehr bedarf es der expliziten
Verkündigung des Wortes Gottes. Es gibt keine wirkliche Evangelisierung, wenn nicht
der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich, das Geheimnis von Jesus
von Nazaret, des Sohnes Gottes, verkündet werden. Wir waren (auf der Synode) tiefbewegt
von den Berichten jener, die auch unter Regimen, die dem Christentum feindselig gegenüberstehen,
oder in Situationen der Verfolgung den Glauben gelebt und ein leuchtendes Zeugnis
vom Evangelium gegeben haben. All das darf uns keine Angst machen. Ich möchte mit
der ganzen Kirche Gott loben für das Zeugnis so vieler Brüder und Schwestern, die
auch in unserer Zeit das Leben hingegeben haben, um die Wahrheit der Liebe Gottes
mitzuteilen. Außerdem sage ich im Namen der ganzen Kirche Dank für die Christen, die
angesichts von Hindernissen und Verfolgungen um des Evangeliums willen nicht aufgeben.
Zugleich sind wir mit tiefer und solidarischer Zuneigung den Gläubigen all jener christlichen
Gemeinden nahe, die – besonders in Asien und in Afrika – in dieser Zeit um des Glaubens
willen das Leben oder die gesellschaftliche Ausgrenzung riskieren. Wir sehen hier
den Geist der Seligpreisungen des Evangeliums am Werk. Gleichzeitig erheben wir unsere
Stimme dafür, daß die Regierungen der Nationen allen die Gewissens- und Religionsfreiheit
und auch die Freiheit, den eigenen Glauben öffentlich zu bezeugen, gewährleisten mögen.
„Bibellesen
drängt zu sozialem Engagement“
Im Licht der Worte des Herrn erkennen
wir die »Zeichen der Zeit« in der Geschichte und scheuen nicht den Einsatz zugunsten
der Leidenden und der Opfer des Egoismus. Es geht darum zu erreichen, daß durch die
Kraft des Evangeliums die Urteilskriterien, die bestimmenden Werte, die Interessenpunkte,
die Denkgewohnheiten, die Quellen der Inspiration und die Lebensmodelle der Menschheit,
die zum Wort Gottes und zum Heilsplan im Gegensatz stehen, umgewandelt werden. Freilich
ist es nicht die direkte Aufgabe der Kirche, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen,
auch wenn sie das Recht und die Pflicht besitzt, sich zu ethischen und moralischen
Fragen zu äußern, die das Wohl der Menschen und der Völker betreffen. Es ist vor allem
Aufgabe der gläubigen Laien, die in der Schule des Evangeliums herangebildet wurden,
direkt in das gesellschaftliche und politische Handeln einzugreifen. Darüber hinaus
möchte ich alle darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, die Menschenrechte jeder
Person zu verteidigen und zu fördern, die auf dem Naturrecht beruhen, das ins Herz
des Menschen eingeschrieben ist. Die Kirche wünscht sich, daß durch die Bestätigung
dieser Rechte die Würde des Menschen wirksamer anerkannt und allgemein gefördert werde.
Sie ist das Merkmal, das Gott, der Schöpfer, seinem Geschöpf aufgeprägt hat und von
Jesus Christus durch seine Menschwerdung, seinen Tod und seine Auferstehung angenommen
und erlöst wurde. Daher kann die Ausbreitung des Wortes Gottes die Bestätigung und
die Achtung dieser Rechte nur stärken.
Manchmal scheinen die Feindseligkeiten
auf unserem Planeten die Form eines interreligiösen Konflikts anzunehmen. Noch einmal
möchte ich betonen, daß die Religion niemals Intoleranz oder Kriege rechtfertigen
kann. Man kann nicht im Namen Gottes Gewalt anwenden! Jede Religion sollte auf einen
rechten Gebrauch der Vernunft drängen und ethische Werte fördern, die das zivile Zusammenleben
aufbauen. Getreu dem Werk der Versöhnung, das von Gott in Jesus Christus vollbracht
wurde, müssen die Katholiken und alle Menschen guten Willens sich bemühen, Vorbilder
der Versöhnung zu sein, um eine gerechte und friedliche Gesellschaft zu schaffen.
Das Phänomen der Migration bietet neue Möglichkeiten für die Ausbreitung des
Wortes Gottes. In diesem Zusammenhang haben die Synodenväter bekräftigt, daß die
Migranten das Recht haben, das Kerygma zu hören, das ihnen angeboten, nicht aber aufgezwungen
wird.
„Schöpfung nicht ausbeuten“
Die Diakonie der Nächstenliebe,
die in unseren Kirchen niemals fehlen darf, muß stets an die Verkündigung des Wortes
und an die Feier der heiligen Geheimnisse geknüpft sein. Zugleich muß anerkannt und
hervorgehoben werden, daß die Armen selbst auch Träger der Evangelisierung sind. In
der Bibel ist der wahre Arme derjenige, der ganz auf Gott vertraut, und Jesus selbst
bezeichnet sie im Evangelium als selig, »denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,3;
vgl. Lk 6,20). Die Kirche darf die Armen nicht enttäuschen: Die Hirten sind aufgerufen,
ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen, sie in ihrem Glauben zu leiten und sie zu ermutigen,
ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Indem die Offenbarung uns den Plan
Gottes für den Kosmos kundtut, veranlaßt sie uns auch, falsche Haltungen des Menschen
anzuprangern, wenn dieser die Dinge nicht als Abglanz des Schöpfers erkennt, sondern
sie als reine Materie betrachtet, die skrupellos manipuliert werden kann. In diesem
Fall fehlt dem Menschen jene wesentliche Demut, die es ihm erlaubt, die Schöpfung
als Geschenk Gottes anzuerkennen, das nach dessen Plan angenommen und gebraucht werden
muß. Die Anmaßung des Menschen, der so lebt, als gäbe es Gott nicht, führt im Gegenteil
dazu, die Natur auszubeuten und zu entstellen, weil er in ihr nicht das Werk des Schöpferwortes
wahrnimmt.
„Bibel, ein Kodex für die Kulturen“
Das Wort
Gottes hat durch die Jahrhunderte hindurch die verschiedenen Kulturen inspiriert und
sittliche Grundwerte, hervorragende künstlerische Ausdrucksformen und vorbildliche
Lebensstile hervorgebracht. Im Hinblick auf eine erneuerte Begegnung zwischen Bibel
und Kulturen möchte ich daher gegenüber allen Kulturträgern noch einmal bekräftigen,
daß sie nichts zu befürchten haben, wenn sie sich dem Wort Gottes öffnen, das die
wahre Kultur niemals zerstört, sondern einen ständigen Ansporn darstellt für die Suche
nach immer passenderen und bedeutungsvolleren menschlichen Ausdrucksformen. Jede wahre
Kultur muß, um wirklich dem Menschen zu dienen, offen sein für die Transzendenz, also
letztendlich für Gott. Der Sinn der Bibel als großer Kodex für die Kulturen muß vollständig
wiedererlangt werden.
Unter den neuen Formen der Massenkommunikation spielt
das Internet heute eine immer größere Rolle. Es bietet ein neues Forum zur Verkündigung
des Evangeliums, wobei man sich jedoch bewußt sein muß, daß die virtuelle Welt niemals
die reale Welt ersetzen kann und daß sich die Evangelisierung die von den neuen Medien
angebotene Virtualität zur Aufnahme bedeutender Beziehungen nur dann zunutze machen
kann, wenn es zur persönlichen Begegnung kommt, die als solche stets unersetzlich
bleibt. In der Welt des Internet, durch das Milliarden von Bildern auf Millionen Bildschirmen
überall auf dem Erdkreis erscheinen, muß das Antlitz Christi sichtbar werden und seine
Stimme zu hören sein, denn wo kein Platz für Christus ist, da ist auch kein Platz
für den Menschen.
Viele Völker hungern und dürsten heute nach dem Wort Gottes,
aber der Zugang zur Heiligen Schrift steht ihnen leider noch nicht weit offen, wie
das Zweite Vatikanische Konzil es gewünscht hatte! Daher hält die Synode vor allem
die Ausbildung von Fachleuten für wichtig, die sich der Bibelübersetzung in die verschiedenen
Sprachen widmen. Ich ermutige dazu, Mittel in diesen Bereich zu investieren. Insbesondere
möchte ich empfehlen, die Bemühungen der Katholischen Bibelföderation zu unterstützen,
damit die Zahl der Übersetzungen der Heiligen Schrift und ihre flächendeckende Verbreitung
weiter zunimmt.
„Ja zum Dialog mit dem Islam“
Wir anerkennen,
daß in der Überlieferung des Islam viele biblische Gestalten, Symbole und Themen vorhanden
sind. Ich wünsche, daß die vor vielen Jahren geknüpften vertrauensvollen Beziehungen
zwischen Christen und Muslimen fortbestehen und sich in einem Geist des aufrichtigen
und respektvollen Dialogs weiterentwickeln. Die Synode hat den Wunsch geäußert, daß
in diesem Dialog die Achtung vor dem Leben als Grundwert, die unveräußerlichen Rechte
des Mannes und der Frau und ihre gleiche Würde vertieft werden mögen. Unter Berücksichtigung
der Unterscheidung zwischen sozio-politischer Ordnung und religiöser Ordnung müssen
die Religionen ihren Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Ein Dialog der Religionen untereinander
wäre nicht fruchtbar, wenn er nicht auch die wahre Achtung jedes Menschen einschließen
würde, damit dieser seine Religion frei ausüben kann. Achtung und Dialog verlangen
Gegenseitigkeit in allen Bereichen, vor allem was die Grundfreiheiten, und ganz
speziell die Religionsfreiheit, betrifft.
Wenn wir die Zentralität des göttlichen
Wortes im christlichen Leben wiederentdecken, finden wir den tiefsten Sinn dessen
wieder, was Papst Johannes Paul II. nachdrücklich angemahnt hat: die missio ad gentes
fortzusetzen und mit allen Kräften eine Neuevangelisierung vorzunehmen, vor allen
in den Nationen, in denen das Evangelium durch einen weitverbreiteten Säkularismus
in Vergessenheit geraten oder den meisten Menschen gleichgültig geworden ist. Ich
erinnere alle Christen daran, daß unsere persönliche und gemeinschaftliche Beziehung
zu Gott von der wachsenden Vertrautheit mit dem göttlichen Wort abhängt. Schließlich
wende ich mich an alle Menschen, auch an jene, die sich von der Kirche entfernt, den
Glauben aufgegeben oder die Verkündigung des Heils nie vernommen haben. Zu jedem einzelnen
sagt der Herr: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die
Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und
er mit mir« (Offb 3,20).