Jakobspilger: „Der eigentliche Weg beginnt in Santiago“
Anlässlich des Heiligen
Jahres 2010 „pilgert“ Papst Benedikt XVI. am kommenden Wochenende ins spanische Compostela
de Santiago. Dort mündet der so genannte Jakobsweg: Der „Camino de Santiago“ erstreckt
sich von den Pyrenäen bis zum Grab des Heiligen Jakobus in der Kathedrale von Santiago;
vom Besuch des Wallfahrtsortes erhoffen sich Pilger unter anderem Sündenablass und
Heilung von Krankheiten. Anne Preckel hat einen von ihnen befragt.
„Nur
der Tag bricht an, für den wir wach sind.“ - aus: Henry David Thoreau, Walden „Auf
dem Jakobsweg sucht man sich selbst und findet Gott, oder man sucht Gott und findet
sich selbst.“ Jost Kunzemann aus Großburgwedel ist in den letzten Jahren verschiedene
Abschnitte des Jakobsweges gegangen. Die Wanderer betritten den „Camino“ aus unterschiedlichen
Gründen, erzählt der Mittsechziger im Gespräch mit Radio Vatikan: „Sehr viele aus
christlich-kirchlichen Gründen der Selbstfindung und um Gott näher zu sein. Das ist
tatsächlich da das Moment. Aber andere, die sagen nur: Ich bin dann mal weg (lacht),
oder wollen eine längere Wanderung machen.“ Die Jakobusverehrung begann europaweite
schon im 10. Jahrhundert. Papst Alexander III. erklärte Santiago im 12. Jahrhundert
zur „Heiligen Stadt“. Sieben Jahre lang soll Jacobus in Galizien versucht haben, die
Bevölkerung zum Christentum zu bekehren. Bei der Rückkehr des Apostels nach Palästina
im Jahr 44 ließ Herodes Agrippa ihn töten. Sein Leichnam wurde zurück nach Galizien
gebracht und in einem Wald, dem „Campus Stellae“, begraben. Davon leitet sich das
Wort „Compostela“ ab, erklärt Jost: „Der Name weist auf eine Sternschnuppenerscheinung
hin, die hatte ein Hirt im Jahr 813. Und er hat dann das Grab des Heiligen Jakobus
gefunden. Daraus entwickelte sich dann eine Pilgerstätte, und der Schlachtruf „Santiago“
begleitete die christlichen Truppen auf den Kämpfen gegen die Mauren. Ab dem 11. Jahrhundert
entwickelt sich Santiago dann zu einem der drei großen Pilgerzielen neben Jerusalem
und Rom.“ Heute weist die gelbe Jakobsmuschel auf blauem Grund – das Symbol des
Jakobsweges – immer mehr Pilgern den Weg. Im Heiligen Jahr 2010 rechnet die katholische
Kirche gar mit einem historischen Pilgerrekord. Neben Gläubigen sind auf der Route
auch Abenteurer, Naturfreunde und Esoterik-Fans unterwegs. Für Jost bedeutet das Pilgern
nach Santiago spirituelle Erneuerung: „Der Jakobsweg ist eine große Herausforderung
für den Körper, aber auch ein Genuss dadurch, dass man wandert, eben das Losgelöstsein.
Man lässt sein alltägliches Leben hinter sich und wird aufgenommen in den Strom der
Veränderung.“ Zu dieser Erfahrung trage der Kontakt mit anderen Pilgern aus
aller Welt bei. So habe ihn bei seiner letzten Wanderung besonders die Begegnung mit
einem holländischen Pilger berührt, der unter Kinderlähmung litt. Jost: „Der zog
ein Bein nach und war auf diese Weise schon von Amsterdam her fast 2000 km auf diesem
Weg gegangen, viele, viele Monate lang. Er offenbarte mir seine Gewissheit, dass wenn
er den Schrein des Heiligen Jakob in Santiago erreichen würde, sein gelähmtes Bein
gesund werden würde. Das hat mich also sehr erschüttert, aber die Hoffnung ist ja
da, und schon die Hoffnung wird ihm sehr viel nutzen.“ Bei den Begegnungen
mit anderen Pilgern sei oft ein starkes Gemeinschaftsgefühl entstanden, unabhängig
von Herkunft oder Alter, Ansehen oder Geschlecht: „Wenn’s irgend möglich war, habe
ich in Herbergen übernachtet, mir waren die Gespräche abends mit anderen Pilgern wichtig
und das Dazugehörigsein und das „Buon Camino“, wenn man sich auf der nächsten Wegstrecke
dann wieder sah.“ Beim Wandern selbst habe er dagegen oft ein großes Gefühl
der Freiheit verspürt, so Jost weiter: „Oft ist das Denken abgeschaltet, der Wind
rauscht in den Bäumen und am Wegrand begeleiten einen bunte Blumen, Schmetterlinge,
Vogelgesang.“ Zu dieser meditativen Stimmung trage natürlich auch die abwechslungsreiche
und teilweise atemberaubende Landschaft bei: „Als außergewöhnlich schön empfand
ich den letzten Höhenzug vor Santiago, der immerhin 1.300 m hoch zu dem alten keltischen
Wallfahrtsort O Cebreiro geht. Die dortigen Berge blühen im Mai und April und sind
mit Heidekraut überzogen. Und dieses rot-violette Feuer, was die ausstrahlen, gibt
ein fantastisches Panorama.“ „Der Weise ist ruhig,
niemals rastlos oder ungeduldig. Er verweilt jeden Augenblick dort, wo er gerade ist,
wie manche Wanderer bei jedem Schritt ihren Körper ausruhen, während andere ihre Beinmuskeln
nie entspannen, bis die angestaute Müdigkeit sie zum Anhalten zwingt.“ - aus: Henry
David Thoreau, Walden Ob spirituell auf der Suche oder nicht – entscheidend
beim Wandern sei eine bestimmte innere Haltung, erzählt Jost: „Wichtig ist, dass
man den Weg gelassen geht, das heißt ohne Hetze. Es gibt Pilger, denen ich begegnet
bin, die wollten möglichst lange Strecken schaffen am Tag und hatten dementsprechend
eine viel zu große Geschwindigkeit drauf. Man muss so gehen, dass alles Geschehen
in der Welt einem weit entfernt und einerlei ist.“ Auch wenn der knapp 800 km
lange Pilgerweg eine körperlich Herausforderung sei, wirke das Ziel – die Grabstätte
des Heiligen Jakobus – wie ein Magnet, beobachtet der Wanderer: „Als ob Santiago
de Compostela die Pilger förmlich anzieht, werden in den Schlussetappen mehr Kilometer
zurückgelegt als anfangs. Auch anfänglich schmerzende Knie spürt man dann längst nicht
mehr, das läuft sich alles irgendwie ein. Man darf sich also nie anfangs abschrecken
lassen.“ Und schließlich werde man am Ende ja auch für die Anstrengungen belohnt:
„Und dann sieht man von einer Bergkuppe aus Santiago dann plötzlich im Tal liegen,
und jeder Pilger verweilt in andächtigem Schweigen.“ Die spirituelle Erneuerung
- sie zeigt sich symbolisch am Durchschreiten der Pilger durch die so genannten „Pforte
der Vergebung“ oder „Heiligen Pforte“, die sich an der Ostseite der Kathedrale in
Compostela befindet. Das Ganze sei sehr feierlich, erzählt Jost; zu besonderen Anlässen
werde ein 50 kg-schweres Weihrauchfass am langen Seil durch das Querschiff geschwungen.
Das Herz der Kirche ist aber natürlich der Altar mit der Figur des Heiligen Jakobus:
„Die Säulenbasis haben die Pilger dann mit den Händen zu berühren, um einen Sündenablass
zu bekommen.“ „Es hat wenig Sinn, unsere Schritte in den Wald zu lenken,
wenn sie uns nicht darüber hinaus führen.“ - aus: Henry David Thoreau,
Walden Und welche Wirkung hatte die Ankunft in Santiago auf Pilger Jost?
Der Weg ist das Ziel, so seine Erkenntnis: „In Santiago angekommen hatte ich nicht
nur den Camino, sondern auch mich selbst, und was das Leben bisweilen verzerrt hat,
hinter mir gelassen. Man ist nicht mehr der gleiche Mensch wie vorher, der Weg endet
nicht in Santiago, der Weg beginnt in Santiago, einmal Pilger, immer Pilger.“ (rv
03.11.2010 pr)