Ein Vortrag von Aldo Parmeggiani (Radio Vatikan) in Brixen/Südtirol am 14. Oktober
2010, bei der Vorstellung eines Papst-Porträts von Gotthard Bonell „Über den Papst
wird viel gesprochen, viel geschrieben: Das ist gut. Nicht immer ist das, was über
ihn geschrieben und gesprochen wird, auch richtig – das ist nicht gut. Kein Papst
in der langen Geschichte der Kirche war der öffentlichen Meinung jemals so ausgesetzt,
wie es heute Benedikt XVI. ist. Später wird es einmal heißen: Er regierte im Zeitalter
der digitalen Kommunikation. Als erster Papst des 21. Jahrhunderts wird Benedikt mit
ständigen gesellschaftspolitischen Umwälzungen, mit raschen wissenschaftlichen Entwicklungen
und mit der Globalisierung konfrontiert. Das Porträt aus der Hand des Künstlers Gotthard
Bonell, das vor uns steht, wird auch in vielen Jahren die gleichen Linien tragen
wie heute: Es wird sich nicht ändern. Das aber, was heute über Benedikt geschrieben
und gesprochen wird, wird nicht so stehen bleiben. Es wird im Laufe der Zeit andere
Formen annehmen, andere Akzente erhalten, anderen Urteilen ausgesetzt sein. Der hellste
Teil im Bild und somit auch das Zentrum der Tafel sind das auffallend weiße Haar und
die Stirn, Symbol für Intellekt und Intelligenz. Und dann die wachen, strengen Augen
- Symbol für Innerlichkeit und Charakter. Etwas gebeugt unter der Last der Tradition
und wohl auch der gegenwärtigen Situation.
Man sieht es Benedikt an: Die Aufgabe,
die er von seinem Vorgänger Johannes Paul II übernommen hat, ist keine leichte. Für
den 83-Jährigen gilt es, eine Kirche mit mehr als einer Milliarde Menschen zu führen
und verschiedenen Generationen, verschiedenen Denkweisen, verschiedenen Ansprüchen
Orientierung zu geben. Der Papst muss Staatsoberhaupt, oberster Glaubenshüter, Seelsorger
und „Vater aller Gläubigen“ gleichzeitig sein. Ist eine Zeitspanne von fünf Jahre
lang oder nicht lang? Darüber könnte man lange diskutieren und Argumente dafür oder
dagegen finden. Für eine Bewertung des bisherigen Pontifikates Benedikts XVI. ist
es mit Sicherheit zu früh; erst spätere Generationen werden darüber befinden können,
wie Benedikt als „Pontifex Maximus“ in die Geschichtsbücher der Kirche eingehen wird.
Heute steht dieser Papst auf der internationalen Bühne im Brennpunkt medialer Beobachtung,
im Lichtkegel der Anerkennung, aber auch der Kritik. Ist es Schuld der Medien, der
Journalisten, wenn der Papst und seine Kirche in den letzten Jahren immer wieder in
die negativen Schlagzeilen geraten sind? Ja! Und Nein. Die Journalisten sind und
sollen in gewisser Hinsicht ja auch ‘Hüter der Wahrheit’ sein, ein Wort, dass diesem
Papst ganz besonders wichtig und teuer ist. Meinungsfreiheit und Chronistenpflicht
gehören ja zu den großen Errungenschaften in der Demokratie, das weiß auch der Papst.
Manchmal hinkt der Vatikan der modernen Medienhektik etwas hinterher, manchmal sind
es die weltlichen Presseorgane, die gewisse Urteile, wenn nicht Vorurteile über Papst
und Vatikan allzu schnell und selbstgerecht auf die Titelseite setzen.
Mutter
Teresa hat einmal auf die Frage eines Journalisten ‘Was muss sich in der Kirche ändern?
geantwortet: Sie und ich. Mit diesem weisen Ausspruch einer großen Frau möchte ich
einen Rückblick auf das bisherige Pontifikat Benedikts beginnen: ‘Herr, tu mir das
nicht an, Du hast Jüngere und Bessere!’ Dieses Stoßgebet spricht Joseph Ratzinger
am Abend des 19. April 2005, dem Tag seiner Wahl zum 265. Nachfolger Petri. Es ist
mehr geflüstert als gesprochen – erst auf der Loggia des Petersdomes wird seine Stimme
wieder fester, und er verkündet der Welt: ‘Ich bin nur ein einfacher Diener im Weinberg
des Herrn’. Jubelnder Applaus. Der erste große Applaus, den Benedikt in seinem Leben
entgegennimmt. Weitere werden folgen. Auf den zahlreichen Reisen, auf dem Petersplatz,
in der Audienzhalle und überall dort, wo sich der Papst öffentlich zeigt. Im In- wie
im Ausland.
Das ist der eine Aspekt, doch es gibt auch einen anderen. Die
moderne Medienwelt braucht Schlagzeilen,- wenn möglich negative. Das gilt auch für
die Kirche, auch für den Papst. Wenn der normale Leser und Fernseh-Zuschauer auf die
fünf Jahre des Pontifikats von Papst Benedikt zurückschaut, dann fallen ihm vermutlich
schnell folgende Punkte ein: Dialog mit der Piusbruderschaft, Wiederzulassung der
Tridentinischen Messe, Karfreitagsfürbitte für die Juden. Vielleicht denkt er auch
noch an die Regensburger Rede, in der Papst Benedikt ein Zitat nennt, in dem es hieß:
Mohammed hat nichts Gutes gebracht. Und es fällt ihm vielleicht ein, dass der Papst
auf dem Flug nach Afrika seine Überzeugung ausgesprochen hat, der Gebrauch von Kondomen
mache Aids nur noch schlimmer. Sicher gibt es viele Menschen, die aufmerksamer sind
und daher auch viele andere Akzente im Pontifikat von Papst Benedikt aufzählen können.
Aber der weniger nachdenkliche Zeitgenosse wird möglicherweise hauptsächlich an die
genannten Punkte denken und daher ein eher negatives, jedenfalls lückenhaftes und
oberflächliches Bild vom Papst haben. Denn Schlagzeilen prägen sich schneller in das
Bewußtsein ein, lassen sich leichter merken, als lange Reden und Abhandlungen eines
gelehrten Papstes. Und so wird die berüchtigte Regensburger Rede bei milden Medien-Richtern
als ‘Ausrutscher’ bezeichnet, bei den Gestrengen bereits als unerhörter Skandal, als
eine Brüskierung gegenüber allen Muslimen.
Niemand sagt freilich, dass die
besagte Rede ausschließlich gegen den Zeitgeist der Heimat des Papstes, gegen den
Westen gewandt war: Europa, sagt der Professor-Papst wenig schmeichelhaft in derselben
Rede, lege seit Jahrhunderten in immer neuen Hieben die Axt an die eigenen geistigen
Wurzeln und sei als Folge in seiner heutigen Gestalt zum geforderten interkulturellen
Dialog unfähig. Und nur wenige berichten darüber,wie aus der Kotroverse mittlerweile
ein christlich-islamischer Dialog entstanden ist, der ohne Beispiel ist... Das gibt
ja auch keine negative Schlagzeile!
Dieser Papst entdeckt – und auch das ergab
keine Schlagzeile - die Kirchenväter neu und schafft damit eine völlig neue Ökumene
mit der Orthodoxie unter dem Patriarchen von Konstantinopel, aber vor allem auch mit
dem russisch-orthodoxen Patriarchat von Moskau. Der Leiter des Außenamts der russischen
orthodoxen Kirche, Metropolit Hilarion, äußerte erst vor kurzem die Gewissheit, dass
es in absehbarer Zeit zu einer ersten Begegnung zwischen dem Moskauer Patriarchen
Kyrill I. und Papst Benedikt XVI. kommen werde. Der Papst werde in Russland wegen
seiner Verteidigung christlicher Werte besonders geschätzt. „Die Zeit und die Personen
haben sich geändert", sagte der orthodoxe Metropolit und wollte damit sagen: Unter
Benedikt ist aus orthodoxer Perspektive mehr möglich als unter dem Polen Johannes
Paul. – Eigentlich eine Bombenmeldung, die aber nur in wenigen Blättern nachzulesen
war.
Zur Piusbruderschaft: Die Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen
der erzkonservativen Pius-Bruderschaft hat viel Staub aufgewirlbelt. Mit Recht. Dass
unter den vier Bischöfen der Pius-Brüder auch jemand ist, der den Holocaust leugnet
- nämlich Williamson -, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bis zum Vatikan durchgedrungen.
In der Tat räumt der Papst ein, der Vatikan hätte bei seinem Vorgehen besser auf die
"im Internet zugänglichen Nachrichten" über Williamson achten müssen. Dabei gab es
durchaus Hinweise: Schon zwei Monate vor der Aufhebung der Exkommunikation informierte
der Bischof von Stockholm den Vatikan über Williamsons antijüdische Einstellung. Empfänger
der Depesche war das Staatssekretariat in Rom. Doch dort will man von der Warnung
aus Schweden nichts gewußt haben. Eine Fehleinschätzung mit weitreichenden Folgen,
für die einer dann schließlich die Verantwortung übernimmt: nämlich Papst Benedikt
XVI. selber, in seinem Brief an den Weltepiskopat vom März vergangenen Jahres, in
dem er sich schüztend vor seine engsten Mitarbeiter stellt! Für den Papst sollte die
Aufhebung des Kirchenbannes eine ausgestreckte Hand bedeuten, die einer Gruppierung
von 600.000 Gläubigen und 500 Priestern gilt, die sich von Rom abgespaltet hat. Nicht
mehr und nicht weniger: Die vier Bischöfe bleiben nämlich kirchenrechtlich weiterhin
suspendiert. Nicht exkomminiziert, sondern suspendiert! Es ist ihnen untersagt, ihr
Amt auszuüben. Der Schritt bedeutet also den Versuch einer Versöhnung, nicht aber
eine Rehabilitierung. Aber die Schlagzeile dazu lautete monatelang: Papst rehabilitiert
Holocaustleugner. Die Turbolenzen um die Piusbruderschaft haben dem Vatikan sicherlich
geschadet. Die Pannen, die passiert sind, beruhen – wie selbst Papst Benedikt anmerkt
– auf Informationsmangel. Und dieser Meinung schließen sich viele Kenner der internen
Strukturen des Vatikans an. Selbst der Vatikansprecher P. Federico Lombardi, ein unbestrittener
Medienprofi, räumt ein, eine effiziente vatikanische Kultur der Kommunikation müsse
erst geschaffen werden. Jede Abteilung kommuniziere eigenständig, ohne an eine Zusammenarbeit
mit der Presseabteilung des Vatikans zu denken. Erst vor drei Tagen hat Papst Benedikt
vor dem Journalistenkongress in Rom zu diesem Thema folgendes gesagt:
„Die
neuen Technologien und der Fortschritt, den sie mit sich bringen, können das Wahre
und das Falsche austauschbar machen und dazu führen, dass man das Reale mit dem Virtuellen
verwechselt. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass ein vermitteltes Ereignis, sei
es froh oder traurig, als Spektakel und nicht als Gelegenheit zum Nachdenken verstanden
wird. Wenn ein Ereignis hauptsächlich präsentiert wird, um Emotionen auszulösen, tritt
das authentische Werben um den Menschen in den Hintergrund. Es besteht die Gefahr,
dass das Virtuelle sich von der Realität entfernt und nicht zur Suche des Wahren antreibt.“
War
der Papst in den letzten Jahren also nur ein Opfer unzureichender Kommunikation? Vatikanexperten
meinen, dass es auch in der Verwaltung grundsätzliche Defizite gebe. Wie sieht diese
Verwaltung aus? Ihren Kern bilden die neun Kongregationen. Sie sind mit Ministerien
vergleichbar. Das übergeordnete Organ ist das Staatssekretariat, die Zentralbehörde
der Kurie. Ihr Leiter ist der höchste politische Repräsentant des Heiligen Stuhls.
Was fehlt, ist eine regelmäßige, systematische Koordinierung, sozusagen eine Querverbindung
zwischen den einzelnen Kongregationen; in der Politik wäre dies das Kabinett. Andererseits
möchte ich darauf hinweisen, dass der Vatikan-Staatsapparat bei einigen Unzulänglichkeiten
auch wiederum ein ‘Wunder’ an weltweit funktionierender Bürokratie darstellt. Wenn
man bedenkt, dass der Hl. Stuhl, der mit der ganzen Welt diplomatische Beziehungen
unterhält, weit weniger Angestellte hat als ein einziges kleines (italienisches) Ministerium
in Rom, kann man staunen. Das meiste läuft gut, aber wenn etwas daneben geht, dann
steht es in allen Zeitungen.
Über den unseligen Missbrauchskandal, der das
ganze Jahr die negativen Schlagzeilen über die katholische Kirche beherrschte, läßt
Benedikt keinen Zweifel: Eine ungeheure Schuld, sie läßt sich nicht relativieren.
In der Kirche etwas ganz Schlimmes, für die Kirche ein unermesslicher Schaden. Ein
nicht geringer Teil der Medien hat sich selbst aus der Liga der seriösen Berichterstattung
ausgeschlossen. Vielfach heißt die Schlagzeile dazu: ‘Der Papst schweigt zu den Missbrauchsskandalen’.
Der Papst hat zu den Fällen des Missbrauchs nicht geschwiegen! Nicht in Amerika, nicht
in Australien, nicht in Europa. In seinem Hirtenbrief an die irischen Bischöfe lesen
wir: Der Papst erkennt den "schrecklichen Verrat" an, den die Opfer der Missbrauchsfälle
erlitten haben. An Geistliche und Priester gewandt, sagt Benedikt: Sie haben ein heiliges
Vertrauen verraten und Schande über ihre Mitbrüder gebracht. Ein großer Schaden ist
angerichtet worden – nicht nur an den Opfern, sondern auch an der öffentlichen Wahrnehmung
des Priestertums und dem religiösen Leben gegenüber, so der Papst.
Das Schreiben
an die Iren läßt an Deutlichkeit und Betroffenheit nichts zu wünschen übrig. Wenig
später tadelt Benedikt die Kleriker in Belgien, die Schweizer und jetzt – erst vor
wenigen Tagen - die Engländer. Der Papst will -, dass die Diözesen ab nun strikt
handeln: offenlegen, disziplinarisch ahnden, mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten.
Und nicht zu vergessen: Es war Kardinal Ratzinger, der noch als Chef der Glaubenskongregation
im Jahr 2001 den Kampf gegen die weltweit auftretenden Missbräuche zur Chef-Sache
des Vatikans machte.
Es sind fünf Jahre her, dass Deutschland jubelte: „Wir
sind Papst.“ Man kann über diese Schlagzeile denken, wie man will, aber sie ist gut!
Der Papst hat sich kaum verändert, aber die Welt hat sich verändert. Noch als Kardinal
Ratzinger nahm er bei einer Ansprache während der Karfreitagsprozession 2004 das Thema
auf und sprach vom „Schmutz“ innerhalb der Kirche, von Feinden außerhalb und innerhalb
der Kirche - eine eindrucksvolle, dramatische Klagerede unter dem nächtlichen Himmel
des Kolosseums in Rom.
Bei der ersten Eucharistiefeier mit den Kardinälen
unmittelbar nach seiner Wahl am 19. April 2004 umreist der neue Papst in der Sixtinischen
Kapelle das Programm seiner Regierung in drei Zeilen folgendermaßen:
„Ich
will mit Entschlossenheit meinen festen Willen zur Fortseztung der Umsetzung des 2.
Vatikanischen Konzils bekräftigen - in der Spur meiner Vorgänger und in treuer Kontinuitaet
der 2000jährigen Tradition der Kirche.“ Ein Schlüsselsatz dieses Pontifikats. Beides
liegt Benedikt XVI. am Herzen: das 2. Vatikanum bekräftigen und der Tradition treu
bleiben.
Kritiker sagen, der alte Mann habe den Kontakt zu seinen Zeitgenossen
verloren. Seine Wahrheit sei nicht von dieser Welt. Reformvorschläge, Reformforderungen,
allen voran die Auflösung des Zölibatsgesetzes für Priester, stoßen im Vatikan weiterhin
auf kompromisslose Ablehnung. Vergessen wir nicht sein Regierungsprogramm: das 2.
Vatikanum bekräftigen und der Tradition treu bleiben.
Bei einem (wenn auch
nur lückenhaften) Rückblick auf das fünfjährige Pontifikat muss, denke ich, ein Punkt
noch besonders hervorgehoben werden. War für Johannes Paul II. der Kommunismus der
große Hauptgegner, so ist es für Papst Benedikt XVI. der Relativismus. Er spricht
oft, sehr oft von der „Diktatur des Relativismus“. Was meint er damit? Benedikt sieht
in der gesamten heutigen Menschheit die Gefahr, dass es keine unumstößlichen Werte,
Normen, Maßstäbe mehr gibt. Alles scheint relativ. Jeder kann glauben, was er will,
denken was er will, auch tun was er will. Da die Menschheit ihren Werterahmen offenbar
verloren hat, scheint alles von demokratischen Abstimmungen abzuhängen. Die Mehrheit
entscheidet, gleich ob es sich um einen Wert oder um einen Unwert handelt. Wenn die
Mehrheit z. B. für Euthanasie entscheidet, dann wird diese erlaubt. Gegen diese Geisteshaltung
oder besser gegen diese „Verwässerung des Glaubens“ – wie Benedikt sie nennt - kämpft
dieser Papst am meisten und am eindringlichsten. Diese Verkündigung Papst Benedikts
ist für viele wiederum eine Provokation: eine Provokation gegenüber dem vorherrschenden
Denken im industrialisierten Westen. Wen wundert es da, dass der Papst in dieser Weltregion
nicht immer eine gute, säkulare Presse hat? Die Wasserzeichen dieses Pontifkats
erkennt man vielleicht am besten an den Reisen des Papstes und an seinen Ansprachen.
Beginnen wir mit Auschwitz, Mai 2006.
„An diesem Ort versagen die Worte, kann
eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen", sagte der damals 79-jährige aus Deutschland
stammende Papst vor dem Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Birkenau.
„An diesem Ort des Grauens zu sprechen, ist besonders bedrückend für mich, einen Papst,
der aus Deutschland kommt.“ Einprägsame Worte. Die Rede von Papst Benedikt XVI. im
einstigen Vernichtungslager hat aber in mehreren europäischen Ländern auch wieder
Kritik ausgelöst. Zeitungskommentatoren kritisierten, in der Papstrede hätten die
Worte "Schuld" und "Antisemitismus" gefehlt. Benedikt XVI. habe die Deutschen praktisch
als Verführte und nicht als Täter dargestellt. "Benedikt XVI. befreit das deutsche
Volk von seiner Verantwortung für die Nazi-Verbrechen", titelte etwa das spanische
Blatt "El Mundo".
2006 besucht Benedikt mit der Türkei erstmals ein islamisches
Land. Zwar war die Reise hauptsächlich an die unterdrückten türkischen Christen gerichtet.
Doch die Signalwirkung in Richtung Islam war - zumal nach der "Regensburger Rede"
- unvermeidlich. Und so rief das Oberhaupt der Katholiken große Begeisterung hervor,
als er in der Istanbuler Blauen Moschee respektvoll eine Gebetsminute einlegte. "Der
Papst betet wie ein Moslem!" jubelten türkische Zeitungen. Eine Geste, die ins Schwarze
trifft.
Für Irritationen wiederum – diesmal innerkirchliche - sorgten im Sommer
2007 zwei praktisch zeitgleich veröffentlichte Vatikan-Dokumente. Mit dem Schreiben
"Summorum Pontificum" gab der Papst die Feier des traditionellen römischen Messritus
wieder frei und ordnete eine neue Formulierung der Fürbitte für Juden im Karfreitagsgebet
an. Ein zweites Dokument sorgte vor allem bei protestantischen Kirchenvertretern für
Verärgerung. Sie zeigten sich wenig begeistert von dem Schreiben, dass den protestantischen
Kirchen die Anerkennung als "Kirche im eigentlichen Sinn" verweigert. Sicher, ich
persönlich denke, dass dies keine besonders glückliche Formulierung war: Man hätte
vielleicht auch sagen können, wir haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, was
eigentlich eine Kirche ist. Davon aber abzuleiten, dass dieser Papst gegen die Ökumene
ist, wäre irrtümlich. Kardinal Kasper – bis vor kurzem der Verantwortliche für die
Ökumene – hat immer wieder unterstrichen, man könne und dürfe nicht von einem Stillstand
in der Ökumene sprechen, das sei einfach falsch!
Vergessen wir nicht: Deutschland
ist eine Ausnahmesituation, in der etwa zwei gleich große Konfessionen nebeneinander
leben. Das gibt es sonst nirgends auf der Welt – es sei denn in der Schweiz. Und die
deutsche evangelische Kirche ist im Vergleich zu den vielen anderen Kirchen aus der
Reformation eine relativ kleine Kirche. Rom führt den Dialog mit mindestens 20 verschiedenen
großen reformierten Kirchen!
2008 unternahm Benedikt XVI. gleich zwei große
Interkontiental-Visiten. Beide wieder eindrucksvoll, beide erfolgreich. Erst in die
USA und dann zum Weltjugendtag nach Sydney. In der bisher wohl bedeutendsten politischen
Ansprache seines Pontifikats schwor er im UNO-Glaspalast von New York die Staatengemeinschaft
auf die Beachtung der Menschenrechte ein. Mit seinem Auftritt unterstrich Benedikt
XVI. die unabhängige Mahnerrolle des Vatikans und der Kirche und empfahl sie als
wichtige Gesprächspartner über die Zukunft der Menschheit.
Im März
des vergangenen Jahres besucht Papst Benedikt XVI. erstmals Afrika. In Kamerun und
Angola wirbt der Papst für eine anhaltende Evangelisierung des afrikanischen Kontinents.
In beiden Ländern rief er - von Menschenmassen umjubelt - dazu auf, mit Vertrauen
und Mut eine Zukunft ohne Kriege aufzubauen und ebenso demokratische Gesellschaften
anzustreben. Überschattet wurde die Papstreise zunächst von medialer Kritik an einer
Äußerung Benedikts zur Aids-Bekämpfung. Kondome, so der Papst in einem Interview auf
dem Flug-Weg nach Kamerun, seien nicht nur keine Lösung des Aids-Problems, sondern
könnten dieses auch noch "verschlimmern". Stattdessen forderte er eine "Humanisierung
der Sexualität". Aber Papst Benedikt geht es in Afrika nicht nur um Aids. Auf dem
schwarzen Kontinent positioniert er seine Kirche als Hüter der afrikanischen Identität,
als Gegenpol zur herrschenden Klasse. Dafür scheut er auch die Begegnung mit korrupten
Machthabern nicht: Der Diktator Dos Santos regiert sein Land, Angola, mit harter,
brutaler Hand. Hier verzichtet Benedikt auf jede diplomatische Zurückhaltung, wenn
er vor ihm sagt: ’Es müssen hier die Menschenrechte garantiert werden - eine trasparente
Regierung, eine unabhängige Verwaltung, dazu Schulen und ein funktionierendes Gesundheitssystem
– vor allem aber muss die Korruption unterbunden werden!’.
Ein weiterer politischer
Höhepunt bleibt die Nahost-Reise Benedikts XVI. im vergangenen Jahr. Im Rahmen dieser
Visite rief der Papst mehrfach - eindringlich - zu einem gerechten Nahost-Frieden
auf. Deutlich sprach sich das Oberhaupt der katholischen Kirche für eine Zwei-Staaten-Lösung
aus, bei der Israelis und Palästinenser friedlich nebeneinander leben: "Lasst die
Zwei-Staaten-Lösung Realität werden und nicht einen Traum bleiben", so der Papst wörtlich.
Große Beachtung findet der Besuch Benedikts im Felsendom, der heiligsten Stätte des
Islams in Jerusalem. In der Gedenkstätte Yad Vaschem ruft er zum Kampf gegen den
Antisemitismus auf. Das Treffen mit Überlebenden des Holocaust in der Gedenkstätte
Yad Vashem bezeichnete der Papst selbst als einen der bewegendsten Momente seiner
Pilgerreise.
Realpolitik prägt den Kurs des Papstes auch in seiner Haltung
gegenüber China: Erstmals spielen die chinesischen Philharmoniker in der großen Audienzhalle
Pauls VI. im Vatikan für den Papst. Eine Premiere, unvorstellbar noch vor wenigen
Jahren. Aber auch: eine vorsichtige Annäherung zwischen dem katholischen Kirchenstaat
und der kommunistschen Volksrepublik. Denn beide unterhalten keine diplomatischen
Beziehungen. China ist für Benedikt XVI. ein sehr wichtiges Thema. Rund 13 Millionen
Katholiken leben in dem Land; nur ein Teil von ihnen bekennt sich zur papstreuen Untergrundkirche.
Damit will sich Benedikt nicht abfinden. Bei uns in Südtirol – seinem geliebten Südtirol,
wie er es nennt - – besucht Benedikt während der Sommerfrische in Brixen in Ojes
im Gadertal das Geburtshaus des hl. Joseph Freinademetz. Und hier bekennt Benedikt,
warum ihm China am Herzen liegt: „Wir wissen“ – so der Papst wörtlich – „dass China
immer wichtiger wird in der Politik, in der Wirtschaft, im Wettbewerb der Ideen. Es
ist wichtig, dass sich dieses große Land dem Evangelium öffnet“, so der Papst. – Meine
Damen und Herren, es sind zwei Giganten, die sich da einander nähern: Hier der Papst
als Oberhaupt von einer Milliarde Katholiken. Dort China, das aufstrebende Riesenreich
mit über einer Milliarde Menschen. Sie sind ein gewaltiges Missionspotential für die
Kirche. Um sie zu erreichen, ist Benedikt zu Zugeständnissen bereit: Mit Chinas Kommunisten
wird verhandelt.
Bleiben wir in Südtirol: Hier in Brixen schreibt Joseph Ratzinger
einen Großteil seiner berühmten Jesusbücher, das zweite wird im kommenden März erscheinen
– jeweils weltweite Bestseller, in viele Sprachen übersetzt. Joseph Ratzinger hat
diese Bücher nicht als Benedikt XVI., sondern gleichsam als Privatgelehrter verfaßt.
Viele finden es großartig, dass ein amtierender Papst in das Vorwort folgende Worte
schreibt: „Gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise
ein lehramtlicher Akt ist, es steht daher jedermann frei, mir zu wiedersprechen. Ich
bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuß an Sympathie, ohne den es kein
Verstehen gibt.“ Eine gewinnende Demutsgeste, aber auch ein souveränes Vertrauen
darauf, dass diese Bücher auch ohne das Siegel der päpstlichen Lehrautorität auskommen.
Im Juli 2009 legte Benedikt XVI. seine erste Sozialenzyklika vor. Es ist
nach ‘Deus Caritas est’ und ‘Spe salvi’ sein drittes Lehrschreiben. In "Caritas in
veritate" entfaltet er Ideen zu einer neuen Weltordnung und plädiert für eine ganzheitliche
Entwicklung des Menschen. Konkret äußert sich der Papst zu Verzerrungen und Missständen
in den Wirtschafts- und Finanzsystemen: zum Skandal des Hungers, zur neuen Armut,
zum wachsenden Graben zwischen Arm und Reich, zum Recht auf Arbeit, zur Schwächung
der sozialen Netze und zu den vielen Facetten des Umweltschutzes. Seine zentrale Botschaft
lautet: Die Wirtschaft kommt für ihr korrektes Funktionieren nicht ohne Ethik aus.
Und
schließlich Großbritannien, die jüngste Pastoralvisite Benedikts: Es war der erste
offizielle Staatsbesuch eines Papstes im Vereinten Königreich seit 500 Jahren. Die
Visite erfolgte auf Einladung von Königin Elisabeth II. Sie verlief äußerst erfolgreich
– so erfolgreich, dass sich der junge Premierminister Cameron auf dem Flughafen sehr
britisch, aber ehrerbietig vom Oberhaupt der katholischen Kirche verabschiedete mit
den Worten: ‘Es ist selbstverständlich, dass Sie als römischer Oberhirte zu uns gekommen
sind, um Ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen und uns vor der Säkularisierung und
extremen Atheismus zu warnen. In einer materialistischen Welt sehnen sich immer mehr
Menschen nach geistiger Orientierung. Auch wir tun das und danken Ihnen, Heiliger
Vater’.
Wir haben gesehen: UNO – Nahost – Istanbul – China – Afrika... Auf
den Schultern des Kirchenoberhauptes lasten nicht nur schwere seelische, sondern auch
dringende weltliche Probleme. Wir dürfen nie vergessen: Der Papst muss sich mit nahezu
2OO Ländern auf der ganzen Welt und deren Ortskirchen befassen. Und die Ortskirchen
in den allermeisten Ländern haben meist andere und wesentlich grundlegendere Probleme
als wir mitten in Europa. Ganz zu schweigen von Afrika, Asien und Lateinamerika, wo
die Mehrheit der Menschen sich mit Menschenrechtsverletzungen und Religionskonflikten
herumschlagen müssen. Einige Schlagzeilen, die in Mitteleuropa helles Entsetzen auslösen,
werden in anderen Ländern kaum verstanden. Was die Piusbrüder sind, weiß man eigentlich
nur in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und in Österreich. Was die Tridentinische
Messe von der nachkonzilaren Messe unterscheidet, werden allein schon in einigen Nachbarländern
Europas etliche Christen nicht mehr verstehen.
Im Laufe der fünfeinhalb Regierungsjahre
ist es Benedikt immer deutlicher klar geworden, dass jede Geste, die er macht, jedes
Wort, das er spricht, auch eine politische Bedeutung haben. Ein nicht leichter Lernprozess
für Benedikt XVI., denn er versteht sein Amt als in erster Linie als geistliches Amt.
Wie konnte es kommen, so fragen sich zwei ausgewiesene Vatikanjournalisten in ihrem
gut recherchierten Buch ‘Attacco a Ratzinger’, dass Benedikt XVI., der Ausdrücke wie
Liebe, Freude, Schönheit, Frieden zu Schlüsselbegriffen seiner Verkündigung gemacht
hat, der demütig, mild und fast schüchtern auftritt sowie einer der gelehrtesten Geister
der katholischen Welt ist - wie konnte es also kommen, dass dieser Papst immer wieder
als rückwärtsgewandter Restaurator und letztlich als der unbeugsame ‘Panzerkardinal’
dargestellt wird, wie das die Medien schon mit dem Glaubenspräfekten Joseph Ratzinger
taten? Torniello und Rodari lehnen es ab, von einer zentral gesteuerten Welt-Kampagne
gegen den Papst zu sprechen. Aber die Stimmung in den säkulären Medien – vor allem
in den USA und in der angelsächsischen Welt – sei im allgemeinen nicht die, den Vatikan,
die Kirche und den Papst zu erklären und objektiv darzustellen, sondern vor allem
die Zentrale in Rom dazu zu zwingen, sich fortwährend verteidigen und rechtfertigen
zu müssen. Übrigens: Die italienische Berichterstattung über den Vatikan und die Kirche
ist in dem letzten Jahresquartal durchaus papstfreundlich gestimmt. Journalisten und
Meinungsmacher wie Giancarlo Zizola, Alberto Melloni, Sandro Magister, Gian Enrico
Rusconi oder Vittorio Messori sind inzwischen zu absoluten Verteidigern des römischen
Kirchenoberhauptes geworden: Ich nehme an, dass dies ganz besonders auch auf das scharfe
Durchgreifen des Papstes im Bereich der Missbrauchsfälle zurückzuführen ist.
In
dem im Buch ‘Bekenntnisse’ - einer Sammlung von Interviews, die Radio Vatikan ausgestrahlt
hat - ist auch ein Gespräch abgedruckt, das ich mit Kardinal Joseph Ratzinger nur
wenige Monate vor seiner Wahl zum Papst führen durfte. Nach einer Reihe von theologischen
Pflichtfragen erlaubte er mir, noch drei persönliche Fragen an ihn zu richten, nämlich:
Was schätzen Sie an ihren Mitmenschen ganz besonders? Die Antwort lautete: ‘Ich würde
sagen, die Offenheit. Dass man nicht Hintergedanken fürchten muss. In dem Sinn: Wahrheit;
Offenheit, Herzlichkeit, Humor und Güte. Das, glaube ich, sind so die Eigenschaften,
die mich am ehesten mit einem Menschen verbinden und die ich mir selber auch am meisten
wünschen würde’.
Die zweite Frage lautete: In welcher der vier Kardinaltugenden
sehen Sie Ihren Charakter am besten umschrieben? Antwort: ‘Ich wage nicht, meine Tugenden
zu katalogisieren. Ganz stark bin ich vielleicht in keiner der vier Kardinaltugenden:
Ich veruche vor allen Dingen, mein Maß zu erkennen und (er lacht) meine Grenzen einzusehen.
Und da gibt’s sicher auch das Versagen.’ Schlussfrage:Gibt es einen Fehler, zu
dem Sie sich öffentlich bekennen würden? Antwort: ‘Was meine Fehler betrifft, die
anderen Leute kennen sie zweifellos besser als ich selber. Insofern würde ich jetzt
auch nicht zu einer öffentlichen Beichte ausholen wollen. Doch, warten Sie – es gibt
einen Fehler, den die meisten Leute vielleicht nicht merken: Ich neige eigentlich
zur Bequemlichkeit. Am liebsten möchte ich mich von den öffentlichen Ärgerlichkeiten
und Geschäften in die professorale Idylle zurückziehen. Aber der Herr prügelt mich
dann schon immer wieder in meine Verantwort hinein’.
Das, verehrte Zuhörer,
hat der Herr nun wirklich auch getan!“