2010-10-29 14:41:16

Benedikt XVI. – Fünf Jahre Papst


Ein Vortrag von Aldo Parmeggiani (Radio Vatikan) in Brixen/Südtirol am 14. Oktober 2010, bei der Vorstellung eines Papst-Porträts von Gotthard Bonell
„Über den Papst wird viel gesprochen, viel geschrieben: Das ist gut. Nicht immer ist das, was über ihn geschrieben und gesprochen wird, auch richtig – das ist nicht gut. Kein Papst in der langen Geschichte der Kirche war der öffentlichen Meinung jemals so ausgesetzt, wie es heute Benedikt XVI. ist. Später wird es einmal heißen: Er regierte im Zeitalter der digitalen Kommunikation. Als erster Papst des 21. Jahrhunderts wird Benedikt mit ständigen gesellschaftspolitischen Umwälzungen, mit raschen wissenschaftlichen Entwicklungen und mit der Globalisierung konfrontiert. Das Porträt aus der Hand des Künstlers Gotthard Bonell, das vor uns steht, wird auch in vielen Jahren die gleichen Linien tragen wie heute: Es wird sich nicht ändern. Das aber, was heute über Benedikt geschrieben und gesprochen wird, wird nicht so stehen bleiben. Es wird im Laufe der Zeit andere Formen annehmen, andere Akzente erhalten, anderen Urteilen ausgesetzt sein. Der hellste Teil im Bild und somit auch das Zentrum der Tafel sind das auffallend weiße Haar und die Stirn, Symbol für Intellekt und Intelligenz. Und dann die wachen, strengen Augen - Symbol für Innerlichkeit und Charakter. Etwas gebeugt unter der Last der Tradition und wohl auch der gegenwärtigen Situation.

Man sieht es Benedikt an: Die Aufgabe, die er von seinem Vorgänger Johannes Paul II übernommen hat, ist keine leichte. Für den 83-Jährigen gilt es, eine Kirche mit mehr als einer Milliarde Menschen zu führen und verschiedenen Generationen, verschiedenen Denkweisen, verschiedenen Ansprüchen Orientierung zu geben. Der Papst muss Staatsoberhaupt, oberster Glaubenshüter, Seelsorger und „Vater aller Gläubigen“ gleichzeitig sein. Ist eine Zeitspanne von fünf Jahre lang oder nicht lang? Darüber könnte man lange diskutieren und Argumente dafür oder dagegen finden. Für eine Bewertung des bisherigen Pontifikates Benedikts XVI. ist es mit Sicherheit zu früh; erst spätere Generationen werden darüber befinden können, wie Benedikt als „Pontifex Maximus“ in die Geschichtsbücher der Kirche eingehen wird. Heute steht dieser Papst auf der internationalen Bühne im Brennpunkt medialer Beobachtung, im Lichtkegel der Anerkennung, aber auch der Kritik. Ist es Schuld der Medien, der Journalisten, wenn der Papst und seine Kirche in den letzten Jahren immer wieder in die negativen Schlagzeilen geraten sind? Ja! Und Nein. Die Journalisten sind und sollen in gewisser Hinsicht ja auch ‘Hüter der Wahrheit’ sein, ein Wort, dass diesem Papst ganz besonders wichtig und teuer ist. Meinungsfreiheit und Chronistenpflicht gehören ja zu den großen Errungenschaften in der Demokratie, das weiß auch der Papst. Manchmal hinkt der Vatikan der modernen Medienhektik etwas hinterher, manchmal sind es die weltlichen Presseorgane, die gewisse Urteile, wenn nicht Vorurteile über Papst und Vatikan allzu schnell und selbstgerecht auf die Titelseite setzen.

Mutter Teresa hat einmal auf die Frage eines Journalisten ‘Was muss sich in der Kirche ändern? geantwortet: Sie und ich. Mit diesem weisen Ausspruch einer großen Frau möchte ich einen Rückblick auf das bisherige Pontifikat Benedikts beginnen: ‘Herr, tu mir das nicht an, Du hast Jüngere und Bessere!’ Dieses Stoßgebet spricht Joseph Ratzinger am Abend des 19. April 2005, dem Tag seiner Wahl zum 265. Nachfolger Petri. Es ist mehr geflüstert als gesprochen – erst auf der Loggia des Petersdomes wird seine Stimme wieder fester, und er verkündet der Welt: ‘Ich bin nur ein einfacher Diener im Weinberg des Herrn’. Jubelnder Applaus. Der erste große Applaus, den Benedikt in seinem Leben entgegennimmt. Weitere werden folgen. Auf den zahlreichen Reisen, auf dem Petersplatz, in der Audienzhalle und überall dort, wo sich der Papst öffentlich zeigt. Im In- wie im Ausland.

Das ist der eine Aspekt, doch es gibt auch einen anderen. Die moderne Medienwelt braucht Schlagzeilen,- wenn möglich negative. Das gilt auch für die Kirche, auch für den Papst. Wenn der normale Leser und Fernseh-Zuschauer auf die fünf Jahre des Pontifikats von Papst Benedikt zurückschaut, dann fallen ihm vermutlich schnell folgende Punkte ein: Dialog mit der Piusbruderschaft, Wiederzulassung der Tridentinischen Messe, Karfreitagsfürbitte für die Juden. Vielleicht denkt er auch noch an die Regensburger Rede, in der Papst Benedikt ein Zitat nennt, in dem es hieß: Mohammed hat nichts Gutes gebracht. Und es fällt ihm vielleicht ein, dass der Papst auf dem Flug nach Afrika seine Überzeugung ausgesprochen hat, der Gebrauch von Kondomen mache Aids nur noch schlimmer. Sicher gibt es viele Menschen, die aufmerksamer sind und daher auch viele andere Akzente im Pontifikat von Papst Benedikt aufzählen können. Aber der weniger nachdenkliche Zeitgenosse wird möglicherweise hauptsächlich an die genannten Punkte denken und daher ein eher negatives, jedenfalls lückenhaftes und oberflächliches Bild vom Papst haben. Denn Schlagzeilen prägen sich schneller in das Bewußtsein ein, lassen sich leichter merken, als lange Reden und Abhandlungen eines gelehrten Papstes. Und so wird die berüchtigte Regensburger Rede bei milden Medien-Richtern als ‘Ausrutscher’ bezeichnet, bei den Gestrengen bereits als unerhörter Skandal, als eine Brüskierung gegenüber allen Muslimen.

Niemand sagt freilich, dass die besagte Rede ausschließlich gegen den Zeitgeist der Heimat des Papstes, gegen den Westen gewandt war: Europa, sagt der Professor-Papst wenig schmeichelhaft in derselben Rede, lege seit Jahrhunderten in immer neuen Hieben die Axt an die eigenen geistigen Wurzeln und sei als Folge in seiner heutigen Gestalt zum geforderten interkulturellen Dialog unfähig. Und nur wenige berichten darüber,wie aus der Kotroverse mittlerweile ein christlich-islamischer Dialog entstanden ist, der ohne Beispiel ist... Das gibt ja auch keine negative Schlagzeile!

Dieser Papst entdeckt – und auch das ergab keine Schlagzeile - die Kirchenväter neu und schafft damit eine völlig neue Ökumene mit der Orthodoxie unter dem Patriarchen von Konstantinopel, aber vor allem auch mit dem russisch-orthodoxen Patriarchat von Moskau. Der Leiter des Außenamts der russischen orthodoxen Kirche, Metropolit Hilarion, äußerte erst vor kurzem die Gewissheit, dass es in absehbarer Zeit zu einer ersten Begegnung zwischen dem Moskauer Patriarchen Kyrill I. und Papst Benedikt XVI. kommen werde. Der Papst werde in Russland wegen seiner Verteidigung christlicher Werte besonders geschätzt. „Die Zeit und die Personen haben sich geändert", sagte der orthodoxe Metropolit und wollte damit sagen: Unter Benedikt ist aus orthodoxer Perspektive mehr möglich als unter dem Polen Johannes Paul. – Eigentlich eine Bombenmeldung, die aber nur in wenigen Blättern nachzulesen war.

Zur Piusbruderschaft: Die Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der erzkonservativen Pius-Bruderschaft hat viel Staub aufgewirlbelt. Mit Recht. Dass unter den vier Bischöfen der Pius-Brüder auch jemand ist, der den Holocaust leugnet - nämlich Williamson -, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bis zum Vatikan durchgedrungen. In der Tat räumt der Papst ein, der Vatikan hätte bei seinem Vorgehen besser auf die "im Internet zugänglichen Nachrichten" über Williamson achten müssen. Dabei gab es durchaus Hinweise: Schon zwei Monate vor der Aufhebung der Exkommunikation informierte der Bischof von Stockholm den Vatikan über Williamsons antijüdische Einstellung. Empfänger der Depesche war das Staatssekretariat in Rom. Doch dort will man von der Warnung aus Schweden nichts gewußt haben. Eine Fehleinschätzung mit weitreichenden Folgen, für die einer dann schließlich die Verantwortung übernimmt: nämlich Papst Benedikt XVI. selber, in seinem Brief an den Weltepiskopat vom März vergangenen Jahres, in dem er sich schüztend vor seine engsten Mitarbeiter stellt! Für den Papst sollte die Aufhebung des Kirchenbannes eine ausgestreckte Hand bedeuten, die einer Gruppierung von 600.000 Gläubigen und 500 Priestern gilt, die sich von Rom abgespaltet hat. Nicht mehr und nicht weniger: Die vier Bischöfe bleiben nämlich kirchenrechtlich weiterhin suspendiert. Nicht exkomminiziert, sondern suspendiert! Es ist ihnen untersagt, ihr Amt auszuüben. Der Schritt bedeutet also den Versuch einer Versöhnung, nicht aber eine Rehabilitierung. Aber die Schlagzeile dazu lautete monatelang: Papst rehabilitiert Holocaustleugner. Die Turbolenzen um die Piusbruderschaft haben dem Vatikan sicherlich geschadet. Die Pannen, die passiert sind, beruhen – wie selbst Papst Benedikt anmerkt – auf Informationsmangel. Und dieser Meinung schließen sich viele Kenner der internen Strukturen des Vatikans an. Selbst der Vatikansprecher P. Federico Lombardi, ein unbestrittener Medienprofi, räumt ein, eine effiziente vatikanische Kultur der Kommunikation müsse erst geschaffen werden. Jede Abteilung kommuniziere eigenständig, ohne an eine Zusammenarbeit mit der Presseabteilung des Vatikans zu denken. Erst vor drei Tagen hat Papst Benedikt vor dem Journalistenkongress in Rom zu diesem Thema folgendes gesagt:

„Die neuen Technologien und der Fortschritt, den sie mit sich bringen, können das Wahre und das Falsche austauschbar machen und dazu führen, dass man das Reale mit dem Virtuellen verwechselt. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass ein vermitteltes Ereignis, sei es froh oder traurig, als Spektakel und nicht als Gelegenheit zum Nachdenken verstanden wird. Wenn ein Ereignis hauptsächlich präsentiert wird, um Emotionen auszulösen, tritt das authentische Werben um den Menschen in den Hintergrund. Es besteht die Gefahr, dass das Virtuelle sich von der Realität entfernt und nicht zur Suche des Wahren antreibt.“

War der Papst in den letzten Jahren also nur ein Opfer unzureichender Kommunikation? Vatikanexperten meinen, dass es auch in der Verwaltung grundsätzliche Defizite gebe. Wie sieht diese Verwaltung aus? Ihren Kern bilden die neun Kongregationen. Sie sind mit Ministerien vergleichbar. Das übergeordnete Organ ist das Staatssekretariat, die Zentralbehörde der Kurie. Ihr Leiter ist der höchste politische Repräsentant des Heiligen Stuhls. Was fehlt, ist eine regelmäßige, systematische Koordinierung, sozusagen eine Querverbindung zwischen den einzelnen Kongregationen; in der Politik wäre dies das Kabinett. Andererseits möchte ich darauf hinweisen, dass der Vatikan-Staatsapparat bei einigen Unzulänglichkeiten auch wiederum ein ‘Wunder’ an weltweit funktionierender Bürokratie darstellt. Wenn man bedenkt, dass der Hl. Stuhl, der mit der ganzen Welt diplomatische Beziehungen unterhält, weit weniger Angestellte hat als ein einziges kleines (italienisches) Ministerium in Rom, kann man staunen. Das meiste läuft gut, aber wenn etwas daneben geht, dann steht es in allen Zeitungen.

Über den unseligen Missbrauchskandal, der das ganze Jahr die negativen Schlagzeilen über die katholische Kirche beherrschte, läßt Benedikt keinen Zweifel: Eine ungeheure Schuld, sie läßt sich nicht relativieren. In der Kirche etwas ganz Schlimmes, für die Kirche ein unermesslicher Schaden. Ein nicht geringer Teil der Medien hat sich selbst aus der Liga der seriösen Berichterstattung ausgeschlossen. Vielfach heißt die Schlagzeile dazu: ‘Der Papst schweigt zu den Missbrauchsskandalen’. Der Papst hat zu den Fällen des Missbrauchs nicht geschwiegen! Nicht in Amerika, nicht in Australien, nicht in Europa. In seinem Hirtenbrief an die irischen Bischöfe lesen wir: Der Papst erkennt den "schrecklichen Verrat" an, den die Opfer der Missbrauchsfälle erlitten haben. An Geistliche und Priester gewandt, sagt Benedikt: Sie haben ein heiliges Vertrauen verraten und Schande über ihre Mitbrüder gebracht. Ein großer Schaden ist angerichtet worden – nicht nur an den Opfern, sondern auch an der öffentlichen Wahrnehmung des Priestertums und dem religiösen Leben gegenüber, so der Papst.

Das Schreiben an die Iren läßt an Deutlichkeit und Betroffenheit nichts zu wünschen übrig. Wenig später tadelt Benedikt die Kleriker in Belgien, die Schweizer und jetzt – erst vor wenigen Tagen - die Engländer. Der Papst will -, dass die Diözesen ab nun strikt handeln: offenlegen, disziplinarisch ahnden, mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten. Und nicht zu vergessen: Es war Kardinal Ratzinger, der noch als Chef der Glaubenskongregation im Jahr 2001 den Kampf gegen die weltweit auftretenden Missbräuche zur Chef-Sache des Vatikans machte.

Es sind fünf Jahre her, dass Deutschland jubelte: „Wir sind Papst.“ Man kann über diese Schlagzeile denken, wie man will, aber sie ist gut! Der Papst hat sich kaum verändert, aber die Welt hat sich verändert. Noch als Kardinal Ratzinger nahm er bei einer Ansprache während der Karfreitagsprozession 2004 das Thema auf und sprach vom „Schmutz“ innerhalb der Kirche, von Feinden außerhalb und innerhalb der Kirche - eine eindrucksvolle, dramatische Klagerede unter dem nächtlichen Himmel des Kolosseums in Rom.

Bei der ersten Eucharistiefeier mit den Kardinälen unmittelbar nach seiner Wahl am 19. April 2004 umreist der neue Papst in der Sixtinischen Kapelle das Programm seiner Regierung in drei Zeilen folgendermaßen:

„Ich will mit Entschlossenheit meinen festen Willen zur Fortseztung der Umsetzung des 2. Vatikanischen Konzils bekräftigen - in der Spur meiner Vorgänger und in treuer Kontinuitaet der 2000jährigen Tradition der Kirche.“ Ein Schlüsselsatz dieses Pontifikats. Beides liegt Benedikt XVI. am Herzen: das 2. Vatikanum bekräftigen und der Tradition treu bleiben.

Kritiker sagen, der alte Mann habe den Kontakt zu seinen Zeitgenossen verloren. Seine Wahrheit sei nicht von dieser Welt. Reformvorschläge, Reformforderungen, allen voran die Auflösung des Zölibatsgesetzes für Priester, stoßen im Vatikan weiterhin auf kompromisslose Ablehnung. Vergessen wir nicht sein Regierungsprogramm: das 2. Vatikanum bekräftigen und der Tradition treu bleiben.

Bei einem (wenn auch nur lückenhaften) Rückblick auf das fünfjährige Pontifikat muss, denke ich, ein Punkt noch besonders hervorgehoben werden. War für Johannes Paul II. der Kommunismus der große Hauptgegner, so ist es für Papst Benedikt XVI. der Relativismus. Er spricht oft, sehr oft von der „Diktatur des Relativismus“. Was meint er damit? Benedikt sieht in der gesamten heutigen Menschheit die Gefahr, dass es keine unumstößlichen Werte, Normen, Maßstäbe mehr gibt. Alles scheint relativ. Jeder kann glauben, was er will, denken was er will, auch tun was er will. Da die Menschheit ihren Werterahmen offenbar verloren hat, scheint alles von demokratischen Abstimmungen abzuhängen. Die Mehrheit entscheidet, gleich ob es sich um einen Wert oder um einen Unwert handelt. Wenn die Mehrheit z. B. für Euthanasie entscheidet, dann wird diese erlaubt. Gegen diese Geisteshaltung oder besser gegen diese „Verwässerung des Glaubens“ – wie Benedikt sie nennt - kämpft dieser Papst am meisten und am eindringlichsten. Diese Verkündigung Papst Benedikts ist für viele wiederum eine Provokation: eine Provokation gegenüber dem vorherrschenden Denken im industrialisierten Westen. Wen wundert es da, dass der Papst in dieser Weltregion nicht immer eine gute, säkulare Presse hat?
 Die Wasserzeichen dieses Pontifkats erkennt man vielleicht am besten an den Reisen des Papstes und an seinen Ansprachen. Beginnen wir mit Auschwitz, Mai 2006.

„An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen", sagte der damals 79-jährige aus Deutschland stammende Papst vor dem Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Birkenau. „An diesem Ort des Grauens zu sprechen, ist besonders bedrückend für mich, einen Papst, der aus Deutschland kommt.“ Einprägsame Worte. Die Rede von Papst Benedikt XVI. im einstigen Vernichtungslager hat aber in mehreren europäischen Ländern auch wieder Kritik ausgelöst. Zeitungskommentatoren kritisierten, in der Papstrede hätten die Worte "Schuld" und "Antisemitismus" gefehlt. Benedikt XVI. habe die Deutschen praktisch als Verführte und nicht als Täter dargestellt. "Benedikt XVI. befreit das deutsche Volk von seiner Verantwortung für die Nazi-Verbrechen", titelte etwa das spanische Blatt "El Mundo".

2006 besucht Benedikt mit der Türkei erstmals ein islamisches Land. Zwar war die Reise hauptsächlich an die unterdrückten türkischen Christen gerichtet. Doch die Signalwirkung in Richtung Islam war - zumal nach der "Regensburger Rede" - unvermeidlich. Und so rief das Oberhaupt der Katholiken große Begeisterung hervor, als er in der Istanbuler Blauen Moschee respektvoll eine Gebetsminute einlegte. "Der Papst betet wie ein Moslem!" jubelten türkische Zeitungen. Eine Geste, die ins Schwarze trifft.

Für Irritationen wiederum – diesmal innerkirchliche - sorgten im Sommer 2007 zwei praktisch zeitgleich veröffentlichte Vatikan-Dokumente. Mit dem Schreiben "Summorum Pontificum" gab der Papst die Feier des traditionellen römischen Messritus wieder frei und ordnete eine neue Formulierung der Fürbitte für Juden im Karfreitagsgebet an. Ein zweites Dokument sorgte vor allem bei protestantischen Kirchenvertretern für Verärgerung. Sie zeigten sich wenig begeistert von dem Schreiben, dass den protestantischen Kirchen die Anerkennung als "Kirche im eigentlichen Sinn" verweigert. Sicher, ich persönlich denke, dass dies keine besonders glückliche Formulierung war: Man hätte vielleicht auch sagen können, wir haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eigentlich eine Kirche ist. Davon aber abzuleiten, dass dieser Papst gegen die Ökumene ist, wäre irrtümlich. Kardinal Kasper – bis vor kurzem der Verantwortliche für die Ökumene – hat immer wieder unterstrichen, man könne und dürfe nicht von einem Stillstand in der Ökumene sprechen, das sei einfach falsch!

Vergessen wir nicht: Deutschland ist eine Ausnahmesituation, in der etwa zwei gleich große Konfessionen nebeneinander leben. Das gibt es sonst nirgends auf der Welt – es sei denn in der Schweiz. Und die deutsche evangelische Kirche ist im Vergleich zu den vielen anderen Kirchen aus der Reformation eine relativ kleine Kirche. Rom führt den Dialog mit mindestens 20 verschiedenen großen reformierten Kirchen!

2008 unternahm Benedikt XVI. gleich zwei große Interkontiental-Visiten. Beide wieder eindrucksvoll, beide erfolgreich. Erst in die USA und dann zum Weltjugendtag nach Sydney. In der bisher wohl bedeutendsten politischen Ansprache seines Pontifikats schwor er im UNO-Glaspalast von New York die Staatengemeinschaft auf die Beachtung der Menschenrechte ein. Mit seinem Auftritt unterstrich Benedikt XVI. die unabhängige Mahnerrolle des Vatikans und der Kirche und empfahl sie als wichtige Gesprächspartner über die Zukunft der Menschheit.



Im März des vergangenen Jahres besucht Papst Benedikt XVI. erstmals Afrika. In Kamerun und Angola wirbt der Papst für eine anhaltende Evangelisierung des afrikanischen Kontinents. In beiden Ländern rief er - von Menschenmassen umjubelt - dazu auf, mit Vertrauen und Mut eine Zukunft ohne Kriege aufzubauen und ebenso demokratische Gesellschaften anzustreben. Überschattet wurde die Papstreise zunächst von medialer Kritik an einer Äußerung Benedikts zur Aids-Bekämpfung. Kondome, so der Papst in einem Interview auf dem Flug-Weg nach Kamerun, seien nicht nur keine Lösung des Aids-Problems, sondern könnten dieses auch noch "verschlimmern". Stattdessen forderte er eine "Humanisierung der Sexualität". Aber Papst Benedikt geht es in Afrika nicht nur um Aids. Auf dem schwarzen Kontinent positioniert er seine Kirche als Hüter der afrikanischen Identität, als Gegenpol zur herrschenden Klasse. Dafür scheut er auch die Begegnung mit korrupten Machthabern nicht: Der Diktator Dos Santos regiert sein Land, Angola, mit harter, brutaler Hand. Hier verzichtet Benedikt auf jede diplomatische Zurückhaltung, wenn er vor ihm sagt: ’Es müssen hier die Menschenrechte garantiert werden - eine trasparente Regierung, eine unabhängige Verwaltung, dazu Schulen und ein funktionierendes Gesundheitssystem – vor allem aber muss die Korruption unterbunden werden!’.

Ein weiterer politischer Höhepunt bleibt die Nahost-Reise Benedikts XVI. im vergangenen Jahr. Im Rahmen dieser Visite rief der Papst mehrfach - eindringlich - zu einem gerechten Nahost-Frieden auf. Deutlich sprach sich das Oberhaupt der katholischen Kirche für eine Zwei-Staaten-Lösung aus, bei der Israelis und Palästinenser friedlich nebeneinander leben: "Lasst die Zwei-Staaten-Lösung Realität werden und nicht einen Traum bleiben", so der Papst wörtlich. Große Beachtung findet der Besuch Benedikts im Felsendom, der heiligsten Stätte des Islams in Jerusalem. In der Gedenkstätte Yad Vaschem ruft er zum Kampf gegen den Antisemitismus auf. Das Treffen mit Überlebenden des Holocaust in der Gedenkstätte Yad Vashem bezeichnete der Papst selbst als einen der bewegendsten Momente seiner Pilgerreise.

Realpolitik prägt den Kurs des Papstes auch in seiner Haltung gegenüber China: Erstmals spielen die chinesischen Philharmoniker in der großen Audienzhalle Pauls VI. im Vatikan für den Papst. Eine Premiere, unvorstellbar noch vor wenigen Jahren. Aber auch: eine vorsichtige Annäherung zwischen dem katholischen Kirchenstaat und der kommunistschen Volksrepublik. Denn beide unterhalten keine diplomatischen Beziehungen. China ist für Benedikt XVI. ein sehr wichtiges Thema. Rund 13 Millionen Katholiken leben in dem Land; nur ein Teil von ihnen bekennt sich zur papstreuen Untergrundkirche. Damit will sich Benedikt nicht abfinden. Bei uns in Südtirol – seinem geliebten Südtirol, wie er es nennt - – besucht Benedikt während der Sommerfrische in Brixen in Ojes im Gadertal das Geburtshaus des hl. Joseph Freinademetz. Und hier bekennt Benedikt, warum ihm China am Herzen liegt: „Wir wissen“ – so der Papst wörtlich – „dass China immer wichtiger wird in der Politik, in der Wirtschaft, im Wettbewerb der Ideen. Es ist wichtig, dass sich dieses große Land dem Evangelium öffnet“, so der Papst. – Meine Damen und Herren, es sind zwei Giganten, die sich da einander nähern: Hier der Papst als Oberhaupt von einer Milliarde Katholiken. Dort China, das aufstrebende Riesenreich mit über einer Milliarde Menschen. Sie sind ein gewaltiges Missionspotential für die Kirche. Um sie zu erreichen, ist Benedikt zu Zugeständnissen bereit: Mit Chinas Kommunisten wird verhandelt.

Bleiben wir in Südtirol: Hier in Brixen schreibt Joseph Ratzinger einen Großteil seiner berühmten Jesusbücher, das zweite wird im kommenden März erscheinen – jeweils weltweite Bestseller, in viele Sprachen übersetzt. Joseph Ratzinger hat diese Bücher nicht als Benedikt XVI., sondern gleichsam als Privatgelehrter verfaßt. Viele finden es großartig, dass ein amtierender Papst in das Vorwort folgende Worte schreibt: „Gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, es steht daher jedermann frei, mir zu wiedersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuß an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“
Eine gewinnende Demutsgeste, aber auch ein souveränes Vertrauen darauf, dass diese Bücher auch ohne das Siegel der päpstlichen Lehrautorität auskommen.


Im Juli 2009 legte Benedikt XVI. seine erste Sozialenzyklika vor. Es ist nach ‘Deus Caritas est’ und ‘Spe salvi’ sein drittes Lehrschreiben. In "Caritas in veritate" entfaltet er Ideen zu einer neuen Weltordnung und plädiert für eine ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Konkret äußert sich der Papst zu Verzerrungen und Missständen in den Wirtschafts- und Finanzsystemen: zum Skandal des Hungers, zur neuen Armut, zum wachsenden Graben zwischen Arm und Reich, zum Recht auf Arbeit, zur Schwächung der sozialen Netze und zu den vielen Facetten des Umweltschutzes. Seine zentrale Botschaft lautet: Die Wirtschaft kommt für ihr korrektes Funktionieren nicht ohne Ethik aus.

Und schließlich Großbritannien, die jüngste Pastoralvisite Benedikts: Es war der erste offizielle Staatsbesuch eines Papstes im Vereinten Königreich seit 500 Jahren. Die Visite erfolgte auf Einladung von Königin Elisabeth II. Sie verlief äußerst erfolgreich – so erfolgreich, dass sich der junge Premierminister Cameron auf dem Flughafen sehr britisch, aber ehrerbietig vom Oberhaupt der katholischen Kirche verabschiedete mit den Worten: ‘Es ist selbstverständlich, dass Sie als römischer Oberhirte zu uns gekommen sind, um Ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen und uns vor der Säkularisierung und extremen Atheismus zu warnen. In einer materialistischen Welt sehnen sich immer mehr Menschen nach geistiger Orientierung. Auch wir tun das und danken Ihnen, Heiliger Vater’.

Wir haben gesehen: UNO – Nahost – Istanbul – China – Afrika... Auf den Schultern des Kirchenoberhauptes lasten nicht nur schwere seelische, sondern auch dringende weltliche Probleme. Wir dürfen nie vergessen: Der Papst muss sich mit nahezu 2OO Ländern auf der ganzen Welt und deren Ortskirchen befassen. Und die Ortskirchen in den allermeisten Ländern haben meist andere und wesentlich grundlegendere Probleme als wir mitten in Europa. Ganz zu schweigen von Afrika, Asien und Lateinamerika, wo die Mehrheit der Menschen sich mit Menschenrechtsverletzungen und Religionskonflikten herumschlagen müssen. Einige Schlagzeilen, die in Mitteleuropa helles Entsetzen auslösen, werden in anderen Ländern kaum verstanden. Was die Piusbrüder sind, weiß man eigentlich nur in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und in Österreich. Was die Tridentinische Messe von der nachkonzilaren Messe unterscheidet, werden allein schon in einigen Nachbarländern Europas etliche Christen nicht mehr verstehen.

Im Laufe der fünfeinhalb Regierungsjahre ist es Benedikt immer deutlicher klar geworden, dass jede Geste, die er macht, jedes Wort, das er spricht, auch eine politische Bedeutung haben. Ein nicht leichter Lernprozess für Benedikt XVI., denn er versteht sein Amt als in erster Linie als geistliches Amt. Wie konnte es kommen, so fragen sich zwei ausgewiesene Vatikanjournalisten in ihrem gut recherchierten Buch ‘Attacco a Ratzinger’, dass Benedikt XVI., der Ausdrücke wie Liebe, Freude, Schönheit, Frieden zu Schlüsselbegriffen seiner Verkündigung gemacht hat, der demütig, mild und fast schüchtern auftritt sowie einer der gelehrtesten Geister der katholischen Welt ist - wie konnte es also kommen, dass dieser Papst immer wieder als rückwärtsgewandter Restaurator und letztlich als der unbeugsame ‘Panzerkardinal’ dargestellt wird, wie das die Medien schon mit dem Glaubenspräfekten Joseph Ratzinger taten? Torniello und Rodari lehnen es ab, von einer zentral gesteuerten Welt-Kampagne gegen den Papst zu sprechen. Aber die Stimmung in den säkulären Medien – vor allem in den USA und in der angelsächsischen Welt – sei im allgemeinen nicht die, den Vatikan, die Kirche und den Papst zu erklären und objektiv darzustellen, sondern vor allem die Zentrale in Rom dazu zu zwingen, sich fortwährend verteidigen und rechtfertigen zu müssen. Übrigens: Die italienische Berichterstattung über den Vatikan und die Kirche ist in dem letzten Jahresquartal durchaus papstfreundlich gestimmt. Journalisten und Meinungsmacher wie Giancarlo Zizola, Alberto Melloni, Sandro Magister, Gian Enrico Rusconi oder Vittorio Messori sind inzwischen zu absoluten Verteidigern des römischen Kirchenoberhauptes geworden: Ich nehme an, dass dies ganz besonders auch auf das scharfe Durchgreifen des Papstes im Bereich der Missbrauchsfälle zurückzuführen ist.

In dem im Buch ‘Bekenntnisse’ - einer Sammlung von Interviews, die Radio Vatikan ausgestrahlt hat - ist auch ein Gespräch abgedruckt, das ich mit Kardinal Joseph Ratzinger nur wenige Monate vor seiner Wahl zum Papst führen durfte. Nach einer Reihe von theologischen Pflichtfragen erlaubte er mir, noch drei persönliche Fragen an ihn zu richten, nämlich: Was schätzen Sie an ihren Mitmenschen ganz besonders? Die Antwort lautete: ‘Ich würde sagen, die Offenheit. Dass man nicht Hintergedanken fürchten muss. In dem Sinn: Wahrheit; Offenheit, Herzlichkeit, Humor und Güte. Das, glaube ich, sind so die Eigenschaften, die mich am ehesten mit einem Menschen verbinden und die ich mir selber auch am meisten wünschen würde’.

Die zweite Frage lautete: In welcher der vier Kardinaltugenden sehen Sie Ihren Charakter am besten umschrieben? Antwort: ‘Ich wage nicht, meine Tugenden zu katalogisieren. Ganz stark bin ich vielleicht in keiner der vier Kardinaltugenden: Ich veruche vor allen Dingen, mein Maß zu erkennen und (er lacht) meine Grenzen einzusehen. Und da gibt’s sicher auch das Versagen.’
Schlussfrage:Gibt es einen Fehler, zu dem Sie sich öffentlich bekennen würden? Antwort: ‘Was meine Fehler betrifft, die anderen Leute kennen sie zweifellos besser als ich selber. Insofern würde ich jetzt auch nicht zu einer öffentlichen Beichte ausholen wollen. Doch, warten Sie – es gibt einen Fehler, den die meisten Leute vielleicht nicht merken: Ich neige eigentlich zur Bequemlichkeit. Am liebsten möchte ich mich von den öffentlichen Ärgerlichkeiten und Geschäften in die professorale Idylle zurückziehen. Aber der Herr prügelt mich dann schon immer wieder in meine Verantwort hinein’.

Das, verehrte Zuhörer, hat der Herr nun wirklich auch getan!“

Aldo Parmeggiani

 







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