2010-10-18 13:06:57

Nahost-Synode im Vatikan: Patriarch zitiert Wikipedia – „Nein zu Antisemitismus“


RealAudioMP3 Zu einer ungewöhnlichen Quelle griff an diesem Montag Morgen der koptisch-katholische Patriarch Antonios Naguib bei einem Vortrag im Vatikan: Er zitierte im Beisein des Papstes vor der Nahost-Sondersynode von Bischöfen einen Artikel aus dem Internetportal Wikipedia. Dabei wollte er belegen, dass „Proselytismus“ – den die Kirche verwirft – etwas ganz anderes ist als die Verkündigung des Evangeliums, auf die die Kirche auch im Nahen Osten sogar ein Recht habe. Es war wohl das erste Mal, dass Wikipedia auf einem solchen Vatikan-Forum zitiert wird.
„Relatio post disceptationem“: In einem langen Vortrag versuchte Patriarch Antonios, die auseinanderlaufenden Fäden der Reden und Debatten aus den letzten Tagen zu einem Knäuel zusammenzuballen. Das verband er – zur Zufriedenheit vieler „Auditores“, also Experten, die der Papst zur Synode hinzugebeten hatte – mit teilweise sehr konkreten Vorschlägen: eine gute Vorlage für die Diskussionsgruppen, in denen die Arbeit der Synode ab diesem Nachmittag weitergeht.
Erster Punkt des Patriarchen: Die Kirche in Nahost sollte wieder in die Offensive gehen und Ja zur Verkündigung sagen. Jesus habe klar gesagt: „Geht hinaus in alle Welt und lehret alle Völker!“ Eine „respektvolle, friedliche Verkündigung“ sei etwas ganz anderes als „Proselytismus“. Antonios Naguib wörtlich: „Die Verkündigung muss ihren Platz in unseren Kirchen des Nahen Ostens wiederfinden, entsprechend den Bedingungen in den einzelnen Ländern.“ Dazu gelte es, zumindest ein missionarisches Institut für die Nahostregion zu gründen.
Damit war der Patriarch schon beim heiklen Thema der Stellung der Christen in mehrheitlich islamischen Gesellschaften:
„Die Christen in Nahost sind einheimische Bürger – sie gehören vollkommen zum sozialen Gewebe und zur Identität ihrer Länder... Sie brauchen Religionsfreiheit – also Kult- wie Gewissenfreiheit. Religion darf nicht politisiert werden, und der Staat darf nicht über die Religion die Oberhand haben! Unsere Kirchen wollen eine sichtbare und spürbare Präsenz ihrer Gläubigen im öffentlichen Leben, in der Verwaltung, in den Medien und Parteien. Entscheidend ist dabei nicht die Zahl der Personen, sondern dass sie ihren glauben leben und effektiv eine Botschaft übermitteln können.“
Patriarch Naguib forderte eine arabische Variante der katholischen Soziallehre und ein Festhalten an den katholischen Schulen. Unter den Herausforderungen an Christen in Nahost nannte er als erstes die Konflikte in der Region.
„Die politisch-soziale Lage unserer Länder hat direkte Auswirkungen auf die Christen, vor allem in negativer Hinsicht. Wir weisen Gewalt zurück und fordern eine gerechte, dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes; gleichzeitig drücken wir unsere Solidarität mit dem palästinensischen Volk aus, dessen derzeitige Lage dem Fundamentalismus Vorschub leistet.“
Hier fehlte eine Erwähnung der Israelis – mehr als ein Kirchenmann aus dem Heiligen Land hatte in den letzten Tagen gefordert, man solle doch auch ein Wort finden für das Leiden vieler Juden in Israel. Stattdessen rief Patriarch Naguib die internationale Gemeinschaft auf, das Leiden der Christen im Irak nicht zu vergessen – sie seien „die ersten Opfer des Krieges und seiner Folgen“. Die Kirchen im Westen seien „gebeten, sich doch nicht auf die Seite der einen zu schlagen und dabei den Standpunkt und die Lebensbedingungen der anderen zu vergessen“ – eine kaum verhüllte Kritik an westlicher Parteinahme für Israel.
Weitere Herausforderungen für Nahost-Christen laut Naguib: Das Einfordern von Kult- und Gewissensfreiheit – einschließlich dem (von Wikipedia untermauerten) Recht auf „friedliche Verkündigung“ auch in einem mehrheitlich islamischen Umfeld. Außerdem: die Gefahr durch einen politischen Islam, der manchmal sogar zur Gewalt greife und „alle bedroht“, also nicht nur die Christen. Die schwierige Lage vieler christlicher Einwanderer, darunter viele Frauen, in den arabischen Golfstaaten. Und, als weitere Herausforderung: die Emigration von Christen, deren Gründe u.a. der Nahostkonflikt und die Unsicherheit im Irak seien. Der Aderlass von Christen betreffe auch die Moslems; auch der Westen solle mithelfen, die Emigration durch Entwicklungshilfe zu bremsen – auch wenn Emigration natürlich im Grunde ein Menschenrecht sei. Um Einwanderer aus dem Nahen Osten in Gesellschaften des Westens könne sich vielleicht ein patriarchaler Visitator aus ihrer alten Heimat kümmern, regte der Patriarch an – wie überhaupt die nahöstlichen Patriarchen endlich auch zuständig sein müßten für Gläubige ihrer Kirche außerhalb ihres so genannten kanonischen Territoriums. Übrigens sollten Patriarchen eigentlich auch – wie Kardinäle – zur Papstwahl berechtigt sein: Bei dieser Forderung ging ein hörbares Raunen durch die Synodenaula des Vatikans.
„Die Gefahr, die die Christen des Nahen Ostens bedroht, kommt nicht nur von ihrer Minderheitensituation oder durch Bedrohungen von außen, sondern vor allem von ihrer inneren Entfernung von ihrem Glauben und ihrer Mission. Die Zweideutigkeit in der Lebensweise ist für das Christentum gefährlicher als jede andere Bedrohung. Das wahre Drama des Menschen ist nicht, wenn er für seine Mission leidet, sondern wenn ihm seine Mission ganz abhanden kommt... Auch in schwierigen und dramatischen Umständen bleibt die Antwort des christen im täglichen Leben der pastorale Einsatz, die Caritas sowie Kultur- und Bildungsangebote von hoher Qualität. Dafür gibt es konkrete Beispiele in der Türkei und anderswo.“
Communio, Einheit der Kirchen in Nahost – das fängt für Patriarch Antonios Naguib im Innern einer jeden Kirche an: Reiche Bistümer sollten ärmeren helfen, ein einheitliches Priesterseminar in einer Region müsse reichen, die Kirche dürfe keine „ethnische, nationalistische Gruppe“ werden und erst recht nicht sich ins Ghetto zurückziehen. Er wünsche sich einen postsynodalen Rat, der im Kontakt mit Rom die Umsetzung der Synodenbeschlüsse vor Ort im Nahen Osten überwache. Weitere Vorschläge Naguibs: Interrituelle Pastoralräte, mehr ostkirchliches Basiswissen für den lateinischen Klerus, eine Art „Priester ohne Grenzen“ (und auch „Laien ohne Grenzen“) für bedürftige Bistümer, keine Angst vor neuen geistlichen Bewegungen, Gründung von lokalen Kommissionen für den ökumenischen Dialog – und in Sachen Ökumene eine „Gewissenserforschung“ über alles, was man zu tun versäumt habe, und eine „Reinigung des Gedächtnisses“. Die Katholiken in Nahost sollten sich das bereits Erreichte im Zusammenleben mit anderen Kirchen besser aneignen und z.B. Medienleute gemeinsam ausbilden. Ein einheitlicher Termin für das Osterfest aller Kirchen sei eine „pastorale Notwendigkeit“, arabische Gebetstexte müßten vereinheitlicht werden, und nahöstliche Kirchen sollten mit am Tisch sitzen, wenn der Vatikan Dialoge mit anderen Konfessionen oder Religionen führe. Naguib schlug auch ein Abkommen der christlichen Kirchen des Nahen Ostens gegen Proselytismus untereinander vor.
„In Gebet, Nachdenken, Studium und Treue zum Wirken des Heiligen Geistes müssen wir versuchen, auf die Aufforderung Johannes Pauls II. nach einer neuen Form der Primatsausübung zu antworten. Diese neue Form darf aber nicht die Mission des Bischofs von Rom beschädigen und muss sich an den kirchlichen Formen des ersten Jahrtausends inspirieren. Wenn der Heilige Vater einverstanden ist, könnte man eine pluridisziplinäre Kommisison mit dem Studium dieses delikaten Themas beauftragen.“
Mit den Moslems verbänden die Christen vierzehn Jahrhunderte des Zusammenlebens und ein häufig geglückter Dialog des täglichen Lebens. Probleme sollten aber offen angesprochen werden, zumal ja auch der Islam im Westen immer stärker missioniere. Die Synode setze auf eine Stärkung der Moderaten und fordere eine Säuberung mancher Schulbücher in mehrheitlich islamischen Ländern. Für einen arabischen Christen bemerkenswert deutlich war dann das Bekenntnis des koptisch-katholischen Patriarchen zum Dialog mit dem Judentum:

„Unsere Kirchen weisen Antisemitismus und Antijudaismus zurück. Die Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen arabischen Völkern und den Juden hängen mehr mit der konfliktuellen politischen Lage zusammen – wir unterscheiden zwischen religiöser und politischer Realität.“

Vierzig Seiten Bericht und 23 zum Teil sehr konkrete Fragen – damit gehen die Teilnehmer der Nahostsynode ab diesem Montag Nachmittag in die Gesprächszirkel, die so genannten „circuli minori“. Dort wollen sie konkrete Vorschläge erarbeiten, über die am Wochenende abgestimmt wird, bevor sie dann dem Papst vorgelegt werden.
(rv 18.10.2010 sk)







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