Nahost-Synode im Vatikan: Patriarch zitiert Wikipedia – „Nein zu Antisemitismus“
Zu einer ungewöhnlichen
Quelle griff an diesem Montag Morgen der koptisch-katholische Patriarch Antonios Naguib
bei einem Vortrag im Vatikan: Er zitierte im Beisein des Papstes vor der Nahost-Sondersynode
von Bischöfen einen Artikel aus dem Internetportal Wikipedia. Dabei wollte er belegen,
dass „Proselytismus“ – den die Kirche verwirft – etwas ganz anderes ist als die Verkündigung
des Evangeliums, auf die die Kirche auch im Nahen Osten sogar ein Recht habe. Es war
wohl das erste Mal, dass Wikipedia auf einem solchen Vatikan-Forum zitiert wird. „Relatio
post disceptationem“: In einem langen Vortrag versuchte Patriarch Antonios, die auseinanderlaufenden
Fäden der Reden und Debatten aus den letzten Tagen zu einem Knäuel zusammenzuballen.
Das verband er – zur Zufriedenheit vieler „Auditores“, also Experten, die der Papst
zur Synode hinzugebeten hatte – mit teilweise sehr konkreten Vorschlägen: eine gute
Vorlage für die Diskussionsgruppen, in denen die Arbeit der Synode ab diesem Nachmittag
weitergeht. Erster Punkt des Patriarchen: Die Kirche in Nahost sollte wieder in
die Offensive gehen und Ja zur Verkündigung sagen. Jesus habe klar gesagt: „Geht hinaus
in alle Welt und lehret alle Völker!“ Eine „respektvolle, friedliche Verkündigung“
sei etwas ganz anderes als „Proselytismus“. Antonios Naguib wörtlich: „Die Verkündigung
muss ihren Platz in unseren Kirchen des Nahen Ostens wiederfinden, entsprechend den
Bedingungen in den einzelnen Ländern.“ Dazu gelte es, zumindest ein missionarisches
Institut für die Nahostregion zu gründen. Damit war der Patriarch schon beim heiklen
Thema der Stellung der Christen in mehrheitlich islamischen Gesellschaften: „Die
Christen in Nahost sind einheimische Bürger – sie gehören vollkommen zum sozialen
Gewebe und zur Identität ihrer Länder... Sie brauchen Religionsfreiheit – also Kult-
wie Gewissenfreiheit. Religion darf nicht politisiert werden, und der Staat darf nicht
über die Religion die Oberhand haben! Unsere Kirchen wollen eine sichtbare und spürbare
Präsenz ihrer Gläubigen im öffentlichen Leben, in der Verwaltung, in den Medien und
Parteien. Entscheidend ist dabei nicht die Zahl der Personen, sondern dass sie ihren
glauben leben und effektiv eine Botschaft übermitteln können.“ Patriarch Naguib
forderte eine arabische Variante der katholischen Soziallehre und ein Festhalten an
den katholischen Schulen. Unter den Herausforderungen an Christen in Nahost nannte
er als erstes die Konflikte in der Region. „Die politisch-soziale Lage unserer
Länder hat direkte Auswirkungen auf die Christen, vor allem in negativer Hinsicht.
Wir weisen Gewalt zurück und fordern eine gerechte, dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen
Konfliktes; gleichzeitig drücken wir unsere Solidarität mit dem palästinensischen
Volk aus, dessen derzeitige Lage dem Fundamentalismus Vorschub leistet.“ Hier
fehlte eine Erwähnung der Israelis – mehr als ein Kirchenmann aus dem Heiligen Land
hatte in den letzten Tagen gefordert, man solle doch auch ein Wort finden für das
Leiden vieler Juden in Israel. Stattdessen rief Patriarch Naguib die internationale
Gemeinschaft auf, das Leiden der Christen im Irak nicht zu vergessen – sie seien „die
ersten Opfer des Krieges und seiner Folgen“. Die Kirchen im Westen seien „gebeten,
sich doch nicht auf die Seite der einen zu schlagen und dabei den Standpunkt und die
Lebensbedingungen der anderen zu vergessen“ – eine kaum verhüllte Kritik an westlicher
Parteinahme für Israel. Weitere Herausforderungen für Nahost-Christen laut Naguib:
Das Einfordern von Kult- und Gewissensfreiheit – einschließlich dem (von Wikipedia
untermauerten) Recht auf „friedliche Verkündigung“ auch in einem mehrheitlich islamischen
Umfeld. Außerdem: die Gefahr durch einen politischen Islam, der manchmal sogar zur
Gewalt greife und „alle bedroht“, also nicht nur die Christen. Die schwierige Lage
vieler christlicher Einwanderer, darunter viele Frauen, in den arabischen Golfstaaten.
Und, als weitere Herausforderung: die Emigration von Christen, deren Gründe u.a. der
Nahostkonflikt und die Unsicherheit im Irak seien. Der Aderlass von Christen betreffe
auch die Moslems; auch der Westen solle mithelfen, die Emigration durch Entwicklungshilfe
zu bremsen – auch wenn Emigration natürlich im Grunde ein Menschenrecht sei. Um Einwanderer
aus dem Nahen Osten in Gesellschaften des Westens könne sich vielleicht ein patriarchaler
Visitator aus ihrer alten Heimat kümmern, regte der Patriarch an – wie überhaupt die
nahöstlichen Patriarchen endlich auch zuständig sein müßten für Gläubige ihrer Kirche
außerhalb ihres so genannten kanonischen Territoriums. Übrigens sollten Patriarchen
eigentlich auch – wie Kardinäle – zur Papstwahl berechtigt sein: Bei dieser Forderung
ging ein hörbares Raunen durch die Synodenaula des Vatikans. „Die Gefahr, die
die Christen des Nahen Ostens bedroht, kommt nicht nur von ihrer Minderheitensituation
oder durch Bedrohungen von außen, sondern vor allem von ihrer inneren Entfernung von
ihrem Glauben und ihrer Mission. Die Zweideutigkeit in der Lebensweise ist für das
Christentum gefährlicher als jede andere Bedrohung. Das wahre Drama des Menschen ist
nicht, wenn er für seine Mission leidet, sondern wenn ihm seine Mission ganz abhanden
kommt... Auch in schwierigen und dramatischen Umständen bleibt die Antwort des christen
im täglichen Leben der pastorale Einsatz, die Caritas sowie Kultur- und Bildungsangebote
von hoher Qualität. Dafür gibt es konkrete Beispiele in der Türkei und anderswo.“ Communio,
Einheit der Kirchen in Nahost – das fängt für Patriarch Antonios Naguib im Innern
einer jeden Kirche an: Reiche Bistümer sollten ärmeren helfen, ein einheitliches Priesterseminar
in einer Region müsse reichen, die Kirche dürfe keine „ethnische, nationalistische
Gruppe“ werden und erst recht nicht sich ins Ghetto zurückziehen. Er wünsche sich
einen postsynodalen Rat, der im Kontakt mit Rom die Umsetzung der Synodenbeschlüsse
vor Ort im Nahen Osten überwache. Weitere Vorschläge Naguibs: Interrituelle Pastoralräte,
mehr ostkirchliches Basiswissen für den lateinischen Klerus, eine Art „Priester ohne
Grenzen“ (und auch „Laien ohne Grenzen“) für bedürftige Bistümer, keine Angst vor
neuen geistlichen Bewegungen, Gründung von lokalen Kommissionen für den ökumenischen
Dialog – und in Sachen Ökumene eine „Gewissenserforschung“ über alles, was man zu
tun versäumt habe, und eine „Reinigung des Gedächtnisses“. Die Katholiken in Nahost
sollten sich das bereits Erreichte im Zusammenleben mit anderen Kirchen besser aneignen
und z.B. Medienleute gemeinsam ausbilden. Ein einheitlicher Termin für das Osterfest
aller Kirchen sei eine „pastorale Notwendigkeit“, arabische Gebetstexte müßten vereinheitlicht
werden, und nahöstliche Kirchen sollten mit am Tisch sitzen, wenn der Vatikan Dialoge
mit anderen Konfessionen oder Religionen führe. Naguib schlug auch ein Abkommen der
christlichen Kirchen des Nahen Ostens gegen Proselytismus untereinander vor. „In
Gebet, Nachdenken, Studium und Treue zum Wirken des Heiligen Geistes müssen wir versuchen,
auf die Aufforderung Johannes Pauls II. nach einer neuen Form der Primatsausübung
zu antworten. Diese neue Form darf aber nicht die Mission des Bischofs von Rom beschädigen
und muss sich an den kirchlichen Formen des ersten Jahrtausends inspirieren. Wenn
der Heilige Vater einverstanden ist, könnte man eine pluridisziplinäre Kommisison
mit dem Studium dieses delikaten Themas beauftragen.“ Mit den Moslems verbänden
die Christen vierzehn Jahrhunderte des Zusammenlebens und ein häufig geglückter Dialog
des täglichen Lebens. Probleme sollten aber offen angesprochen werden, zumal ja auch
der Islam im Westen immer stärker missioniere. Die Synode setze auf eine Stärkung
der Moderaten und fordere eine Säuberung mancher Schulbücher in mehrheitlich islamischen
Ländern. Für einen arabischen Christen bemerkenswert deutlich war dann das Bekenntnis
des koptisch-katholischen Patriarchen zum Dialog mit dem Judentum:
„Unsere
Kirchen weisen Antisemitismus und Antijudaismus zurück. Die Schwierigkeiten im Verhältnis
zwischen arabischen Völkern und den Juden hängen mehr mit der konfliktuellen politischen
Lage zusammen – wir unterscheiden zwischen religiöser und politischer Realität.“
Vierzig
Seiten Bericht und 23 zum Teil sehr konkrete Fragen – damit gehen die Teilnehmer der
Nahostsynode ab diesem Montag Nachmittag in die Gesprächszirkel, die so genannten
„circuli minori“. Dort wollen sie konkrete Vorschläge erarbeiten, über die am Wochenende
abgestimmt wird, bevor sie dann dem Papst vorgelegt werden. (rv 18.10.2010 sk)