Hans-Gert Pöttering wurde am 15. September 1945 in Bersenbrück Niedersachsen geboren.
Seinen Vater, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges gefallen ist, hat er
nie kennen gelernt. Dieses persönliche Schicksal hat in ihm die Überzeugung stark
werden lassen, sich schon sehr früh politisch zu engagieren. Es hat seinen Weg in
die Europapolitik maßgeblich mitbestimmt. 1979 wird Pöttering in das damals erstmals
direkt gewählte Europaparlament eingezogen und gehört seitdem bis heute dieser politischen
Großinstitution an. Er ist übrigens der einzige Europaparlamentarier, der seit der
1. Direktwahl durchgehend gewählt worden ist. Ein einsamer Rekord. Das Europäische
Parlament stand dann zwei Jahre lang, von 2007-2009 unter seiner Stabführung. Heute
ist Hans-Gert Pöttering Präsident der weltweit vertretenen Konrad-Adenauer-Stiftung.
- Europa ist die große Leidenschaft von Hans-Gert – Pöttering, gleichzeitig seine
große Herausforderung. Wie er das Europa von morgen sieht, lautet unsere erste Frage
an ihn:
‘Also zunächst einmal muss man sagen, dass die Europäische Einigungspolitik
eine große Erfolgsstory ist. Als das europäische Parlament erstmals 1979 gewählt wurde,
war Europa geteilt, mein eigenes Vaterland Europa war geteilt, Berlin war geteilt.
Heute haben wir seit 20 Jahren die deutsche Einheit. Heute sind Länder, die von der
Sowjetunion besetzt waren, wie Estland, Lettland und Litauen, und auch die anderen
Staaten des Warschauer-Paktes, wie Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, sind heute
freie, demokratische Länder und gehören zur Wertegemeinschaft der Europäischen Union.
Das ist ein großer Fortschritt. Wenn man an das Europa der Zukunft denkt, dann wünsche
ich mir, dass diese europäische Union, die heute 27 Länder umfaßt, mit 500 Millionen
Menschen, stark, demokratisch und frei ist, um so unsere Werte und Interessen zu vertreten.
Wir können nicht jedes Land, das Mitglied der Europäischen Union werden möchte, in
die Europäische Union aufnehmen, aber sicher werden wir die Staaten des Balkans, also
die Länder nördlich von Griechenland, südlich von Slowenien eines Tages aufnehmen
müssen, um so auch den Balkan zu stabilisieren und den Frieden dort für alle Zeit
zu sichern.’
*Sie haben einmal die symbolträchtige Wiedervereinigung des
europäischen Kontinents am 1. Mai 2004 und natürlich die historische Einheit Deutschlands
am 3. Oktober 1990 als Ihr schönstes Geschenk in Ihrer politischen Laufbahn beschrieben.
Realpolitisch betrachtet: Hätten Sie sich jemals gedacht, dass diese beiden geschichtlich
einmaligen Fakten jemals Wirklichkeit würden?
‘Ich habe immer daran geglaubt,
dass eines Tages der Kommunismus zusammenbrechen würde, weil der Kommunismus ebenso
wie das andere totalitäre Regime, der Nationalsozialismus, gegen die Natur des Menschen
ist. Deswegen war ich immer überzeugt: eines Tages wird der Kommunismus scheitern,
aber dass es in meiner Lebenszeit sein würde, das konnten wir nicht ahnen.’
*Welche
Rolle spielte in diesem Kontext die katholische Kirche, insbesondere der zu dieser
Zeit amtierende Papst Johannes Paul II?
‘Die Rolle von Johannes Paul II. kann
überhaupt nicht überschätzt werden. Seine mutige Haltung gegenüber seinen Landsleuten
in Polen, indem er bei seinen Reisen nach Polen, aber auch bei seinem Wirken in Rom
an die Adresse seiner Landsleute gesagt hat ‘Habt keine Angst’: Diese geistig-politisch-moralische
Orientierung hat den Menschen in Polen die Kraft gegeben, mit Solidarnosc, mit Lech
Walesa den Weg der Freiheit zu gehen und diesen Weg in Frieden zu gehen. Und der große
Johannes Paul II. hat an allem einen großen Anteil’.
*Der italienische Staatspräsident,
Giorgio Napoletano, hat erst vor wenigen Tagen in einer TV-Direktschaltung Rom-Cernobbio
gesagt, Europa fehle es an Visionen und an Mut. Würden Sie diese Meinung teilen?
‘Ich
schätze den italienischen Staatspräsidenten sehr, wir waren ja Kollegen im europäischen
Parlament und sind uns häufig begegnet. Wenn er davon spricht, dass wir Mut brauchen,
so kann ich das nur unterstützen. Und Mut hatten auch diejenigen, die mit der europäischen
Einigung begonnen haben. Und die Hand wurde Deutschland ja gereicht, durch den großen
Robert Schumann, dem französischen Außenminister, der ein Christ war, ein Katholik
war, der ähnlich wie Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi geleitet wurde vom christlichen
Menschenbild: die hatten damals den Mut, eine friedliche Revolution in Europa herbeizuführen.
Das bedeutet: den Gedanken des Hasses und der Missgunst zwischen den europäischen
Völkern zu überwinden und den Weg des Friedens und der Einheit Europas zu gehen. Diese
Persönlichkeiten hatten großen Mut. Und wir brauchen Visionen. Helmut Kohl, der einzige
lebende Ehrenbürger Europas, hat einmal gesagt: ‘Die Visionäre, die wir für Europa
brauchen, die sind notwendig. Und die sind die eigentlichen Realisten’.
*Ein
Schwerpunkt Ihrer Europa-Politik war dem Nah-Ost-Problem gewidmet: wie schätzen Sie
die eben wiederaufgenommenen Friedensgespräche ein? Wieviel Optimismus, wieviel Skepsis
lassen Sie in Ihre realpolitischen Überlegungen einfließen? Ich meine: ist es völlig
unrealistisch, bei der Lösung des Nah-Ost-Problems an ein politisches Wunder zu denken,
wie zum Beispiel an das Wunder der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands? Natürlich
mit völlig anderen politischen Voraussetzungen?
‘Das ist ein schönes Bild,
das Sie zeichnen, und ich möchte sagen, dass ich auch heute noch sehr engagiert bin,
was die Frage des Friedens im Nahen-Osten angeht. Ich gehöre ja – wie Sie einleitend
gesagt haben - noch dem Europäischen Parlament an und leite dort die Arbeitsgruppe
Naher-Osten. Wir als Christen lassen unsere Politik, unsere Gedanken, unser Handeln
tragen von dem Prinzip der Hoffnung. Deswegen müssen wir auch die Hoffnung haben,
was den Frieden im Nahen Osten angeht. Die Einheit Deutschlands wurde möglich, was
wir für unsere Generation nicht erwartet haben. Die Einheit Europas, die Überwindung
des Kommunismus wurde möglich, was wir für unsere Generation nicht erwartet haben,
und wenn Persönlichkeiten guten Willens jetzt daran gehen, auch im Nahen Osten Frieden
zu schaffen, Israel mit sicheren Grenzen, Palästina mit sicheren Grenzen, dann kann
das ebenso Wirklichkeit werden, wie der Frieden und die Einheit in Europa, die Einheit
Deutschlands, das ist zwar schwierig, aber es ist möglich’.
*Daß Europa
heute wieder vereinigt ist verdanken wir dem Freiheitswillen der Völker Europas und
natürlich den europäischen Gründervätern Robert Schumann, Alcide De Gasperi, Konrad
Adenauer. Sie sind heute der Vorsitzende der weltweit vertretenen Konrad-Adenauer-Stiftung.
Welche Schwerpunkte hat sich die Stiftung für die nächsten Jahre gesetzt?
‘
Die Konrad-Adenauer-Stiftung trägt ja den Namen des ersten Kanzlers der Bundesrepublik
Deutschland von Konrad Adenauer. Unsere Aufgabe ist es, unsere Zielsetzung ist es,
dass wir auf der Grundlage seiner Überzeugungen mitwirken an der Gestaltung der Verhältnisse
in Deutschland, in Europa und in der Welt. Dabei gehen wir aus vom christlichen Menschenbild,
von der Würde jedes einzelnen Menschen. Der Mensch ist Person, das bedeutet für sich
selber verantwortlich und verantwortlich für die Gemeinschaft. In diesem christlichen
Menschenbild finden sich die Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität. Und dieses
christliche Menschenbild wollen wir fördern. Wir sind eine parteinahe Stiftung, d.h.
wir stehen in der Nähe der CDU. Wir fördern die soziale Marktwirtschaft, wir sind
gegen den Kapitalismus, weil der Kapitalismus sich gründet nur auf das Kapital, auf
die Materie, wie auch der Kommunismus, die Materie zur Grundlage hat. Wir sind für
den Markt, weil die Menschen in ihrer Summe besser den Markt bestreiten können, als
die tüchtigsten Bürokraten, sei es in Brüssel, Berlin oder Rom. Aber der Markt ist
kein Selbstzweck, er muss den Menschen dienen, er hat auch eine soziale Funktion.
Und gerade bei der Bewältigung der Finanzkrise ist das wichtig: dass wir dem Markt
eine Ordnung geben, Regeln geben. Auch das gehört zu den Prinzipien der Konrad-Adenauer-Stiftung.’
*Als
neugewählter Präsident der Konrad-Adenauer-Stiftung haben Sie in diesem Frühjahr ein
Novum gesetzt: Sie riefen die Politiker auf, sich eingehend mit der diesjährigen Fastenbotschaft
Papst Benedikts XVI. zu beschäftigen. Europa – sagten Sie – müsse sich nicht nur um
finanzielle Mittel, sondern um eine geistige Erneuerung der Politik kümmern. Ein Politiker,
der eine Päpstliche Botschaft zur Fastenzeit vorstellt, das hat es bis jetzt noch
nie gegeben. Wie ist es dazu gekommen?
‘Ich wurde von Kardinal Cordes eingeladen,
meine Bewertung der Fastenbotschaft des Hl. Vaters Benedikt XVI. zu geben. Die Politikerinnen
und Politiker, die sich dem Christentum verpflichtet fühlen, tun in aller Unzulänglichkeit
natürlich ihres Handelns etwas, was den christlichen Überlegungen entspricht. Und
dafür brauchen wir Ermutigung. Mein Kommentar zur Fastenbotschaft des Heiligen Vaters
habe ich so verstanden, dass wir uns gegenseitig ermutigen. Die Politik soll die Kirche
in ihrem Handeln für menschliche Solidarität ermutigen, aber die Kirche soll auch
die Politiker ermutigen, wenn sie christliche Überzeugungen vertreten.’
*Um
den Frieden in der Welt wird zusehends gebangt. Was muss geschehen, welches Beispiel,
welche Gegenargumentation würden Sie jenen Menschen gegenüber halten, die in ihrem
Pessimismus, in ihrer Skepsis fürchten, dass es früher oder später doch einen Rückfall
geben werde?
‘Wir sind immer in der Bedrohung, dass es Rückfälle geben kann,
dass Gewalt das Mittel ist, mit dem unterschiedliche Überzeugungen ausgetragen werden.
Hier müssen wir uns dazu bekennen, dass bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassungen
von politischen Positionen wir diese unterschiedlichen Auffassungen immer austragen
mit friedlichen Mitteln, mit den Mitteln des Dialogs und niemals mit Gewalt. Wir müssen
deswegen der Gewalt, auch dem Terrorismus mit aller Entschlossenheit widerstehen,
aber wir müssen auch immer wissen, dass unsere eigenen Überzeugungen, nicht dazu führen
dürfen, dass wir konfrontativ anderen begegnen. Der Dialog der Kulturen ist wichtig,
gerade auch mit der islamischen Welt. Meine Erfahrung im Kontakt mit gläubigen Moslems
ist, dass sie im Frieden leben wollen und dass der Terrorismus eine Erscheinung ist,
die die Mehrheit der gläubigen Moslems gar nicht befürwortet.’
*Eine letzte,
allerdings sehr wichtige Frage: Sie sind Katholik, und zwar bekennender. Sie sind
Politiker, und zwar praktizierender. Läßt sich aus dem Evangelium konkrete Politik
ableiten?
‘ Das ist eine sehr schwierige Frage: Ich glaube nicht, dass es möglich
ist zu sagen, es gibt d i e christliche Politik oder d i e katholische Politik oder
d i e Politik, die sich auf dem Islam gründet. Aber was man sagen kann ist: dass es
eine Politik gibt aus christlicher Verantwortung. Das ist das Entscheidende. Und Politik
aus christlicher Verantwortung bedeutet, dass man den Nächsten, den Mitmenschen ebenso
wichtig nimmt, wie man sich selber wichtig nimmt. Das heißt, dass die Prinzipien der
Solidarität - in unserem Glauben würden wir von Nächstenliebe sprechen – dass die
Prinzipien der Solidarität von großer Bedeutung sind. Wenn wir unser Menschenbild
ernst nehmen, dann ist der Mensch nicht nur Individuum, er ist auch nicht nur Kollektiv,
wie verschiedene politiche Orientierungen uns vermitteln wollen, sondern der Mensch
ist beides. Er ist Person, sich selber verantwortlich und gleichzeitig der Gemeinschaft
verantwortlich. Wenn wir dieses Spannungsverhältnis richtig sehen, dann vertreten
wir christliche Prinzipien. Und auf diesen christlichen Menschenbild können wir verantwortlich
handeln mit allen Unzulänglichkeiten, die den Menschen eigen sind. Aber wir müssen
handeln und sind dabei getragen vom Prinzip der Hoffnung und der Verantwortung für
die Menschen’.