Dokument: Papstrede an Religionsvertreter im Volltext
Am Freitag Mittag hat sich Papst Benedikt in London mit Klerikern und Laienvertretern
anderer Religionen getroffen. Hier finden Sie seine Ansprache bei der Begegnung im
offiziellen Volltext.
„Sehr geehrte Gäste, liebe Freunde! Es ist für mich
eine große Freude, Ihnen, den Vertretern der verschiedenen Religionsgemeinschaften
in Großbritannien, begegnen zu können. Ich grüße sowohl die geistlichen Amtsträger
als auch jene, die in Politik, Wirtschaft und Industrie tätig sind. Ich danke Dr.
Azzam und Oberrabbiner Lord Sacks für die Grußworte, die sie in Ihrer aller Namen
gesprochen haben. Ich begrüße Sie ebenso und wünsche bei dieser Gelegenheit der jüdischen
Gemeinde in Großbritannien und auf der ganzen Welt ein frohes und gesegnetes Jom-Kippur-Fest.
Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich die Wertschätzung der Katholischen Kirche
für das wichtige Zeugnis zum Ausdruck bringen, das Sie alle als gläubige Menschen
in einer Zeit ablegen, in der religiöse Überzeugungen nicht immer verstanden und geschätzt
werden. Die Präsenz von engagierten Gläubigen in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Lebens zeigt klar auf, daß die geistliche Dimension unseres Lebens
eine grundlegende Bedeutung für unsere menschliche Identität hat, daß – anders gesagt
– der Mensch nicht vom Brot allein lebt (vgl. Deut 8,3). Für uns Angehörige verschiedener
religiöser Traditionen, die sich gemeinsam für das Wohl der gesamten Gesellschaft
einsetzen, hat dieses Arbeiten „Seite an Seite“ eine große Wichtigkeit und ergänzt
die Gespräche „von Angesicht zu Angesicht“ in unserem fortlaufenden Dialog. Auf
geistlicher Ebene sind wir alle auf unterschiedliche Weisen persönlich auf einem Weg,
der eine Antwort auf die wichtigste aller Fragen gibt – die Frage nach dem letzten
Sinn des menschlichen Daseins. Die Suche nach dem Heiligen ist das Streben nach dem
einen Notwendigen, das allein das Verlangen des menschlichen Herzens stillen kann.
Im fünften Jahrhundert hat der heilige Augustinus diese Suche mit folgenden Worten
beschrieben: „Auf dich hin hast und uns geschaffen, Herr, und unruhig ist unser Herz,
bis es ruht in dir“ (Bekenntnisse I, 1). Wenn wir uns auf dieses Abenteuer einlassen,
wird uns immer mehr bewußt, daß die Initiative nicht bei uns liegt, sondern beim Herrn:
Es sind nicht so sehr wir, die ihn suchen, sondern vielmehr er, der uns sucht und
der ja dieses Verlangen nach ihm tief in unser Herz gelegt hat. Ihre Präsenz und
Ihr Zeugnis in der Welt verweisen auf die grundlegende Bedeutung dieser geistlichen
Suche, auf die wir uns eingelassen haben, für das Leben der Menschen. Innerhalb ihres
jeweiligen Fachbereichs vermitteln uns die Human- und Naturwissenschaften ein wertvolles
Verständnis verschiedener Aspekte unseres Lebens und helfen uns, das Zusammenspiel
der Kräfte in der materiellen Welt tiefer zu erfassen, so daß diese dann mit großem
Gewinn für die Menschheitsfamilie genutzt werden können. Diese Wissenschaften beantworten
jedoch nicht die grundlegende Frage und können dies auch nicht tun, da sie sich allesamt
auf einer anderen Ebene bewegen. Sie können das tiefste Verlangen des menschlichen
Herzens nicht stillen, sie können uns unseren Ursprung und unsere Bestimmung letztlich
nicht erklären und uns nicht sagen, warum und mit welchem Ziel wir existieren, noch
können sie eine umfassende Antwort auf die Frage liefern, warum überhaupt etwas ist
und nicht vielmehr nichts. Die Suche nach dem Heiligen nimmt den anderen Bereichen
des menschlichen Forschens nicht ihren Wert. Im Gegenteil, sie stellt sie in einen
Zusammenhang, der ihnen größere Bedeutung verleiht als Weisen, wie wir verantwortungsvoll
für die Schöpfung sorgen können. In der Bibel lesen wir, daß Gott am Ende des Schöpfungswerks
unsere Ureltern segnete und zu ihnen sprach: „Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert
die Erde, unterwerft sie euch“ (Gen 1,28). Er vertraute uns die Aufgabe an, die Geheimnisse
der Natur zu erforschen und sie uns nutzbar zu machen, um so einem höheren Gut zu
dienen. Was ist dieses höhere Gut? Im christlichen Glauben wird es als Liebe zu Gott
und Liebe zu unserem Nächsten formuliert. Daher sind wir aus ganzem Herzen und voll
Begeisterung in der Welt tätig, aber stets mit dem Blick auf den Dienst an diesem
höheren Gut, da wir sonst die Schönheit der Schöpfung entstellen würden, indem wir
sie für egoistische Zwecke ausbeuten. In diesem Sinne verweist uns der authentische
religiöse Glaube über die gegenwärtige Zweckmäßigkeit hinaus auf die Transzendenz.
Er erinnert uns an die Möglichkeit und das Gebot der moralischen Umkehr, an die Pflicht,
in Frieden mit unserem Nächsten zu leben, an die Bedeutung eines rechtschaffenen Lebenswandels.
Richtig verstanden, spendet der Glaube Licht; er reinigt unser Herz und regt zu edlen
und großzügigen Taten an, die der gesamten Menschheitsfamilie Nutzen bringen. Er spornt
uns an, ein tugendhaftes Leben zu führen und einander in Liebe zu begegnen, mit größtem
Respekt für andere religiöse Traditionen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
betont die Katholische Kirche besonders die Wichtigkeit des Dialogs und der Zusammenarbeit
mit den Angehörigen anderer Religionen. Damit dies fruchtbar werden kann, ist ein
Prinzip der Gegenseitigkeit unter allen Dialogpartnern und den Angehörigen der verschiedenen
Religionen erforderlich. Dabei denke ich besonders an Situationen in manchen Teilen
der Welt, wo die Zusammenarbeit und der Dialog zwischen den Religionen gegenseitigen
Respekt erfordern wie auch die Freiheit, seine jeweilige Religion auszuüben und öffentliche
Gottesdienste zu feiern. Sie beanspruchen die Freiheit, dem eigenen Gewissen zu gehorchen,
ohne deswegen ausgegrenzt oder verfolgt zu werden, auch nicht im Falle einer Konversion
von einer Religionsgemeinschaft zu einer anderen. Sobald ein solcher Respekt und eine
solche Offenheit bestehen, werden die Menschen aller Religionen gemeinsam wirksam
für den Frieden und das gegenseitige Verständnis arbeiten und so vor der Welt ein
erstrebenswertes Zeugnis geben. Diese Art des Dialogs muß auf einer Reihe verschiedener
Ebenen geführt werden und sollte sich nicht auf offizielle Gespräche beschränken.
Zum gelebten Dialog gehört auch das einfache Miteinander-Leben und Voneinander-Lernen,
um so im Verständnis und im Respekt füreinander zu wachsen. Der Dialog des Handelns
bindet uns in konkrete Formen der Zusammenarbeit ein, indem wir unsere religiösen
Erkenntnisse in den Dienst der Förderung der umfassenden Entwicklung der Menschen
stellen und uns für den Frieden, die Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung
einsetzen. Ein solcher Dialog kann auch gemeinsame Überlegungen einschließen, wie
wir das menschliche Leben in jedem Stadium schützen können und wie wir erreichen können,
daß die religiöse Dimension der einzelnen und der Gruppen nicht aus dem gesellschaftlichen
Leben ausgeschlossen wird. Auf der Ebene offizieller Gespräche bedarf es nicht nur
des theologischen Austauschs, sondern wir sollen auch unseren geistlichen Reichtum
miteinander teilen, indem wir von unserer Erfahrung im Gebet und in der Kontemplation
sprechen und einander die Freude über unsere Begegnung mit der göttlichen Liebe zum
Ausdruck bringen. In diesem Zusammenhang sehe ich mit Freude die vielen Initiativen,
die in diesem Land zur Förderung des Dialogs auf verschiedenen Ebenen unternommen
werden. Wie die Bischöfe von England und Wales in ihrem jüngsten Dokument Meeting
God in Friend and Stranger [Gott in Freunden und Fremden begegnen] geschrieben haben,
werden die Bemühungen um freundschaftliche Kontakte mit den Angehörigen anderer Religionen
zunehmend zu einem vertrauten Bestandteil der Sendung dieser Ortskirche (vgl. Nr.
228) und zu einem charakteristischen Merkmal der religiösen Landschaft dieser Nation.
Liebe Freunde, zum Abschluß meiner Ausführungen darf ich Ihnen versichern, daß
die Katholische Kirche den Weg der Begegnung und des Dialogs aus wahrem Respekt für
Sie und Ihr religiöses Bekenntnis verfolgt. Die Katholiken in Großbritannien und auf
der ganzen Welt werden sich weiter dafür einsetzen, Brücken der Freundschaft zu anderen
Religionen zu bauen, Fehler und Wunden der Vergangenheit zu heilen und das Vertrauen
unter den einzelnen und unter den Gemeinschaften zu fördern. Ich danke Ihnen nochmals
für die gastliche Aufnahme und für die Gelegenheit, Sie in Ihrem Dialog mit Ihren
christlichen Brüdern und Schwestern zu ermutigen. Für Sie alle bitte ich um reichen
göttlichen Segen! Herzlichen Dank.“