Türkei-Experte: „Verfassungsreferendum klärt nicht Frage der Religionsfreiheit“
Die Türkei hat ihre
Verfassung reformiert: Weniger Macht dem Militär und mehr Entscheidungsgewalt für
Regierung und zivile Gerichte – ungefähr so lässt sich das türkische Verfassungsreferendum
auf den Punkt bringen; es kam am letzten Sonntag zur Abstimmung. Die Reform sei insgesamt
eine „Entscheidung pro Demokratie“, kommentiert Menschenrechtsexperte Otmar Oehring
im Gespräch mit dem Kölner Domradio. Allerdings würden viele wichtige Fragen – zum
Beispiel die der Religionsfreiheit – nicht geklärt. „Missio“-Referent Oehring:
„Wenn
man losgelöst von den innenpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Monaten und
Jahren diese Entscheidung sieht, muss man sagen: Es ist ganz klar eine Entscheidung
pro Demokratie gegen die Dominanz des Militärs in Gesellschaft und Staat. Aber die
Türkei hat trotzdem noch einen sehr langen Weg vor sich in Richtung Europa mit ungewissem
Ausgang am Ende, denn es sind viele Fragen in dieser Verfassungsreform gar nicht gestreift
worden. Zum Beispiel ist die Frage von Straftaten gegen das Türkentum nach wie vor
nicht endgültig geklärt worden. Der ganze Komplex der Religionsfreiheit - ein sehr
kritischer Komplex in der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Militär - ist
nicht geklärt worden.“
Die Reform betreffe vor allem Veränderungen hinsichtlich
des Justizapparates, so Oehring: So werde die Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts
verändert, Parlament und Regierung erhielten hier mehr Vollmachten.
„Das
ist sicher positiv zu sehen - wird aber von den Gegnern des Referendums als negativ
gesehen, weil der Regierung unterstellt wird, dass sie ihre eigenen Kader auf die
entsprechenden Posten hieven würde. Ein zweiter Punkt ist, dass künftig Straftaten
gegen die Staatssicherheit nicht mehr von Militärgerichten verhandelt werden, sondern
von zivilen Gerichten. Auch das ist eine ganze wichtige Entwicklung. Ein dritter Punkt:
Straftaten von Militärangehörigen werden künftig auch von Zivilgerichten behandelt.
Daneben gibt es noch viele andere Entwicklungen und Änderungen, die die Türkei auf
einen demokratischeren Weg bringen.“
Allzu positiv will sich der Beobachter
zu diesem Zeitpunkt aber nicht äußern. Der wohl wichtigere Schritt stehe schließlich
noch bevor:
„Es wird jetzt notwendig sein, erst mal Ausführungsgesetze zu
den einzelnen Verfassungsänderungen zu machen; da wird man schon sehen, wohin die
Reise geht. Ein weiterer Schritt, den der Ministerpräsident schon angekündigt hat,
ist die Erarbeitung einer ganz neuen Verfassung - mindestens genauso wichtig, wenn
nicht noch wichtiger. Erst wenn diese Verfassung vorliegt und dann auch die Ausführungsgesetze
zu dieser neuen noch zu erarbeitenden Verfassung, wird man sagen können, wohin die
Türkei sich in Zukunft tatsächlich bewegt.“
Recep Tayyip Erdogans „Partei
für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) hatte die Abstimmung von Sonntag initiiert;
knapp 58 Prozent der Wahlberechtigten billigten am Sonntag die 26 Verfassungsänderungen
gegen den geschlossenen Widerstand der Oppositionsparteien. Dass die Türken das Referendum
ernst nahmen, zeigt eine hohe Wahlbeteiligung von knapp 78 Prozent.