Navid Kermani:
Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime
von Anne Preckel
Navid
Kermani stellt in seinem Buch „Wer ist wir?“ die Frage nach Deutschlands Muslimen
als Frage von Zuweisungen und Zugehörigkeiten, die über Religion und Nation hinausgehen.
Identität ist kompliziert, die religiöse erst recht – davon geht der deutsche Autor
iranischer Herkunft aus. Er beobachtet aktuelle Debatten über „die Muslime“ und die
Art und Weise, wie sie geführt werden. Und er lässt Zwischentöne anklingen, bricht
gängige Gegenüberstellungen wie „Muslime vs. Deutsche“ und „Islam vs. Moderne“ auf.
„Wir“ ist Multi-Kulti-Fußballfieber in Kölle, „wir“ ist der gewalttätige afghanische
Junge an der deutschen Schule samt hilfloser Lehrerin. Aber „wir“ ist auch Murat Kurnaz,
ein Schandfleck im sonst funktionierenden deutschen Rechtsstaat. Und „wir“ ist auch
die Islamkonferenz, mit ihren Mängeln und Möglichkeiten, endlich auch institutionell
Dialog mit Muslimen anzuleiern. Integration in Deutschland ist möglich, aber nicht
leicht zu haben, scheint uns Islamkenner Kermani sagen zu wollen. Denn bereits die
Kultur- und Religionsgeschichte ist – im Islam wie im christlich geprägten Raum –
vielfältig und widersprüchlich. Kermani zeigt zum Beispiel, dass die Trennung von
Staat und Religion im historischen Islam sehr wohl gekannt und geschätzt wurde – der
Kalif war kein Mufti. Oder dass die Idee vom Islam als Staatsform erst im 19. Jahrhundert
aufkam und obendrein vom Westen mitproduziert wurde. Und schließlich: Dass „der Islam“
oder das, was wir mit „Islam“ meinen, heute vielerorts viel toleranter und integrationsfähiger
ist als angenommen.
Als Beispiel oder Chance eines „wir“, das über ethnische
Herkunft, Rasse, Religion und Kultur hinausgeht, nennt Kermani die europäische Idee:
„Europa ist gerade kein erweiterter Nationalstaat, sondern ein Modus, Unterschiede
politisch zu entschärfen, um sie zu bewahren.“ Wenn das gelingt, ist viel erreicht.
Und echte Integration kann in dieser Perspektive freilich niemals Assimilation bedeuten.
Kann man zugleich von innen und außen schauen? Kermanis Buch tut es. Das mag
man „postmodern“ und unabgeschlossen nennen wollen. Es ist aber unerlässlich, wenn
man den Anspruch hat, tiefer in die Blackbox religiöser und kultureller Identität
zu blicken.
Navid Kermani: „Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime.“ Verlag
C. H. Beck, München 2009. Preis 16,90 €.