Aussteigen auf katholisch: Zahl der Einsiedler wächst
Sie leben in Höhlen,
beten Tag und Nacht, sprechen mit niemandem und ernähren sich von Waldbeeren. So oder
so ähnlich leben Eremiten, zumindest gemäß der allgemeinen Vorstellung. Eremit sein,
das ist eine Lebensform, für die heute in der katholischen Kirche wieder Platz ist.
Und mehr noch, der Einsiedler ist im Aufwind. Allein in Italien leben heute ungefähr
200 Eremiten, hat der in Bologna lehrende Soziologe Isacco Turrina herausgefunden.
„Ein Eremit ist ein Mensch, der ein mönchisches Leben führt, aber außerhalb
von Klostermauern“,
definiert der Wissenschaftler. Ein Mensch, der hauptsächlich
betet.
„Er betet in einer Atmosphäre der Stille und der Einsamkeit. Die
Lebensform der Einsamkeit bedeutet auch, dass der Eremit banale Tätigkeiten macht,
wie Hausarbeit – es gibt ja niemanden, der das für ihn erledigt, keine Gemeinschaft.
Ansonsten führt er ein zurückgezogenes, sehr einfaches, nüchternes Leben.“
Konkret
heißt das: Einsiedler vermeiden die Zerstreuung und die Unterhaltung, die typisch
wären für ein normales Leben, erklärt Turrina.
„Sie und ich, wir haben,
wenn wir arbeiten, mit vielen Menschen zu tun, die wir nicht kennen, ein normales
Arbeitsleben bringt das heute mit sich. Der Eremit hat überdies kein Fernsehen und
liest meist keine Zeitung. Einige Eremiten haben ein Radio, hören es aber nur zu den
Mahlzeiten und auch da nur bestimmte spirituelle Sendungen. Es ist nicht so, dass
das eremitische Leben gar keine Form der Kommunikation vorsieht. Es sieht aber vor,
sie sehr sparsam zu verwenden. Damit sie nicht diese Form des Lebens stören, die ganz
dem Gebet und der Vereinigung mit Gott gewidmet ist.“
Rund 200 Eremiten
gibt es heute in Italien, ebenso viele in Frankreich und etwa 80 in Deutschland, so
die Erhebungen des Soziologen.
„Viele Eremiten sind Kustoden von aufgelassenen
Pfarreien oder entlegenen Heiligtümern, die seit langem nicht mehr genutzt werden,
normalerweise in Berggegenden. Aber es stimmt nicht, dass die Eremiten heute ausschließlich
in entlegenen Gebieten und in irgendwelchen Grotten hausen. Wir finden Eremiten in
allen Landschaften und in allen Umgebungen.“
Dabei bedeutet das Wort Eremit
eigentlich „Wüstenbewohner“. Manche Einsiedler wählen freilich heutzutage auch die
Stadtwüste als ihr Lebensumfeld:
„Der Stadt-Eremit ist ein Eremit wie andere
auch. In den Städten gibt es ja heute viele Menschen, die fast wie Einsiedler leben,
nur dass sie das nicht freiwillig und nicht im Gebet tun. Denken wir an die vielen
einsamen alten Menschen. In einer Stadt ist das Individuum anonym. Im Supermarkt oder
auf der Post sehen wir viele Leute, aber wir können, wenn wir wollen, auch darauf
verzichten, nur ein Wort mit jemandem zu wechseln. Allerdings, für die meisten ist
diese Lebensform ein Unglück, nichts was sie sich selbst wählen würden. Der Eremit
hingegen sucht bewusst diese einsame Lebensform.“
Einsam, aber nicht allein,
könnte man hinzufügen. Denn der Eremit ist normalerweise kein Mensch, der überhaupt
niemanden trifft:
„Im Gegenteil, um den Einsiedler
herum entsteht immer ein Netz von spirituellen Kontakten, Menschen, die im Austausch
mit dem Eremiten stehen, etwa regelmäßig für ein paar Stunden und für eine spirituelle
Erfahrung vorbeikommen. Ein Eremit braucht andere Menschen, gerade weil er in extremer
Armut lebt.“
Für das Einsiedlerdasein muss man freilich gemacht sein –
das hat Turrina bei seinen Gesprächen mit Eremiten immer wieder gehört. Die meisten
Einsiedler, unter ihnen sind übrigens gut die Hälfte Frauen, kommen aus Ordensgemeinschaften,
sie waren etwa als Missionare tätig. Und auch die Charaktereigenschaften müssen mitspielen,
damit das Leben in der Einsamkeit gute Früchte trägt:
„Der Eremit muss
einen guten Charakter haben, also auch anderen in aufgeräumter Weise begegnen können.
Eremiten sind keine Menschenfeinde, keine Leute, die andere meiden, denn wenn es so
wäre, würden sie zum Trübsinn neigen, der Eremit muss aber ein herzlicher Charakter
sein. Und er muss einen bemerkenswerten inneren Reichtum haben. Eine starke Berufung,
damit er sich nicht langweilt und auch immer etwas findet, was er vertiefen und nachfragen
und meditieren möchte.“
Die Figur des Eremiten ist ein uraltes christliches
Kulturgut. So erwähnt im 6. Jahrhundert der Heilige Benedikt in seiner Ordensregel
den Einsiedler als die eine von vier Arten von Mönchen. Allerdings war dem Eremiten
in der neueren Geschichte nicht immer Glück beschieden. Jahrhunderte lang war diese
Lebensform in der Kirche vielerorts tot und überlebte in den meisten Gegenden nur
als Dekor. So gab es im 18. und 19. Jahrhundert in englischen Landschaftsparks so
genannte „Schmuckeremiten“. Diese professionellen Einsiedler lebten gegen Bezahlung
in eigens eingerichteten, auf alt getrimmten Eremitagen und ließen sich zu bestimmten
Tageszeiten sehen, um den Hausherren und dessen Gäste mit seinem Anblick zu erfreuen.
„Im 19. Jahrhundert hat sich eine Vorstellung von Ordensleben als einem
aktiven Leben in der sozialen Realität der Zeit entwickelt. Das kontemplative Ordensleben
wurde für nutzlos gehalten und ging in eine tiefe Krise. Wiedergeboren wurde es erst
nach dem 2. Weltkrieg, mit zunächst sehr vereinzelten Erfahrungen in Kanada, Frankreich,
USA. Und dann kam das 2. Vatikanische Konzil, das die eremitische Lebensform wieder
bestätigte. Das hat sich auch im neuen Kirchenrechts-Gesetzbuch von 1983 niedergeschlagen.
Der Kodex von 1917 sah die eremitische Lebensform gar nicht vor. Die Initiative ging
also von unten aus, aber die Kirche hat sie aufgenommen im Kirchenrecht und hat ihr
eine neue Energie gegeben, weshalb die Zahl Eremiten heute sicherlich zunimmt.“
Der
Kanon 603 des kirchlichen Gesetzbuches weist den Einsiedlern eine ganz genaue Funktion
zu: Beten für das Heil der Welt. Im Gebet lenkt der bzw. die Eremitin die Aufmerksamkeit
Gottes auch auf die Probleme seiner Mitbrüder und Schwestern, die mitten im Leben
der Welt stehen. Der Eremit repräsentiert damit alle anderen im Gebet. Abseits der
spirituellen Komponente ist die nonkonforme Lebensweise des Einsiedlers auch für nicht-spirituelle
Gemüter anziehend. Isacco Turrina macht das an dem deutschen Wort „Aussteiger“ fest:
„Der
Aussteiger ist jemand, der nach einem ausgefüllten Leben sich zurückzieht in ein einsameres
Leben. Der Aussteiger macht das meist nicht aus religiösen Motiven. Doch allein die
Tatsache, dass es auf Deutsch dieses Wort gibt, legt nahe, dass diese Person eine
Figur der Moderne ist. Ein Idealtyp, den wir heute in verschiedenen Ausformungen sehen.
Das heißt, die Eremiten sind nicht die einzigen, die eine Wahl dieser Art machen.
Ihre Eigenheit ist, dass sie diese Wahl aus religiösen Gründen treffen, weil sie dazu
berufen sind. Sie sind aber geistig verwandt mit Menschen, die für sich entscheiden,
sich aus dem Leben in Gesellschaft zu entfernen.“ (rv 26.08.2010 gs)