Ruanda ist ein bemerkenswertes
Land. In vielerlei Hinsicht steht es heute als Musterknabe Afrikas da: Die Jungen
erhalten eine gute Ausbildung. Das Gesundheitswesen funktioniert, die Straßen sind
sauber und frisch geteert. Mehr als die Hälfte der Parlamentarier sind Frauen. Es
gibt eine engagierte und prämierte Umweltpolitik. Und das alles nur 16 Jahre nach
einem der schlimmsten Völkermorde in der Geschichte Afrikas: In 100 Tagen wurden damals
800.000 Menschen hingemetzelt.
Soeben hat das Land gewählt und dabei mit großer
Mehrheit den Präsidenten Paul Kagame für eine dritte Amtszeit bestätigt. Kritiker
werfen Kagame einen autoritären Regierungsstil vor. Andererseits hat er Ruanda aus
dem Alptraum des Völkermordes in eine stabile Gegenwart geführt. Raoul Bagopha ist
bei misereor Fachmann für die Region der Großen Seen. Für ihn lässt sich der Fortschritt
Ruandas in den letzten 16 Jahren an vielen Beispielen ablesen:
„Man kann
das unter anderem im Bereich Bildung festmachen. Kagame hat verstanden, dass Ruanda
in die Bildung investieren muss, und zwar unter Berücksichtigung moderner Kommunikationsmittel.
Er hat verstanden, dass es wichtig ist, den Menschen zu Zugang zu medizinischer Grundversorgung
zu sichern, etwa durch die Einführung von Krankenkassen. Er hat verstanden, dass Menschen,
die unternehmerisch tätig sind, unbürokratisch umsetzen wollen, was sie sich vornehmen.
Die Politik der Korruptionsbekämpfung, die Kagame führt, ist im Interesse der Menschen.
Das sind Pluspunkte, und deshalb ist es schon erstaunlich, dass er sich vor offenen
Wahlen fürchtet.“
Die Präsidentschaftswahl, die Kagame im Amt bestätigte,
war am 10. August, und tatsächlich legten die Begleitumstände dieser Wahl erhebliche
Defizite in der Demokratie bloß. Angehörige der Opposition starben unter ungeklärten
Umständen. Kagame versuchte auch mit unlauteren Mitteln die Gunst der Wähler zu erlangen.
Beobachter meldeten,
„dass kritische Stimmen überhaupt nicht zugelassen
wurden. Sogar von den gemäßigten Wahlbeobachtern des Commonwealth haben wir gehört,
dass Ruanda noch große Fortschritte machen müsse im Bereich politischer Mitbestimmung
und Freiheit der Medien. Die Mordfälle sind in diese Diskussion einzuordnen, wie politisch
offen ist Ruanda. Und obwohl man noch nicht sagen kann, wer wirklich dahintersteckt,
führt die derzeitige politische Kultur der relativen Unfreiheit dazu, dass man das
sofort als politischen Mord einstuft.“
Der große Nachbar des kleinen Ruanda,
die Demokratische Republik Kongo, galt lange Zeit als politischer Erzfeind. Nach dem
Genozid an den Tutsis und gemäßigten Hutus tauchten zahllose radikale Hutu-Kämpfer
mit viel Blut an den Händen im Ostkongo unter. Die Region, die reich an Bodenschätzen
ist, wurde zur unsichersten Gegend der Welt: Die Hutu-Rebellen plünderten, brandschatzten,
vergewaltigten und mordeten nahezu wahllos. Anfang 2009 wurden Ruanda und Kongo miteinander
aktiv: Sie führten eine gemeinsame Militäroperation durch und nahmen wieder diplomatische
Beziehungen auf. Doch das kann nur ein Anfang sein, glaubt Raoul Bagopha.
„Die
Frage ist, wie gesellschaftlich verankert ist das Ganze. Wir glauben, dass eine Diskussion
ausschließlich auf der Ebene der Staatschefs zwischen Kagame und Kabila noch keine
nachhaltige Aussöhnung herbeiführen kann.“
Mindestens ebenso wichtig wäre
es, sagt Bagopha, von unten anzufangen, bei den Jugendlichen, die mit fast unerschütterlichen
gegenseitigen Feindbildern aufgewachsen sind, weil sie unendlich viel Gewalt von der
jeweils anderen Seite erlebten. Ruanda und Kongo müssten eine abgestimmte Jugendpolitik
betreiben,
„…die deutlich macht, dass man nicht mehr Feinde sein will und
dass diese Nachbarn zu einem friedlichen Zusammenleben verurteilt sind. Diese Jugendpolitik
sehen wir nirgendwo, weder bei den Ruandern noch bei den Kongolesen, was die staatlichen
Stellen angeht. Die kirchlichen Einrichtungen dagegen versuchen aus unserer Sicht,
hier einen nachhaltigen Beitrag zu leisten.“
Allerdings ist die moralische
Autorität der Kirche gerade in Ruanda nicht ganz unbefleckt. Das Land war und ist
katholisch geprägt - umso ernüchternder war damals die Einsicht, dass Katholiken,
ja vereinzelt sogar Priester und Ordensleute unter den Hutus und Tutsis, beim Blutrausch
von 1994 mitmachten.
„Die Kirche als Institution hat sich in Ruanda als
Institution nichts vorzuwerfen. Aber dass es Menschen innerhalb der Kirche gab, die
mitgemacht haben, lähmt auch die Kirche, sodass sie nicht einmal in der Lage ist,
bestimmte Menschen, die im Namen der Kirche versuchten, andere zu retten, in den Vordergrund
zu stellen. Wir haben eine eingeschüchterte Kirche, eine Kirche, die mit der eigenen
Vergangenheit hadert, die relativ gespalten ist, weil manchmal eine differenzierte
Auseinandersetzung sofort als Relativierung der Vergangenheit eingestuft werden könnte.
Wer etwa sagt, „Wir haben zwar Fehler gemacht, aber es gab auch Leute, die ihr Leben
geopfert haben, um andere zu retten“, dann klingt das schon nach Relativismus. Deshalb
hat man in Ruanda die Kirche weniger gehört als in Nachbarländern wie Kongo oder Burundi,
wo die bischöflichen Kommissionen für Gerechtigkeit und Frieden eine aktive Rolle
gespielt haben im Prozess der Demokratisierung.“
Unter der aktuell sauberen
und geordneten Oberfläche Ruandas gärt der Konflikt zwischen den Angehörigen der beiden
Ethnien – den Hutus und den Tutsis - immer noch. Das bietet Präsident Kagame eine
willkommene Rechtfertigung für seinen autoritären Führungsstil: Würde er die Zügel
lockerer lassen, drohe das Land im nächsten Blutrausch zu versinken. In der Tat ist
die Aufarbeitung des Völkermordes ist noch lange nicht abgeschlossen. Viel lieber
aber weist Kagame auf die unzweifelhaften Erfolge seiner politischen Arbeit hin. Bildung,
Umwelt, Gesundheit – und eine hohe Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben. Mehr
als die Hälfte der Parlamentsabgeordneten Ruandas sind Frauen – ein Rate, die kein
anders Land der Welt vorweisen kann.
„Wenn wir über Genozid reden, sollten
wir im Kopf behalten, dass viele Opfer Männer waren, und so eine Gesellschaft kann
nicht auf das Potential der Frauen verzichten. Das liegt im ureigensten Interesse
des Landes, was die Entwicklung angeht – abgesehen davon, dass der Ausschluss der
Frau eine Ungerechtigkeit war, die beseitigt werden sollte. Kagame glaubt daran, und
ist überzeugt davon, dass das im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung seines
Landes ist.“
Ob Ruanda zum Motor der Region der Großen Seen werden kann?
Raoul Bagopha ist spektisch:
„Ruanda hat diese relative Stabilität sehr
teuer erkauft. Denn die Stabilität hat mit einer anderen politischen Kultur zu tun.
Und die ist wiederum eine Gefahr für die Stabilität, weil Frustrationen entstehen:;
die Menschen können sich nicht artikulieren. Wir würden uns wünschen, dass die Stabilität
in Ruanda einhergeht mit Freiheit. Die Stabilität Ruandas wünschen wir den Kongolesen
und die Freiheit der Kongolesen wünschen wir Ruanda! Das heißt, Ruanda hat zu lernen,
genauso wie andere Länder von Ruanda zu lernen haben.“ (rv 19.08.2010 gs)