Kosovo: „Auf dem Balkan ist jede Entscheidung falsch“
Die Unabhängigkeitserklärung
des Kosovo von Serbien im Jahr 2008 hat nicht gegen das Völkerrecht verstoßen. Zu
diesem Schluss ist am Donnerstagnachmittag der internationale Gerichtshof der Vereinten
Nationen in Den Haag gekommen. Bei dem Urteil des Gerichtes handelt es sich um eine
nicht bindende Stellungnahme. Michael Feit ist Kosovo-Experte und arbeitet für die
Caritas Luxemburg. Radio Vatikan hat ihn nach Veröffentlichung des Gutachtens um eine
Einschätzung gebeten. Die Fragen stellte P. Bernd Hagenkord. „Auf
dem Balkan ist jede Entscheidung falsch, das haben schon die Diplomaten im 19. Jahrhundert
immer wieder gesagt. Trotzdem bin ich froh, dass die Konflikte, wie wir sie in den
90er Jahren erlebt haben, jetzt nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern im Gericht
entschieden werden. Da bin ich sehr froh. Ich denke, dass diese Entscheidung dazu
beiträgt, den Balkan zu stabilisieren und nicht – wie es die Serben jetzt proklamieren
– zu weiteren Auseinandersetzungen führen wird.“ Warum stabilisiert
ein solches Gutachten den Balkan? „Es sorgt für Stabilität, weil
jetzt die Möglichkeiten gegeben sind, tatsächlich Realpolitik zu machen. Bis jetzt
konnten serbische Politiker den Kosovo nicht anerkennen. Das ging nicht. Wer sich
für die Anerkennung des Kosovo ausspricht, hat in Serbien bei den Wahlen verloren.
Durch das Gutachten können die serbischen Politiker jetzt sagen, dass sie alles versucht
haben, sich aber jetzt mit dieser Rechtssituation abfinden müssen. Dies ist die einzige
Möglichkeit, mittelfristig in die EU zu kommen. Dadurch kann jetzt Realpolitik gemacht
werden. Und diese Realpolitik wird dazu beitragen, den Balkan weiter zu stabilisieren.“ Es
gab im Zuge der Begutachtung ja auch antiserbische Rhetorik. Ein EU-Vertreter sagte,
das Urteil sei ein „Aufwärtshaken gegen das Kinn Serbiens“. Das klingt ja nicht gerade
versöhnlich… „Es gibt sicherlich auch auf Seiten der EU Leute, die
nicht die richtigen Worte finden. Hier muss jetzt das getan werden, was ja auch schon
viele Politiker gemacht haben: Nämlich der Aufruf an beide Parteien, sich zu arrangieren
im Sinne der Menschen, die dort leben, die sicherlich viele Probleme haben, sowohl
in Serbien als auch im Balkan. Das sind Probleme des Alltags, ein vernünftiges Leben
dort zu führen. Ich denke, dass man sich darauf konzentrieren sollte und nicht auf
diplomatische Schlagabtausche.“ Ein Blick auf die religiöse Situation, denn
das spielt ja auch immer mit: Albaner, Kosovaren und Serben sind ja auch religiös
voneinander getrennt. Ist das der Lack auf dem Konflikt oder ist das die Substanz?
Wie schätzen Sie das ein? „Wenn man das aus der Perspektive des
Kosovo sieht: Die Serben, die dort leben, haben kein religiöses Problem. Natürlich
sind das Serben und dadurch, dass sie in der Minderheit sind, dass sie unterdrückt
sind, sind sie auch stärker religiös tätig. Die Albaner tun das eigentlich nicht.
Natürlich wird die Islamisierung des Kosovo ein wenig von außen forciert und gesteuert,
aber es ist nicht so stark wie in anderen Ländern. Wie gesagt, die Menschen im Kosovo
haben tatsächlich andere Probleme. Sie haben eine Arbeitslosigkeit von 60 %, da haben
sie andere Probleme, sich mit der Religiosität als Konflikt zu beschäftigen. Sicherlich
finden viele darin einen Halt, aber sie sehen es nicht als Konfliktfeld. Ich sehe
nicht, dass der Konflikt religiös geschürt werden kann.“ Ist der
Kosovo denn alleine überhaupt wirtschaftlich lebensfähig? Ich erinnere mich an sehr
viele Diskussionen nach der Unabhängigkeit, in der viele Kommentatoren sagten, Kosovo
sei überhaupt nicht alleine lebensfähig. „Wir haben ein Handelsdefizit
von 43 %. Das ist enorm und wird immer schlimmer. Wir haben ein Bruttosozialprodukt
pro Kopf von 1.300 €. Im Augenblick ist der Kosovo nicht lebensfähig. Die Leute leben
von dem Geld, das Kosovaren, die im Ausland leben, nach Hause zu ihren Familien schicken
und wenn diese Quelle versiegt – wir haben das gesehen bei der globalen Finanzkrise
– hat das einen enormen Einfluss zu Hause im Kosovo. In der derzeitigen Form mit der
Korruption vor Ort geht das sicherlich nicht. Man muss die Korruption bekämpfen, man
muss Infrastruktur schaffen, man muss die Basis schaffen für Investitionen. Erst dann
kann der Kosovo nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich unabhängig werden.“ (rv/reuters
23.07.2010 ord)