Wolfgang Schüssel: „Ich bin ein grenzenloser Optimist“
‘Menschen in der Zeit’ Wolfgang Schüssel – 65 Jahre Wolfgang Schüssel
ist ein überragender Politiker der österreichischen Volkspartei. Er gehört seit 1989
der Bundesregierung an und war zwölf Jahre lang Bundesparteiobmann der ÖVP und 5 Jahre
Außenminister Österreichs. Vom Februar 2000 bis zum Januar 2007 war Schüssel dann
österreichischer Bundeskanzler und als solcher im ersten Halbjahr 2006 Präsident
des Europäischen Rates. Nach Ende seiner Kanzlerschaft wurde er Klubobmann der ÖVP
im Parlament zu Wien. Seit 2008 ist Schüssel Abgeordneter zum Nationalrat. Dr. Schüssel
hat als Politiker deutliche Spuren hinterlassen und Politik mit einem scharfsinnigen
Profil betrieben. Es begleitet ihn der Nimbus, ein Politiker zu sein, der unpopulären
Reformen nicht ausweicht, der sozial denkt und der ein überzeugter Europäer ist. Darauf
soll auch das heutige Gespräch – das wir zum Anlass seines 65. Geburtstages führen
– aufgebaut sein. Wir fragen Dr. Schüssel gleich anfangs- wie er denn selbst seine
Art Politik zu betreiben, wie er sein eigenes Politikverständnis beschreiben würde. Wovon
Herr Dr. Schüssel sind Sie, politisch gesprochen, innerlich überzeugt? ‘
Ich bin erstens ein grenzeloser Optimist. Ich glaube nicht an den Untergang des Abendlandes,
an das Gesetz des fallenden Kulturgutes, ich glaube, dass die Menschheit ein enormes
Potential in sich trägt, mitbekommen vom Schöpfer. Und dieses Potential, diese Talente
zu entwickeln hat mich immer interessiert und fasziniert.’ Als demokratischer,
christlicher Regierungschef haben Sie sechs Monate lang an der Spitze der EU gestanden.
Überhaupt gehört Europa zu Ihren politischen Großprojekten. Wohin führt der künftige
Weg unseres Kontinents? ‘Europa ist ein Beispiel für viele in der Welt.
Das ist uns nur nicht immer bewußt. Viele Menschen blicken auf die Entwicklungen in
Mittel- und Zentraleuropa. Als es noch den Kommunismus gegeben hat, da war die Europäische
Gemeinschaft – und auch ein bisschen die Länder rund herum - die ‘Türme der Freiheit’,
das war ‘Jerusalem auf den Hügel’, das war dieser Blick einer möglichen Vision, wie
man in Freiheit und in einem guten sozialen Kontext zusammenleben kann. Heute
ist Europa genau das gleiche für die Länder Afrikas, Asiens, für Südamerika; für die
Golfstaaten. Viele orientieren sich an diesen ’European way of life’. Wir sollten
daher viel stolzer und selbstbewusster mit diesem Erbe – das mühsam erobert wurde
– umgehen. Deswegen glaube ich, ist Europa für uns tatsächlich Erbe und Auftrag. Das
Zentrum Europas ist der Geist, der zusammenhält, die Werte, die Einstellung, das gemeinsame
Lebensgefühl, dass niemand ausgegrenzt werden soll, dass wir eine neue Bilance in
unserem Leben finden müssen: das zeichnet uns aus’. Welche Bedeutung hat
das Wendejahr 1989 für Österreich, auch im geistigen Bereich, heute? ‘1989
war ein magisches Jahr – ein annus mirabilis; ein Jahr, in dem sich plötzlich ein
Tor aufgetan hat. Für uns ein doppelt magischer Moment weil nicht nur die Grenzen
zum Ostblock gefallen sind und weil plötzlich dieses Europa zusammen gewachsen ist
und mit den beiden Lungenflügeln – ich zitiere Johannes Paul II. – mit dem westlichen
und dem östlichen zu atmen begonnen hat, sondern weil auch in diesem Jahr wir unseren
Beitritts-Antrag zur Europäischen Union abgegeben haben. Für uns war das eine unglaublich
prägende Zeit und diese seither über 20 Jahre haben uns enorm weiterentwickelt’. Sie haben Papst Johannes Paul II. erwähnt: welche Rolle spielte dieser Papst
für die Wende 1989 in Ihren Augen. Sie sind ja mehrmals von ihm in Privataudienz empfangen
worden? ‘Das waren jedes Mal unglaublich beeindruckende Gespräche. Das
ist ein Mann mit einem Charisma, dem sich kaum jemand entziehen konnte. Er war unglaublich
an einem einzigen Thema wirklich interessiert – wie es mit den Ländern Mittel- und
Osteuropas und mit der Integration in dieses neue, gemeinsame, christlich geprägte
Europa weitergehen soll. Das hat ihn wirklich interessiert und fasziniert. Ich glaube,
dass dieser Papst für den Zusammenbruch des Kommunismus eine unglaublich wichtige
Rolle gespielt hat, die vielleicht von den Historikern erst noch aufgedeckt werden
muss’. Sind Sie auch mit Benedikt XVI. zusammengetroffen? ‘Ich
habe ihn schon vorher getroffen, als er noch Präfekt der Glaubenskongregation war.
Für mich einer der ganz großen Theologen unserer Zeit. Einer, der sich mit diesem
Amt sehr viel Last auferlegt hat, ich glaube nicht, dass er sich in dieses Amt hineingedrängt
hat, sondern er hat das im Bewußtsein großer Verantwortung übernommen.Wenn es nach
ihm ginge, würde er mit Sicherheit lieber philosophieren, theologisieren, junge Theologen
betreuen und weiterführen. Ich finde, dass viele Texte und Reden von ihm eine große
Tiefe ausstrahlen. Es lohnt sich immer wieder sich mit dem Theologen Josef Ratzinger
- dem heutigen Papst Benedikt XVI. - auseinander zu setzen. Die Schwierigkeiten, mit
denen er zu kämpfen hat, in der Kurie und der kirchlichen Bürokratie sind natürlich
nicht zu unterschätzen. Aber ich finde, er macht das großartig’. Mehrmals
haben Sie im Verlauf Ihrer politischen Tätigkeit davon gesprochen, dass das Christentum
die Basis von Europa sei und in Europa nach wie vor einen hohen Stellenwert besitze. Welche
Namen tragen diese Werte? ‘Ich finde das entscheidende, das besondere am
christlichen Weltbild und Wertebild für Europa ist die Überwindung des Konflikts durch
Kooperation und Zusammenarbeit, die Solidarität im Wettbewerb als ein sehr prägender
Grundgedanke und die Sorge um die Schwachen in der Gesellschaft. Das ist mir ganz
wichtig. Wir müssen die Leistungsstärkeren natürlich fördern und fordern, aber wir
müssen auch wissen, dass wir etwas für die Schwachen zu leisten haben. Ich finde,
das macht eigentlich das europäische Modell aus. Das steht alles 1:1 so im Neuen Testament,
man muss es nur richtig lesen und verstehen.’ Braucht das Christentum den
Staat, oder ist es umgekehrt: braucht der Staat das Christentum? ‘Der Staat
ist eine relativ junge Erfindung. Die staatliche Identität, die Nation, gab es ja
in der überwiegenden Zeit der Menschheitsgeschichte nicht. Da gab es Familien, da
gab es Stämme, da gab es regionale Strukturen, da gab es militärische Dominanz, aber
den Staat, wie wir in heute kennen, gibt es erst bestenfalls seit 150 Jahren. Ich
glaube, dass heute das Christentum so gesehen den Staat nicht braucht, aber natürlich
kann vom Staate her manches gefördert werden. Was dem Christentum und auch anderen
verdienstvollen Religionen gut tut und helfen kann. Umgekehrt glaube ich, dass der
Staat auf den Beitrag der Religionen – im Besonderen des Christentums – in Europa
nicht verzichten sollte. Vor allem Politiker müssen sich auf irgend ein Wertekostüm,
eine Wertebasis stützen können, sonst wird alles beliebig.’ Wir gehen in
schwierige Zeiten – sagte Kardinal Christoph Schönborn bei der diesjährigen Fronleichnamsprozession
in Wien – an der auch Sie teilgenommen haben. Was heute selbstverständlich ist – wie
der allgemeine Wohlstand oder die Errungenschaften des Sozialstaates werde in Zukunft
nicht mehr selbstverständlich sein. Stufen Sie diesen erzbischöflichen Pessimismus
als realistisch ein? ‘Ja, allerdings sollte man dies jetzt auch nicht so
interpretieren, dass es keine soziale Absicherung mehr geben wird. Es wäre auch ganz
falsch. Ich glaube nur, dass wir eine neue Balance finden müssen, vor allem zwischen
der älteren Generation und den Jungen. Und da braucht es eine Verantwortung auf beiden
Seiten. Ich habe aber auch deshalb ganz bewußt an der heurigen Fronleichnamaprozession
teilgenommen, als Zeichen der Sympathie und der Unterstützung für unseren kirchlichen
Oberhirten. Christoph Schönborn hat in einer für die österreichische Kirche sehr schwierigen
Situation klare Worte gefunden. als es zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen gegangen
ist. Er hat als einer der ersten die richtigen Worte gefunden: nichts verschweigen,
nichts zudecken, transparent und ehrlich zu sein, ist das Einzige, was hilft. Und
dass er auch in dieser schwierigen Situation unseren Papst verteidigt hat und auch
hier klare Worte gesprochen hat in manche Kurienrichtungen hinein, das habe ich sehr
positiv gefunden. Das mag ihn vielleicht da und dort geschadet haben, bei den Christen
in Österreich und ich glaube auch weit darüber hinaus, verdient das Beachtung und
Respekt.’ Als außenpolitischer Sprecher der ÖVP haben Sie bewegende Worte
zum Ableben des langjährigen Südtiroler Alt-Landeshauptmannes gefunden. Wer war Silvius
Magnago? ‘Silvius Magnago war einer der ganz großen Politiker, die Südtirol
je hervorgebracht hat. Wahrscheinlich der Größte. Er ist einer, der gezeigt hat, dass
man mit Klarheit, mit Festigkeit und mit friedlichen Mitteln etwas erreichen kann,
und zwar mehr als selbst kühne Optimisten je gedacht hätten. Und er hat daher auch
mit Fug und Recht größten Respekt auch von der italienischen Seite bekommen – es war
ja auch interessant, wer alles beim Begräbnis gekommen ist und welche Worte gesprochen
worden sind – und er hat diesem kleinen, wichtigen Volk im Herzen Europas, den Südtirolern,
ein Selbstbewußtsein gegeben und einen Stellenwert, wie man es anderen kleineren Völkern
in anderen Teilen Europas nur wünschen könnte: ein echtes, nachahmenswertes Beispiel’. Kaum
ein Politiker Österreichs war – wenn man alle Ihre Ämter miteinbezieht - solange in
Amt und Würden, wie Sie. Sie waren sieben Jahre lang ein mächtiger Kanzler in Wien
und haben beinahe eine Alleinregierung geführt. Leiden Sie manchmal innerlich, nicht
mehr an der Macht zu sein? ‘Ich sage hier den Spruch – er ist, glaube
ich von meiner Tochter - : nur wer losläßt, hat die Hände frei. Das finde ich eigentlich
einen sehr schönen Satz und ich lebe auch danach. Es ist interessant und spannend
gewesen, Macht zu haben und etwas gestalten zu können, aber dafür lebe uch heute viel
freier. Ich kann mehr in die Berge gehen, ich kann wieder etwas mehr musizieren, ich
spiele ja selber gerne Cello, halte Vorträge, und konzentriere mich auf die österreichische
Gesellschaft für Außenpolitik, die Bertelsmann-Stiftung, und versuche eugentlich,
mein Wissene an junge Menschen weiterzugeben. Und das ist eine mindestens so schöne
Aufgabe – es ist eine andere Form Macht zu haben, und ich finde das genauso interessant’. Vor
einem halben Jahr haben Sie etwas verwirklicht, was Sie sich schon lange borgenommen
hatten: eine Wanderung auf 5.000 Metern rund um den Kailash, dem heiligen Berg in
Tibet. Welche Eindrücke haben Sie von diesem nicht alltâglichen Abenteuer mitgenommen? ‘Wir
waren eine kleine Gruppe, ich hatte einen meiner besten und ältesten Freunde eingeladen
– einen Mönch – einen Benediktinermönch aus dem Kloster Seckau – den Pater Severin,
der mich seit meinem 5. Lebensjahr begleitet, weil er am selben Tag in das Kloster
eingetreten ist, als ich dort meine erste Hl. Kommunion empfangen habe. Wir waren
eine ganz gemischte Gruppe, Frauen und Männer, alte und junge Menschen, meine Tochter,
und wir haben uns sehr intensiv auseinandergesetzt auch mit der Spiritualität des
Buddhismus, Hinduismus, des Christentums, im Rahmen dieser ein Monat dauernden Wanderung.
Und es war hochinteressant. Es war für mich eine ganz neue Welt, diese Landschaft,
die Farben, das Licht, die Gläubigkeit der Menschen zu erleben. Und das gleiche auch
mit Texten dieser alten Schriften gegen zu spiegeln: das war für mich eine der schönsten
und wohl auch tiefsten Reisen, die ich in meinem Leben je gemacht habe’. Aldo
Parmeggiani