Seit drei Monaten
wird an russischen Schulen in weiten Teilen des Landes versuchsweise Religion unterrichtet
– ein Novum seit über 90 Jahren. Die Resonanz fällt bislang verhalten aus. Die Mehrheit
der Schüler, knapp 40 Prozent, entschied sich von vorn herein für das Fach Ethik und
damit für ein nicht konfessionsgebundenes Wahlfach. Umfrageergebnisse belegen nun,
dass dem Schulfach Religion tatsächlich nur ein geringer Stellenwert beigemessen wird.
Und dennoch sieht der Theologieprofessor und Russlandexperte Thomas Bremer in der
Einführung des Religionsunterrichts einen wichtigen Schritt für das Verhältnis zwischen
Staat und orthodoxer Kirche in Russland, das auch in jüngster Vergangenheit nicht
immer reibungsfrei blieb.
„Ein Konflikt, den man nennen könnte, das
wäre die jahrelange Auseinandersetzung um die Einführung von Religionsunterricht.
Und die Frage, welche Art von Religionsunterricht es geben soll: konfessionellen Religionsunterricht
– ähnlich, wie bei uns –, oder eine Art Religionskunde, die für alle verpflichtend
ist. Es gab ein Fach, das allerdings nicht flächendeckend eingeführt wurde, das heißt
„Grundlagen der orthodoxen Kultur“. Das verstand sich als eine Art Kulturkunde, war
aber doch sehr stark orthodox geprägt. Aktuell läuft der Versuch, zwischen Religionskunde
und orthodoxem Religionsunterricht wählen zu lassen. Zuletzt hörte man, dass sich
sehr viele Jugendliche oder eben deren Eltern für die allgemeine Religionskunde entscheiden.“
Eindeutiger
verhält sich die Staatsführung zum Themenfeld Religion und Kirche. Immer öfter sieht
man hohe Amtspersonen, die sich bei offiziellen Anlässen bekreuzigen - darunter auch
Staatspräsident Dimitri Medwedew und sein Ziehvater und Vorgänger an der Staatsspitze,
Wladimir Putin. In der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit rufen diese Gesten auch
Skepsis hervor. Prof. Bremer vom Ökumenischen Institut der Universität Münster meint
dazu:
„Ich würde sagen, das ist in erster Linie als Zeichen dafür zu
betrachten, dass Religion in Russland heute einen positiven Wert hat und dass es vermehrt
Politiker gibt, die eben religiös sind oder sich aber diese positive Konnotation zu
Eigen machen wollen. Was die Beziehungen zwischen Staat und Kirche angeht, so ist
es so, dass diese seit dem Ende des kommunistischen Regimes, also seit den frühen
Neunziger Jahren, relativ eng sind. Allerdings sind sie nicht genau geklärt.“
Von
dem wieder eingeführten Religionsunterricht verspreche sich die Regierung mehr Toleranz
zwischen den Glaubensgemeinschaften, wie ein Vertreter des russischen Bildungsministeriums
mitteilte. Das kommunistische Regime hatte das Schulfach 1917 verboten. Grundsätzlich
zeichnet der Russlandfachmann folgendes Bild vom aktuellen Staat-Kirche-Verhältnis
im Land:
„Ich würde das so beschreiben, dass es eine enge Interessensverknüpfung
gibt. Für den Staat ist es so, dass er eine gewisse kohäsive Kraft der Kirche sieht.
Das heißt, die Kirche hat die Fähigkeit, der Bevölkerung eine gemeinsame Idee und
Identität zu verleihen. Und das ist etwas, das der Staat gerne nutzt. Und er sieht
etwa auch Vorteile darin, dass die Kirche in staatlichen Strukturen, wie etwa der
Armee, präsent ist. Die Kirche versteht sich ja auch als nationale Kirche und hat
immer den russischen Staat und das Wohl der Nation vor Augen. Und sieht im Staat eben
die legitime Vertretung der nationalen Interessen. Insofern besteht eine grundsätzliche
Bejahung des Staates. Das ist nun auch deshalb wichtig, weil die Kirche zuvor eine
siebzigjährige Erfahrung von Verfolgung und Feindschaft durch den Staat hat.“