Richterin Nußberger: „Westen kann von Osteuropa lernen“
Religionsfragen werden
in Europa mehr und mehr zu Streitfragen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
in Straßburg wird beispielsweise am kommenden Mittwoch über Kruzifixe an italienischen
Schulen verhandeln. Wir haben Angelika Nußberger gefragt, inwieweit Religion ein Menschenrecht
sei. Sie ist die neue Richterin des Menschenrechtsgerichtshofs. Die Kölner Völkerrechtlerin
und Osteuropa-Expertin wird ab Januar im Straßburger Gremium mitwirken.
„Religionsfreiheit
ist natürlich auch ein Menschenrecht. Man versteht es einerseits als positives Recht,
d.h. ein Recht, Religion zu haben, und andererseits ist es auch ein sogenanntes negatives
Recht, und zwar kann man eben eine Religion auch nicht haben. Auch mit derartigen
Fragen befasst sich der Gerichtshof.“
Sie sind u.a. Expertin für
Rechte in Osteuropa. Wie sieht es dort aus in Sachen Menschenrechte und Religionsfreiheit?
Gibt es große Unterschiede zu Westeuropa?
„Ja, natürlich gibt es
Unterschiede, weil in jenen Regionen die Religionsfreiheit nicht gewährleistet worden
war. Das galt bis zur Wende Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre. Seither wird
jedoch die Religionsfreiheit gewährleistet. Es gab dann – wie man gut beobachten konnte
– eine religiöse Renaissance. Damit sind natürlich sehr viele Fragen verbunden, die
die Menschen in Osteuropa in anderer Weise betreffen als die Menschen in Westeuropa.
Ich denke dabei an die Verhältnisse unter den Kirchen, ob gegeneinander oder miteinander.
Es geht hierbei meist um Eigentumsrückgaben und es muss überhaupt ein Zusammensein
eingespielt werden, wie man mit solchen Fragen überhaupt umgehen kann. Das ist ein
neues Terrain, was sich hingegen in den sogenannten alten Demokratien über lange Zeit
herausgebildet hat.“
Können wir im Westen auch von den Osteuropäern
in Sachen Menschenrechte und Religionsfreiheit lernen? „Es gibt in den
osteuropäischen Ländern ganz andere kulturelle Traditionen, die ihre besonderen Werte
in sich tragen und die von uns auch gar nicht wahrgenommen werden. Ich beobachte aber
mit einer gewissen Traurigkeit, wie dies in Osteuropa überdeckt wird durch eine große
Kommerzialisierung, die nach der Wende kam. In Russland spricht man beispielsweise
von „Sabornos“. „Sabor“ ist die Gemeinschaft, die sich in der Kirche trifft und davon
wird ein Abstraktum gebildet. Dieses Verständnis der Zusammengehörigkeit wird als
etwas Besonderes hervorgehoben. Ich kann das nicht ins Deutsche übersetzten. Es gibt
kein Wort hierfür bei uns. Das ist auch schwer zu vermitteln. Sich damit zu befassen,
bedeutet, dass man auch etwas von diesen Ländern lernen kann.“ Und
umgekehrt: Was müsste Ihrer Meinung nach in Osteuropa verbessert werden?
„Ich
komme gerade zurück von einer Tagung der OSZE und des Max-Plank-Instituts in Kiew.
Da ging es um richterliche Unabhängigkeit. Das ist sicherlich ein Bereich, in dem
insbesondere in diesen Ländern sehr große Schwierigkeiten feststellbar sind. Sie wollen
richterliche Unabhängigkeit aber sie wissen nicht, wie sie das erreichen können. Und
es gibt auch Negativtraditionen, die sich in der sowjetischen Zeit entwickelt haben.
Da waren die Richter eben nicht unabhängig. Diese Richter aus jener Zeit sind ja zum
Teil noch da. Das Umdenken ist schwierig. Bei derartigen Fragestellungen kommen die
Vertreter der Staaten oft zu den Juristen Westeuropas und fragen, wie man dies nun
so gestalten könne, dass die Justiz sich bessert. Die Justiz wird von den dortigen
Bürgern weiterhin als korrupt und abhängig empfunden. Das ist ein großer Missstand
im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Das führt auch zu sehr viel Beschwerden beim
Menschrechtsgerichtshof in Straßburg.“