Am 30. Juni ist die
Bundesversammlung nach dem Rücktritt von Horst Köhler dazu aufgerufen, einen neuen
Bundespräsidenten für Deutschland zu wählen. Um das Amt bewerben sich der von Union
und FDP favorisierte niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU), Joachim
Gauck (parteilos) und Lukrezia Jochimsen (Die Linke). Joachim Gauck ist der Wunschkandidat
von SPD und Grünen. Radio Vatikan hat über die Nominierung des evangelischen Pfarrers
und ehemaligen Beauftragten für Stasi-Unterlagen mit dem Vizepräsidenten des Bundestages
Wolfgang Thierse (SPD) gesprochen. Thierse ist langjähriges Mitglied im Zentralkomitee
der deutschen Katholiken (ZdK).
Radio Vatikan: Was hat Gauck, das Wulff nicht
hat?
Wolfgang Thierse: „Das ist vielleicht die falsche Frage. Es gehört
zur Normalität einer Demokratie, dass es mehrere Kandidaten für eine zu wählende,
zu besetzende Position gibt. Nun haben Sozialdemokraten und Grüne eine Person nominiert,
die sich durch besondere Unabhängigkeit auszeichnet und durch einen Lebensweg, der
zeigt, dass dieser Mann einen Charakter hat. Von besonderen Vertrauens- und Glaubwürdigkeit
ist, wie auch die Reaktion in der Bevölkerung auf Herrn Gauck zeigt.“ „Wir
brauchen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, um wirklich ein Volk zu sein -
gemeinsame Werte, gemeinsame moralische Überzeugungen, die traditiert, weitergegeben,
vor allem aber gelebt werden.“ Das haben Sie erst vor kurzem in der Berliner Zionskirche
gesagt. Wie genau kann Gauck zur Einheit beitragen?
„Sein ganzer Lebensweg,
seine Erfahrung, seine frühe Prägung noch durch die Erfahrung des Hitler-Faschismus,
dann das Leben in der DDR als evangelischer Pfarrer, die Erfahrung von Benachteiligung
und Unterdrückung und Leid, Aufbruch zum Widerstand, dann seine wichtige Rolle in
den 90er Jahren als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde. Alles das zeichnet einen Mann
aus, der seinen moralischen Überzeugungen folgt, der Freiheit für einen besonders
hohen Wert hält, der verantwortliches Handeln, das sich moralisch begründet, für einen
Wesenszug einer freien Gesellschaft hält. Alles das ist wichtig in einer Zeit, wo
Menschen tief verunsichert und verängstigt sind durch die ökonomisch sozialen Krisen,
die gewissermaßen im Eiltempo einander folgen. Da ist offensichtlich die Sehnsucht
nach einem Mann, der Unabhängigkeit, Freiheit, Verantwortung gezeigt hat, besonders
groß. Da ist Gauck, glaube ich, der richtige Präsident.“ Wie haben Sie persönlich
Joachim Gauck kennengelernt? Wann hat Ihre erste Begegnung stattgefunden?
„Ich
kenne ihn seit dem wunderbaren Jahr 1990 als wir zusammen in der ersten freigewählten
Volkskammer waren und uns in dieser politisch so intensiven und so dramatischen Zeit
kennengelernt haben und dort habe ich ihn schätzen gelernt und auch vorgeschlagen
für diese Position des Leiters der Stasi-Unterlagenbehörde. Weil ich gesehen habe,
das ist einer, der sich nicht beeindrucken lässt von anderen, der nicht Moden hinterher
rennt, der keine Angst hat, wenn er kritisiert wird.“ Wie könnte man das Verhältnis
zwischen Ihnen beschreiben? Ist das auf die Arbeitsebene beschränkt oder sind über
die Jahre auch private Kontakte entstanden?
„Ich glaube, ich kann sagen,
wir mögen uns. Wir haben freundschaftlichen Respekt voreinander, aber wir haben auch
viele Übereinstimmungen in unseren Grundüberzeugungen.“ Heimat und Kirche
bedeuten Joachim Gauck viel, so ist es momentan in den Zeitungen zu lesen, Ähnliches
könnte man auch über Sie schreiben. Wie Gauck haben Sie auch nicht „rübergemacht“
in den Westen, sondern sich bewusst für ein Darbleiben mit Ihrer Familie in der DDR
entschieden. Wieso?
„Wissen Sie, das ist immer eine Mischung unterschiedlicher
Motive. Das ist gewiss Angst, Bequemlichkeit, aber es ist auch störrisches Darbleiben.
Es ist Liebe, es ist Treue zu den Freunden und Verwandten und auch so ein Grundgefühl:
Man kann doch nicht wegrennen! Man muss doch seinen Überzeugungen folgen, seinem christlichen
Auftrag folgen, da wo der Herrgott uns hingestellt hat. Das war eine meiner Überzeugungen,
aber wie gesagt, es mögen auch Angst und Bequemlichkeit eine Rolle gespielt haben.
Unsicherheit, welche Zukunft man im Westen hat, aber das wichtigste war: Treue und
Trotz.“ Kurt Biedenkopf konstatiert in der FAZ ein „zunehmendes Misstrauen
gegenüber dem umfassenden Anspruch der politischen Parteien“, auch die Bundesversammlung
in das politische Machtspiel mit einzubeziehen. Er fordert eine Aufhebung des Fraktionszwanges
in der Bundesversammlung. Was vermissen Sie zurzeit in der Deutschen Politik?
„Da
ist viel zu Vermissen. Ich glaube, dass die Bundesregierung nicht begreift, wie ungerecht
ihre Politik ist. Welche dramatischen Fehler sie bei ihrer Kürzungs- und Sparpolitik
begeht, die das Gerechtigkeitsbedürfnis ganz vieler Menschen verletzen und die Anstrengung
für sozialen Ausgleich, für soziale Gerechtigkeit immer wieder neu zu sorgen, ist
eine Grundlage einer funktionierenden Demokratie.“ Wie bewerten Sie die Absage
der Linken, Gauck nicht mitzuwählen, sondern eine eigene Kandidatin aufzustellen?
„Das
überrascht mich überhaupt nicht, denn Gauck ist ein unerbittlicher Aufklärer in Sachen
DDR-Unrecht und das gefällt der Nachfolgepartei der SED natürlich nicht. Ich bin auch
überrascht, wie dumm diese Partei ist, denn sie hätte doch durch eine Zustimmung zu
Herrn Gauck gewissermaßen in einer symbolischen Handlung vieles von den Vergangenheitsverdächtigungen
beiseite räumen können, aber sie sind offensichtlich dieser DDR-Vergangenheit viel
mehr verpflichtet, als sie öffentlich behaupten.“ Sehen Sie wirklich eine
Möglichkeit, dass Gauck von der Mehrheit der Bundesversammlung die Zustimmung bekommt?
„Ich
bin eher skeptisch. Ich glaube, dass die Disziplin von schwarz-gelb, die Angst vor
einer Zerrüttung der Koalition, sie dazu bringen wird, ziemlich geschlossen für Herrn
Wulff zu wählen. Also etwas anderes zu tun, als Kurt Biedenkopf gefordert hat.“ Köhler
kritisierte bei seinem Rücktritt Medien und den Politikbetrieb. Was ihm vorgeworfen
wird, entbehre jeder Rechtfertigung und lasse den Respekt vor seinem Amt vermissen.
Sie sind dafür bekannt, dass Sie der Bild-Zeitung keine Interviews geben. Wie muss
man sich das vorstellen, ständig auf dem Präsentierteller, öffentlicher Kritik ausgesetzt
zu sein. Wie hält man das durch?
„Wer in die Politik geht, muss lernen auch
Kritik zu ertragen, sonst ist er am falschen Ort. Demokratie ist ja keine Veranstaltung
der Sanftmütigen, sondern sie ist Streit, möglichst friedlicher Streit nach Regeln
der Fairness. Hämische Kritik, persönliche Beleidigung – alles das ist falsch. Aber
das man in der Sache hart kritisiert wird, dass man auch für eine Position, für einen
Vorschlag, für eine Entscheidung stark und entschieden angegriffen wird, das muss
man ertragen, weil man ja auch gelegentlich selber Kritik an anderen öffentlich formuliert.
Also Kritik ist Teil der Demokratie, darf nur nicht persönlich ehrabschneiderisch
sein, verletzend sein, die Regel sollten wir immer wieder einhalten.“ „Diabolisch
brilliant“ sei mit dem Namen Gauck die Nominierung von Wulff beantwortet worden, schreibt
der Rheinische Merkur. Veraten Sie wer da die Idee hatte? Sie vielleicht?
„Diabolisch
ist daran nichts, das ist ein ganz normaler Vorgang, dass Parteien, die in die Überlegungen
für eine neue Kandidatur zum Bundespräsidenten überhaupt nicht einbezogen worden sind...
Herr Gabriel hat der Kanzlerin den Vorschlag gemacht, wollen wir uns nicht zusammensetzen
und in dieser überraschend schwierigen Situation, nach dem Rücktritt eines Bundespräsidenten,
das hat es vorher noch nie gegeben, wollen wir uns da nicht zusammensetzen. Das hat
Frau Merkel abgelehnt, dass dann SPD und Grüne gemeinsam einen Kandidaten aufstellen,
das ist ganz normal, da ist nichts teuflisches daran. Aber ich will noch ergänzen,
ich habe diesen Vorschlag nicht gemacht, sondern der stammt wohl von Herrn Trittin
und Herrn Gabriel gemeinsam.“