Joachim Gauck heißt
der Mann der Stunde auf der Bühne der deutschen Bundespolitik. Der von SPD und Grünen
für die Bundespräsidentenwahl nominierte Kandidat stielt derzeit Christian Wulff die
Schau – sogar der Landesvorsitzende der FDP Sachsen, Holger Zastrow, würdigt den ehemaligen
DDR-Bürgerrechtler als moralische Instanz und Liberalen. Und obwohl eine Mehrheit
für Gauck in der Bundesversammlung Ende Juni trotzdem unwahrscheinlich ist, sind die
breiten Sympathiebekundungen für den protestantischen Pfarrer aus Rostock Grund genug,
im Radio Vatikan Tonarchiv zu stöbern. Im Oktober 2009 war Joachim Gauck in Rom zu
Gast und hat sich im Gespräch mit uns dazu geäußert, ob der Vatikan Akteneinsicht
in seine Dokumentenlager gewähren soll:
„Die Kirchen
sollten sich immer fragen, ob Imagepflege das letztgültige Argument ist, wenn sie
Entscheidungen suchen. Und ich denke, dass sie das nicht ist, um es ganz deutlich
zu sagen! Es ist so, dass sich Verantwortungsträger der Kirche heute scheuen mögen,
problematische Unterlagen ihrer Amtsvorgänger oder von Bischöfen oder Gemeindemitgliedern
zu veröffentlichen, und das kann man verstehen. Sie haben Sympathie mit ihren Vorgängern
und etwas dagegen, dass diese in den Schmutz gezogen werden. Aber auf Dauer hilft
Wahrheit!“
Als Bundesbeauftragter für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR war Gauck für die Aufarbeitung von
180 Regalkilometer Spitzelakten verantwortlich. Der Archivalien-Fachmann riet vor
diesem Erfahrungshintergrund bei seinem Rombesuch besonders eindringlich:
„Immer
dann, wenn wir mit der Wahrheit zu unserem Gegenüber gehen, entstehen andere Lösungsvarianten,
als wenn wir nur deckeln oder Imagepflege betreiben. In der Wahrheit liegt also ein
Segen, auch wenn oft ein Kampf, ein Meinungskampf, vor einem liegt, wenn man die Wahrheit
sagt. Und deshalb sind die Varianten, die dichter an der Wahrheit sind, in der Regel
vorzuziehen.“
Gauck hat im Oktober letzen Jahres nicht
wissen können, wie vehement diese Forderung ein halbes Jahr später von verschiedenen
Seiten an die Kirche herangetragen werden würde. Fest stand für den Politiker in ganz
generellem Sinn aber schon damals:
„Es käme darauf an,
dass eine Kirche, die sich heute diese Offenheit leistet, in der Lage wäre, die Fehler
und Irrtümer und auch die Schuld von Vorgängern öffentlich zu besprechen. Und die
Wahrheit von heutigen Akteuren würde darin bestehen, dass sie die Geschehnisse von
einst nicht mehr verbirgt, sondern eingesteht: Ja, es war so! Und vielleicht war es
falsch, vielleicht war es sogar Sünde.“
Am 30. Juni
wird in der Bundesversammlung über die Präsidentschaftsnachfolge entschieden werden.
Schwarz-Gelb hat eine komfortable Mehrheit von rund 20 Stimmen. Spränge eine größere
Zahl der Stimmberechtigten der Koalition ab, würde Christian Wulff den ersten Wahlgang
verlieren. Im zweiten und dritten Wahlgang ist nicht mehr die absolute, sondern nur
noch eine einfache Mehrheit nötig. Die Wahl Joachim Gaucks als Köhler-Nachfolger gilt
somit als unwahrscheinlich.