Im November 2009 wertete der Europäische Menschenrechtsgerichtshof Kruzifixe an italienischen
Schulen als Verstoß gegen das Erziehungsrecht der Eltern. Italien erhob Einspruch;
Ende Juli kommt das Urteil erneut zur Verhandlung. Ein solches Kruzifix-Verbot „aus
der Ferne“ ist vielen Europäern unverständlich. Der Streit unm das Schulkreuz werde
sowieso viel zu wenig als öffentliche Debatte geführt. Das bemängelt der Freiburger
Staatsrechtler Stefan Mückl, der als Dozent an der Päpstlichen Universität „Santa
Croce“ lehrt. Er hat sich das umstrittene Kruzifix-Urteil des Straßburger Gerichtes
einmal näher angesehen.
Mückl weist den Straßburger Richtern Fehlschlüsse
und schwere handwerkliche Mängel nach. Der supranationale Gerichtshof stütze sich
bei seiner Entscheidung auf das Kruzifixurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes
(1995), ohne jedoch Fehler und die Besonderheiten des deutschen Urteils zu berücksichtigen:
„Alle Schwachpunkte der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes finden
sich nun wieder in der Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes“.
Im italienischen Fall hatte der Menschrechtsgerichtshof das Kreuz
als Eingriff in Grundrechte gewertet: Die Schule dürfe keine „Schaubühne missionarischer
Aktivitäten“ sein, hieß es dort, staatliche Neutralität und Pluralismus müssten dort
garantiert sein. Das Kruzifix sei ein „genuin religiöses und appellatives Symbol“,
in der Schule sei es für die Kinder unausweichlich und könne als „emotional verstörend“
empfunden werden. Natürlich habe das Kruzifix eine spezifisch religiöse Bedeutung
im kirchlichen Kontext, so Mückl dazu. Wie jedes Symbol bedürfe aber auch das Kreuz
der Auflösung. Und die fiele eben je nach Kontext anders aus: „Der Symbolbetrachter
wird ja nicht zu einer Äußerung der Billigung oder Affirmation oder Anbetung gehalten,
es wird noch nicht einmal eine wie auch immer geartete Stellungnahme abverlangt.“
Das Symbol ist an sich also noch lange kein Aufruf zur Bekehrung, stellt der Jurist
klar. Größtes Manko des Urteils ist nach Mückl: Das Straßburger Gericht habe den
jeweiligen Einschätzungsspielraum der nationalen Regierung, in diesem Fall Italien,
komplett übergangen: „Diesen Beurteilungsspielraum hat der Gerichtshof in der Vergangenheit
stets respektiert und es nicht unternommen, seine eigene Einschätzung an deren Stelle
zu setzen. Von diesem Grundsatz findet sich in der neuen Entscheidung aber rein gar
nichts.“
Mit dem Kruzifixurteil wolle Straßburg wohl europaweit Exempel
statuieren, vermutet der Staatsrechtler abschließend. Damit würde das Gericht den
eigenen Grundsätzen untreu: „Was die Kammer hier nun macht, ist, dass sie letzten
Endes die Rolle eines gesamteuropäischen Gesetzgebers einnehmen möchte, indem sie
die ihr richtig erscheinende Konzeption des Verhältnisses von Staat und Kirche in
die Form eines einzelfallbezogenen Judikates gießt.“ Den wirklichen Schaden aus dieser
Entscheidung trüge letztlich nicht Italien, auch nicht das Kruzifix, sondern der Gerichtshof
selber, und mit ihm die europäische Idee. Mückl: „Es ist hier einer einzigen Kammer
gelungen, in einer einzigen Entscheidung die Autorität des gesamten Gerichtshofes
aufs Spiel zu setzen, und zwar eine Autorität, die dieser Gerichtshof bitter braucht,
wenn es darum geht, in anderen Fällen, wo in des Wortes wirklicher Bedeutung Menschenrechte
auf dem Spiel stehen, diese auch tatsächlich zu schützen.“