D: Köhlers Rücktritt und die Frage nach Militärmacht und Wirtschaft
Nach der Amtsniederlegung
von Bundespräsident Horst Köhler dreht sich die Diskussion in Deutschland jetzt vor
allem um die Gründe des Politikers und die Schwäche der Koalition. Mit Köhlers überraschendem
Rücktritt hat die deutsche Regierung noch eine weitere Krise dazubekommen. Bremens
Bürgermeister Jens Böhrnsen – als Bundesratspräsident amtierendes Staatsoberhaupt
– forderte gestern alle Beteiligten dazu auf, nicht vor Mittwoch über einen Nachfolger
zu spekulieren und versuchte damit, das politische Spiel der Namen und Posten wenigstens
einen Tag lang aufzuschieben. Blicken wir zurück auf den Anlass für Köhlers Rücktritt. Streitpunkt
war ein Interview, das Köhler im Flugzeug auf dem Rückweg von Afghanistan nach Deutschland
gemacht hatte. Es wurde am 22. Mai 2010 im Deutschlandradio gesendet. Köhlers Äußerungen
im Gespräch mit der Presse waren missverständlich. Auf die Frage, ob es in Deutschland
ein klares Bekenntnis zu kriegerischen Auseinandersetzungen braucht, antwortete er: „…
Und aus meiner Einschätzung ist es wirklich so: Wir kämpfen dort auch für unsere Sicherheit
in Deutschland. … Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind,
doch auch … zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung
und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall
auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel
freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die
mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze
und Einkommen.“ Der Direktor des Instituts für Theologie und Frieden
in Hamburg, Heinz-Gerhard Justenhoven, meint, dass wir auch jenseits der Frage, ob
der Bundespräsident missverstanden worden ist oder nicht, darüber diskutieren müssen,
ob es sinnvoll sei, für wirtschaftliche Interessen militärische Macht einzusetzen. „In
der Tat hat und soll jeder Staat Interessen haben, zu diesen Interessen zählen natürlich
auch wirtschaftliche Interessen. Die spannende Frage ist, wie solche Interessen in
einer ethisch vertretbaren Weise durchgesetzt werden dürfen, nämlich dass wir dies
auf der Basis einer Rechtsordnung tun und das wir dies unter der Wahrung der legitimen
Interessen anderer tun. Wenn wir diesen Gedanken übertragen, und er liegt eigentlich
im Kern des internationalen Rechts, dann müssen wir sagen, dass wir natürlich unsere
Sicherheitsinteressen und auch unsere ökonomischen Interessen international vertreten
dürfen, aber doch bitte nicht einseitig und schon gar nicht mit militärischer Macht.“ Köhler
habe etwas deutlich gemacht, was auch im Weißbuch der Bundesregierung stehe, nämlich,
dass zu Sicherheitsinteressen auch der freie Welthandel gehöre. Aber man müsse sich
auch aktiv um die Interessen der Bevölkerung mühen. Wenn die Interessen an Rohstoffen
zum Beispiel in Afrika oder auch im Mittleren Osten den Eigeninteressen der Menschen
dort widersprechen, nutzen alle unsere Anstrengungen nichts, sondern wir zerstören
mit der einen, was wir mit der anderen Hand aufgebaut haben. „Die
kirchliche Friedenslehre fordert ja gerade, dass alle internationalen Akteure das
ihnen Mögliche tun, dass dieser Prozess in Gang gehalten wird, und für den weiteren
Ausbau vor allen Dingen – das hat der Papst vor der UNO noch einmal deutlich gemacht
– des Respekts vor dem internationalen Recht.“ Aber selbst innerhalb
einer funktionierenden Rechtsordnung müsse man gegen die vorgehen könne, die sich
nicht an dieses Recht halten. Ist das dann eine Polizeiaktion oder ist das Krieg?
Bereits beim Kirchentag in München sprach der Präsidenten von Pax Christi, der Bischof
von Fulda Heinz Josef Algermissen, mit Radio Vatikan über Afghanistan: „Die
Politiker haben lange gebraucht, um das nun endlich zu bekennen: Natürlich sind wir
in einem Krieg. Man kann das beschreiben oder umschreiben mit irgendwelchen Konstruktionen,
auch verdrängen wie man will, es ist faktisch ein Kriegseinsatz. Und es ist gut, dass
wir uns dessen klar werden und dass wir einen Diskurs genau über diese Frage, wie
weit wir diesen Krieg dort verantworten können, in dieser Gesellschaft führen.“ Die
Frage nach der Verantwortung ist auch die Frage, ob Militärmacht ein Mittel der Politik,
also der Umsetzung von Eigeninteressen, wirtschaftlicher oder auch anderer, sein kann: „Die
Hemmnisschranke wird heruntergesetzt, je mehr wir in solche Einsätze kriegerischer
Art einbezogen werden. Es ist die Frage, ob nicht wieder kriegerische Einsätze Mittel
der Politik werden. Wir waren vor Jahren der Meinung, das sei irreparabel vorbei,
aber leider kommt diese Seuche wieder zurück.“ (rv 1.6.2010 ord)