Papstpredigt in Fatima bei der Heiligen Messe - im Wortlaut
Liebe Pilger! „Ihre Nachkommen werden bei allen Nationen bekannt sein […] Das sind
die Nachkommen, die der Herr gesegnet hat“ (Jes 61,9). Diese Worte, mit denen
die erste Lesung dieser Eucharistiefeier begonnen hat, finden ihre wunderbare Erfüllung
in dieser gottesdienstlichen Gemeinschaft, die sich so andächtig zu Füßen der Gottesmutter
versammelt hat. Liebe Schwestern und Brüder, auch ich bin als Pilger nach Fatima gekommen,
zu diesem „Haus“, das Maria erwählt hat, um in unserem modernen Zeitalter zu uns zu
sprechen. Ich bin nach Fatima gekommen, um mich an der Gegenwart Marias und ihrem
mütterlichen Schutz zu erfreuen. Ich bin nach Fatima gekommen, weil die pilgernde
Kirche, die ihr Sohn als Werkzeug der Evangelisierung und Sakrament des Heils stiften
wollte, am heutigen Tag an diesem Ort zusammenströmt. Ich bin nach Fatima gekommen,
um mit Maria und so vielen Pilgern für unsere Menschheit zu beten, die von Leid und
Not geplagt wird. Und schließlich bin ich mit den gleichen Gefühlen nach Fatima gekommen,
von denen auch die seligen Francisco, Jacinta und die Dienerin Gottes Lucia erfüllt
waren, um der Gottesmutter vertrauensvoll zu bekennen, daß ich Jesus „liebe“, daß
die Kirche und die Priester Jesus „lieben“ und ihren Blick fest auf ihn richten wollen.
Zudem möchte ich zum Abschluß des Priesterjahres die Priester, die Männer und Frauen
des geweihten Lebens, die Missionare und alle Menschen, die Gutes tun und so das Haus
Gottes zu einem gastfreundlichen und angenehmen Ort werden lassen, dem mütterlichen
Schutz Marias anempfehlen.
„Das sind die Nachkommen, die der Herr gesegnet
hat…“ Eine vom Herrn gesegnete Nachkommenschaft bist du, geliebte Diözese Leira-Fatima,
mit deinem Hirten Bischof Antonio Marto, dem ich für das Wort des Grußes danke, das
er zu Beginn dieses Gottesdienstes an mich gerichtet hat, und für die Fürsorge, die
er mir in diesem Heiligtum auch durch seine Mitarbeiter entgegenbringt. Ich grüße
den Herrn Staatspräsidenten und alle weiteren Vertreter des öffentlichen Lebens, die
im Dienst dieser ruhmreichen Nation stehen. Im Geiste schließe ich alle Diözesen Portugals,
die hier durch ihre Bischöfe vertreten sind, in die Arme und vertraue alle Völker
und Nationen der Erde dem Schutz des Himmels an. In Gott trage ich alle ihre Söhne
und Töchter in meinem Herzen, vor allem jene, die Situationen der Not und Verlassenheit
durchleben, und möchte ihnen jene große Hoffnung vermitteln, von der mein Herz erfüllt
ist und die hier an diesem Ort gleichsam greifbar zu spüren ist. Diese unsere große
Hoffnung möge Wurzeln fassen im Leben eines jeden von euch, liebe hier versammelte
Pilger, sowie all jener, die durch die sozialen Kommunikationsmittel mit uns verbunden
sind.
Ja, der Herr ist unsere große Hoffnung, er ist bei uns. In seiner barmherzigen
Liebe gibt er seinem Volk eine Zukunft: eine Zukunft in Gemeinschaft mit ihm. Das
Volk Gottes, das die Erfahrung der Barmherzigkeit und des Trostes Gottes gemacht hat,
der es bei seiner beschwerlichen Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft nicht
alleingelassen hat, ruft aus: „Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine
Seele soll jubeln über meinen Gott“ (Jes 61,10). Die erhabenste Tochter dieses
Volkes ist die Jungfrau und Gottesmutter von Nazaret, die Begnadete, die über das
Wirken Gottes in ihrem jungfräulichen Schoß erstaunt war. Und auch sie bringt eben
diese Freude und Hoffnung im Gesang des Magnifikat zum Ausdruck: „Mein Geist jubelt
über Gott meinen Retter“. Dabei sieht sie sich aber nicht als Privilegierte inmitten
eines unfruchtbaren Volkes, sondern sie sagt ihnen vielmehr die süßen Freuden einer
wunderbaren Gottesmutterschaft voraus, denn „er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten“ (Lk 1,47.50).
Beredtes Zeichen hierfür
ist dieser heilige Ort. In sieben Jahren werdet ihr euch erneut hier einfinden zur
Feier des hundertsten Jahrestages der ersten Erscheinung jener Frau, die „vom Himmel
gekommen ist“ und als Lehrerin die Seherkinder in die innerste Erkenntnis der dreifaltigen
Liebe einführt und sie dazu anleitet, sich an Gott als dem schönsten Gut ihres Lebens
zu erfreuen. Durch diese gnadenvolle Erfahrung haben sie zur Liebe Gottes in Jesus
gefunden, so daß Jacinta ausrufen konnte: „Es bereitet mir so große Freude, Jesus
zu sagen, daß ich ihn liebe! Wenn ich es ihm mehrmals sage, dann habe ich den Eindruck,
ich hätte ein Feuer in der Brust, das mich aber nicht verbrennt“. Und Francisco sagte:
„Am meisten hat es mir gefallen, unseren Herrn in jenem Licht zu sehen, das unsere
Mutter uns ins Herz gelegt hat. Ich habe Gott so lieb! (Memorias da Irmã Lúcia
[Erinnerungen von Schwester Lucia], I, 40 und 127).
Brüder und
Schwestern, wenn wir diese unschuldigen und tiefsinnigen mystischen Bekenntnisse der
Hirtenkinder hören, könnte manch einer angesichts dessen, was sie gesehen haben, mit
ein wenig Neid auf sie blicken oder mit der enttäuschten Resignation jener, denen
dieses Glück nicht zuteil geworden ist, die aber trotzdem gerne sehen würden. Jenen
Menschen sagt der Papst mit den Worten Jesu: „Ihr irrt euch, denn ihr kennt weder
die Schrift noch die Macht Gottes“ (Mk 12,24). Die Heilige Schrift lädt uns
zum Glauben ein: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29),
doch Gott – der tiefer ist als unser eigenes Innerstes (vgl. hl. Augustinus, Bekenntnisse,
III, 6,11) – hat die Macht, – vor allem durch die inneren Sinne – zu uns vorzudringen,
so daß die Seele sanft berührt wird von einer Realität, die über das sinnlich Wahrnehmbare
hinausgeht und sie befähigt, zum Nichtsinnlichen zu gelangen, zu dem, was den menschlichen
Sinnen nicht zugänglich ist. Hierzu bedarf es einer inneren Wachheit des Herzens,
die unter dem Druck der gewaltigen äußeren Wirklichkeiten und der die Seele erfüllenden
Bilder und Gedanken meistens nicht gegeben ist (Theologischer Kommentar zur Botschaft
von Fatima, 2000). Ja, Gott kann uns erreichen, indem er sich unserer inneren
Schau darbietet.
Zudem ist jenes aus der Zukunft Gottes kommende Licht, von
dem die Hirtenkinder erfüllt waren, dasselbe Licht, das sich gezeigt hat, als die
Zeit erfüllt war, und das für alle gekommen ist: der menschgewordene Sohn Gottes.
Daß er die Macht hat, auch die kältesten und traurigsten Herzen zu entflammen, sehen
wir an den Emmausjüngern (vgl. Lk 24,32). Unsere Hoffnung hat daher eine reale
Grundlage, denn sie beruht auf einem Ereignis, das in der Geschichte geschehen ist
und sie zugleich übersteigt, nämlich Jesus von Nazaret. Die Begeisterung, die seine
Weisheit und sein Heilswirken bei den Menschen seiner Zeit hervorrief, war so groß,
daß – wie wir im Evangelium gehört haben – eine Frau aus der Menge rief: „Selig die
Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat.“ Jesus aber erwiderte:
„Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen“ (Lk 11,27.28).
Doch wer nimmt sich die Zeit, sein Wort zu hören und sich von seiner Liebe ergreifen
zu lassen? Wer wacht mit betendem Herzen in der Nacht des Zweifels und der Ungewißheit?
Wer erwartet das Morgengrauen des neuen Tages, ohne dabei die Flamme des Glaubens
verlöschen zu lassen? Der Glaube an Gott läßt den Menschen offen werden für eine sichere
Hoffnung, die nicht enttäuscht; er gibt ihm ein festes Fundament, auf dem er sein
Leben furchtlos aufbauen kann; er verlangt von ihm, daß er sich vertrauensvoll der
göttlichen Liebe überantwortet, von der die Welt getragen wird.
„Ihre Nachkommen
werden bei allen Nationen bekannt sein […] Das sind die Nachkommen, die der Herr gesegnet
hat“ (Jes 61,9): Er hat sie gesegnet mit einer unerschütterlichen Hoffnung,
aus der die Frucht einer Liebe hervorgeht, die sich für die anderen aufopfert, statt
sie zu opfern; vielmehr gilt, was wir in der zweiten Lesung gehört haben: „Sie erträgt
alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand (1 Kor 13,7). Ein anspornendes
Beispiel hierfür sind die Hirtenkinder, die ihr Leben für Gott hingegeben und es aus
Liebe zu Gott mit ihren Nächsten geteilt haben. Die Gottesmutter hat ihnen geholfen,
ihre Herzen der Universalität der Liebe zu öffnen. Vor allem die selige Jacinta war
unermüdlich in ihrer Sorge um die Armen und in ihrem aufopferungsvollen Wirken für
die Bekehrung der Sünder. Nur mit dieser von Brüderlichkeit und Anteilnahme beseelten
Liebe wird es uns gelingen, die Zivilisation der Liebe und des Friedens aufzubauen.
Wer
glaubt, daß die prophetische Mission Fatimas beendet sei, der irrt sich. Hier an diesem
Ort wird jener Plan Gottes wieder lebendig, der die Menschheit seit frühesten Zeiten
mit der Frage konfrontiert: „Wo ist dein Bruder Abel? […] Das Blut deines Bruders
schreit zu mir vom Ackerboden“ (Gen 4,9). Dem Menschen ist es gelungen, einen
Kreislauf des Todes und des Schreckens zu entfesseln, den er nicht mehr zu durchbrechen
vermag… In der Heiligen Schrift ist häufig davon die Rede, daß Gott nach Gerechten
sucht, um die Stadt der Menschen zu retten, und ebendies tut er hier, in Fatima, wenn
die Muttergottes die Frage stellt: „Wollt ihr euch Gott hingeben, um alle Leiden ertragen
zu können, die er euch aufzubürden gedenkt, als Sühne für die Sünden, durch die er
geschmäht wird, und als flehentliche Bitte um die Bekehrung der Sünder?“ (Memorias
da Irmã Lúcia [Erinnerungen von Schwester Lucia], I, 162).
In Anbetracht
einer Menschheitsfamilie, die bereit ist, ihre heiligsten Pflichten auf dem Altar
kleinlicher Egoismen im Namen der Nation, Rasse, Ideologie, Gruppe oder des Individuums
zu opfern, ist unsere gebenedeite Mutter vom Himmel herabgekommen, um all jenen, die
sich ihr anvertrauen, voller Hingabe die göttliche Liebe ins Herz zu legen, die auch
in ihrem Herzen brennt. Zu jener Zeit waren es nur drei Personen, deren Lebensbeispiel
sich – insbesondere durch die Weitergabe der Wandermuttergottes – in zahllosen Gruppen
auf der ganzen Erde verbreitet und vermehrt hat, die sich dem Anliegen brüderlicher
Solidarität widmen. Möge in den sieben Jahren, die uns noch vom hundertsten Jahrestag
der Erscheinungen trennen, der angekündigte Triumph des Unbefleckten Herzens Mariens
zu Ehren der Allerheiligsten Dreifaltigkeit näherkommen.