Papst: Grabtuch ist das Bild des verborgenen Gottes
Wir dokumentieren in einer Arbeitsübersetzung die Meditation des Papstes zum Grabtuch
von Turin, gehalten anlässlich seines Besuches. Liebe Freunde, dies ist für
mich ein Moment, auf den ich gewartet habe. Zu einer anderen Gelegenheit habe ich
mich schon vor dem heiligen Grabtuch befunden, aber dieses Mal erlebe ich diese Pilgerreise
und diesen Aufenthalt mit besonderer Intensität: Vielleicht, weil der Verlauf der
Jahre mich noch sensibler gemacht hat für die Botschaft dieses außergewöhnlichen Bildes;
vielleicht, und ich würde sogar sagen, vor allem, weil ich hier bin als Nachfolger
Petri und in meinem Herzen die ganze Kirche trage, und viel mehr noch, die ganze Menschheit.
Ich danke Gott für das Geschenk dieser Pilgerreise, und auch für die Gelegenheit,
mit euch eine kurze Meditation zu teilen, die mir vom Untertitel dieser feierlichen
Ausstellung vorgeschlagen wird: „Das Mysterium des Karsamstags“. Man kann sagen,
dass das Grabtuch das Bild dieses Geheimnisses sei, das Bild des Karsamstags. Tatsächlich
ist es ein Beerdigungstuch, das den Leichnam eines gekreuzigten Mannes zeigt und das
in allem mit dem übereinstimmt, was die Evangelien von Jesus sagen, der gegen Mittag
gekreuzigt wurde und gegen drei Uhr nachmittags gestorben ist. Und weil es der Rüsttag,
die Vigil für das Passchafest war, hat Josef von Arimathea, ein reiches und angesehenes
Mitglied des Sanhedrin, Pontius Pilatus mutig darum gebeten, Jesus in einem neuen
Grab beerdigen zu dürfen, das nicht weit entfernt von Golgotha in den Stein gehauen
war. Er bekam die Erlaubnis, erwarb ein Tuch. Und nachdem er den Leichnam Jesu vom
Kreuz abgenommen hatte, wickelte er ihn in das Tuch und legte ihn in das Grab (Mk
15:42-46). Das berichtet das Markusevangelium und mit ihm stimmen die anderen Evangelisten
überein. Ab diesem Moment blieb Jesus im Grab bis zum Morgengrauen des Tages nach
dem Sabbat, und das Grabtuch von Turin bietet ein Bild, das zeigt, wie sein Körper
während dieser Zeit war, die nur etwa eineinhalb Tage lang andauerte, aber dafür reich,
unendlich in seinem Wert und seiner Bedeutung war. Der Karsamstag ist der Tag
des verborgenen Gottes, wie man in einer antiken Predigt lesen kann: „Was ist geschehen?
Heute ist auf der Erde eine große Stille und eine große Einsamkeit. Eine große Stille,
weil der König schläft. ... Gott ist dem Fleische nach tot und verborgen, um sein
Reich den Höllen zu entreißen.“ Im Glaubensbekenntnis bekennen wir, dass Christus
unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, starb und begraben wurde, hinab stieg in das
Reich des Todes, und am dritten Tag auferstand von den Toten. Liebe Brüder, in
unserer Zeit, besonders, nachdem wir durch das letzte Jahrhundert gegangen sind, ist
die Menschheit besonders sensibel geworden für das Geheimnis des Karsamstags. Der
verborgene Gott ist Teil der Spiritualität des gegenwärtigen Menschen, in einer existenziellen
Weise, quasi unbewusst, wie eine Leere im Herzen, die immer größer wird. Am Ende des
19. Jahrhunderts schrieb Nietzsche: „Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet!“ Dieser
berühmte Ausspruch ist bei genauem Hinsehen fast wörtlich der christlichen Überlieferung
entnommen, mehrfach wiederholen wir es beim Kreuzweg, vielleicht ohne uns voll darüber
bewusst zu werden, was wir da sagen. Nach den zwei Weltkriegen, nach den Konzentrationslagern
und dem Gulag, nach Hiroshima und Nagasaki, ist unsere Zeit, ist unsere Epoche immer
mehr zu einem Karsamstag geworden: Die Dunkelheit dieses Tages fordert die heraus,
die nach dem Leben fragen, und besonders fordert sie uns Gläubige heraus. Auch wir
müssen uns dieser Dunkelheit stellen. Und trotzdem hat der Tod des Sohnes Gottes,
Jesus von Nazaret, auch noch einen anderen Aspekt, ganz positiv, als Quelle des Trostes
und der Hoffnung. Und das lässt mich darüber nachdenken, dass das heilige Grabtuch
wie ein „fotografisches“ Dokument ist, ausgestattet mit einem „Positiv“ und einem
„Negativ“. Es ist wirklich so: Das dunkelste Geheimnis des Glaubens ist zur gleichen
Zeit das hellste Zeichen einer Hoffnung, die keine Grenzen hat. Der Karsamstag ist
das „Niemandsland“ zwischen Tod und Auferstehung, aber dieses „Niemandsland“ hat einer
betreten - der Einzige, der es durchquert hat - mit den Zeichen seines Leidens für
den Menschen: „Passio Christi. Passio hominis“. Und das Grabtuch spricht zu uns genau
über diesen Augenblick, es bezeugt genau, dass dieses einzigartige Intervall unwiederholbar
in der Geschichte des Menschen und des Universums ist, in dem Gott in Jesus Christus
nicht nur unseren Tod geteilt hat, sondern auch unser Bleiben im Tod. Die radikalste
Solidarität. In jener „Zeit jenseits aller Zeit“ ist Jesus Christus zu den Toten
hinab gestiegen. Was bedeutet dieser Ausdruck? Er will sagen, dass Gott, Mensch geworden,
bis zu dem Punkt gegangen ist, in die fernste und absolute Einsamkeit des Menschen
einzutreten, wohin kein Strahl der Liebe fällt, wo die völlige Verlassenheit regiert,
ohne auch nur ein Wort des Trostes: „das Reich des Todes“. Jesus Christus, im Tod
bleibend, hat das Tor dieser letzten Einsamkeit durchschritten, um auch uns dazu zu
führen, es zu durchschreiten. Wir haben alle schon einmal ein furchtbares Gefühl der
Verlassenheit gehabt. Und was macht uns mehr Angst vor dem Tod als das, wie wir als
Kind Angst haben allein zu sein in der Dunkelheit und wie uns nur die Anwesenheit
eines Menschen, der uns liebt, beruhigen kann. Genau das hat sich am Karsamstag ereignet:
Im Reich des Todes ist die Stimme Gottes erklungen. Das Undenkbare ist geschehen:
Die Liebe ist eingedrungen in das Reich des Todes: Auch in der extremsten Dunkelheit
der menschlichen völligsten Einsamkeit können wir eine Stimme hören, die uns ruft,
eine Hand zu suchen, die uns ergreift und uns nach draußen führt. Der Mensch lebt
durch die Tatsache, dass er liebt und lieben kann; und wenn die Liebe auch in den
Raum des Todes eindringt, so dringt auch das Leben ein. In der Stunde der extremsten
Einsamkeit sind wir nicht mehr allein: „Passio Christi. Passio hominis.“ Dies ist
das Geheimnis des Karsamstags! Genau von dort, in der Dunkelheit des Todes des Sohnes
Gottes, kommt das Licht einer neuen Hoffnung: Das Licht der Auferstehung. Und mir
scheint, dass wir bei der Betrachtung dieses heiligen Leinens mit den Augen des Glaubens
etwas von diesem Licht erheischen. Wirklich, das Grabtuch war eingetaucht in jene
tiefe Dunkelheit, aber zur gleichen Zeit leuchtet es; und ich denke, das Tausende
und Tausende von Menschen kommen, um es zu verehren – ohne die zu zählen, die vor
den Abbildungen meditieren – nicht weil sie in ihm nur die Dunkelheit sehen, sondern
auch das Licht; nicht nur die Niederlage des Lebens und der Liebe, sondern vielmehr
den Sieg, den Sieg des Lebens über den Tod, der Liebe über den Hass. Sie sehen ja
den Tod Jesu, aber dadurch sehen sie seine Auferstehung. Stunden nach dem Tod pulsiert
das Leben, dem die Liebe einwohnt. Dies ist die Kraft des Grabtuches: Von dem Antlitz
dieses Schmerzensmannes, der das Leiden der Menschen aller Zeiten und aller Orte auf
sich genommen hat, auch unser Leiden, unseren Schmerz, unsere Schwierigkeiten, unsere
Sünden – „Passio Christi, Passio hominis“ – strahlt eine ernste Majestät aus, eine
widersprüchliche Herrlichkeit. Dieses Antlitz, diese Hände und diese Füße, dieser
ganze Leib spricht; und dieses Wort können wir in der Stille hören. Wie spricht das
Grabtuch? Es spricht durch das Blut, und das Blut ist das Leben! Das Grabtuch ist
eine Ikone mit Blut gemalt; Blut eines ausgepeitschten Mannes, mit Dornen gekrönt,
gekreuzigt und in seiner rechten Seite durchbohrt. Das Bild, das sich in das Grabtuch
eingeprägt hat, ist das eines Toten, aber das Blut spricht von seinem Leben. Jede
Spur von Blut spricht von Liebe und Leben. Besonders der übergroße Fleck nahe der
Seite, entstanden durch das Blut und das Wasser, das aus einer großen Wunde floss,
entstanden durch einen Stoß durch eine römische Lanze, besonders dieses Blut und dieses
Wasser sprechen vom Leben. Es ist wie ein Quell, der in der Stille flüstert, und wir
können es hören, können ihm zuhören, in der Stille des Karsamstags. Liebe Freunde,
loben wir jederzeit den Herrn für seine treue erbarmende Liebe. Von diesem Ort weggehend
tragen wir in unseren Augen das Bild des Grabtuches, und tragen wir im Herzen dieses
Wort der Liebe, und loben wir Gott mit einem Leben voll des Glaubens, der Hoffnung
und der Liebe. Danke.