2010-05-02 18:05:37

Papst: Grabtuch ist das Bild des verborgenen Gottes


Wir dokumentieren in einer Arbeitsübersetzung die Meditation des Papstes zum Grabtuch von Turin, gehalten anlässlich seines Besuches.
Liebe Freunde,
dies ist für mich ein Moment, auf den ich gewartet habe. Zu einer anderen Gelegenheit habe ich mich schon vor dem heiligen Grabtuch befunden, aber dieses Mal erlebe ich diese Pilgerreise und diesen Aufenthalt mit besonderer Intensität: Vielleicht, weil der Verlauf der Jahre mich noch sensibler gemacht hat für die Botschaft dieses außergewöhnlichen Bildes; vielleicht, und ich würde sogar sagen, vor allem, weil ich hier bin als Nachfolger Petri und in meinem Herzen die ganze Kirche trage, und viel mehr noch, die ganze Menschheit. Ich danke Gott für das Geschenk dieser Pilgerreise, und auch für die Gelegenheit, mit euch eine kurze Meditation zu teilen, die mir vom Untertitel dieser feierlichen Ausstellung vorgeschlagen wird: „Das Mysterium des Karsamstags“.
Man kann sagen, dass das Grabtuch das Bild dieses Geheimnisses sei, das Bild des Karsamstags. Tatsächlich ist es ein Beerdigungstuch, das den Leichnam eines gekreuzigten Mannes zeigt und das in allem mit dem übereinstimmt, was die Evangelien von Jesus sagen, der gegen Mittag gekreuzigt wurde und gegen drei Uhr nachmittags gestorben ist. Und weil es der Rüsttag, die Vigil für das Passchafest war, hat Josef von Arimathea, ein reiches und angesehenes Mitglied des Sanhedrin, Pontius Pilatus mutig darum gebeten, Jesus in einem neuen Grab beerdigen zu dürfen, das nicht weit entfernt von Golgotha in den Stein gehauen war. Er bekam die Erlaubnis, erwarb ein Tuch. Und nachdem er den Leichnam Jesu vom Kreuz abgenommen hatte, wickelte er ihn in das Tuch und legte ihn in das Grab (Mk 15:42-46). Das berichtet das Markusevangelium und mit ihm stimmen die anderen Evangelisten überein. Ab diesem Moment blieb Jesus im Grab bis zum Morgengrauen des Tages nach dem Sabbat, und das Grabtuch von Turin bietet ein Bild, das zeigt, wie sein Körper während dieser Zeit war, die nur etwa eineinhalb Tage lang andauerte, aber dafür reich, unendlich in seinem Wert und seiner Bedeutung war.
Der Karsamstag ist der Tag des verborgenen Gottes, wie man in einer antiken Predigt lesen kann: „Was ist geschehen? Heute ist auf der Erde eine große Stille und eine große Einsamkeit. Eine große Stille, weil der König schläft. ... Gott ist dem Fleische nach tot und verborgen, um sein Reich den Höllen zu entreißen.“ Im Glaubensbekenntnis bekennen wir, dass Christus unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, starb und begraben wurde, hinab stieg in das Reich des Todes, und am dritten Tag auferstand von den Toten.
Liebe Brüder, in unserer Zeit, besonders, nachdem wir durch das letzte Jahrhundert gegangen sind, ist die Menschheit besonders sensibel geworden für das Geheimnis des Karsamstags. Der verborgene Gott ist Teil der Spiritualität des gegenwärtigen Menschen, in einer existenziellen Weise, quasi unbewusst, wie eine Leere im Herzen, die immer größer wird. Am Ende des 19. Jahrhunderts schrieb Nietzsche: „Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet!“ Dieser berühmte Ausspruch ist bei genauem Hinsehen fast wörtlich der christlichen Überlieferung entnommen, mehrfach wiederholen wir es beim Kreuzweg, vielleicht ohne uns voll darüber bewusst zu werden, was wir da sagen. Nach den zwei Weltkriegen, nach den Konzentrationslagern und dem Gulag, nach Hiroshima und Nagasaki, ist unsere Zeit, ist unsere Epoche immer mehr zu einem Karsamstag geworden: Die Dunkelheit dieses Tages fordert die heraus, die nach dem Leben fragen, und besonders fordert sie uns Gläubige heraus. Auch wir müssen uns dieser Dunkelheit stellen.
Und trotzdem hat der Tod des Sohnes Gottes, Jesus von Nazaret, auch noch einen anderen Aspekt, ganz positiv, als Quelle des Trostes und der Hoffnung. Und das lässt mich darüber nachdenken, dass das heilige Grabtuch wie ein „fotografisches“ Dokument ist, ausgestattet mit einem „Positiv“ und einem „Negativ“. Es ist wirklich so: Das dunkelste Geheimnis des Glaubens ist zur gleichen Zeit das hellste Zeichen einer Hoffnung, die keine Grenzen hat. Der Karsamstag ist das „Niemandsland“ zwischen Tod und Auferstehung, aber dieses „Niemandsland“ hat einer betreten - der Einzige, der es durchquert hat - mit den Zeichen seines Leidens für den Menschen: „Passio Christi. Passio hominis“. Und das Grabtuch spricht zu uns genau über diesen Augenblick, es bezeugt genau, dass dieses einzigartige Intervall unwiederholbar in der Geschichte des Menschen und des Universums ist, in dem Gott in Jesus Christus nicht nur unseren Tod geteilt hat, sondern auch unser Bleiben im Tod. Die radikalste Solidarität.
In jener „Zeit jenseits aller Zeit“ ist Jesus Christus zu den Toten hinab gestiegen. Was bedeutet dieser Ausdruck? Er will sagen, dass Gott, Mensch geworden, bis zu dem Punkt gegangen ist, in die fernste und absolute Einsamkeit des Menschen einzutreten, wohin kein Strahl der Liebe fällt, wo die völlige Verlassenheit regiert, ohne auch nur ein Wort des Trostes: „das Reich des Todes“. Jesus Christus, im Tod bleibend, hat das Tor dieser letzten Einsamkeit durchschritten, um auch uns dazu zu führen, es zu durchschreiten. Wir haben alle schon einmal ein furchtbares Gefühl der Verlassenheit gehabt. Und was macht uns mehr Angst vor dem Tod als das, wie wir als Kind Angst haben allein zu sein in der Dunkelheit und wie uns nur die Anwesenheit eines Menschen, der uns liebt, beruhigen kann. Genau das hat sich am Karsamstag ereignet: Im Reich des Todes ist die Stimme Gottes erklungen. Das Undenkbare ist geschehen: Die Liebe ist eingedrungen in das Reich des Todes: Auch in der extremsten Dunkelheit der menschlichen völligsten Einsamkeit können wir eine Stimme hören, die uns ruft, eine Hand zu suchen, die uns ergreift und uns nach draußen führt. Der Mensch lebt durch die Tatsache, dass er liebt und lieben kann; und wenn die Liebe auch in den Raum des Todes eindringt, so dringt auch das Leben ein. In der Stunde der extremsten Einsamkeit sind wir nicht mehr allein: „Passio Christi. Passio hominis.“
Dies ist das Geheimnis des Karsamstags! Genau von dort, in der Dunkelheit des Todes des Sohnes Gottes, kommt das Licht einer neuen Hoffnung: Das Licht der Auferstehung. Und mir scheint, dass wir bei der Betrachtung dieses heiligen Leinens mit den Augen des Glaubens etwas von diesem Licht erheischen. Wirklich, das Grabtuch war eingetaucht in jene tiefe Dunkelheit, aber zur gleichen Zeit leuchtet es; und ich denke, das Tausende und Tausende von Menschen kommen, um es zu verehren – ohne die zu zählen, die vor den Abbildungen meditieren – nicht weil sie in ihm nur die Dunkelheit sehen, sondern auch das Licht; nicht nur die Niederlage des Lebens und der Liebe, sondern vielmehr den Sieg, den Sieg des Lebens über den Tod, der Liebe über den Hass. Sie sehen ja den Tod Jesu, aber dadurch sehen sie seine Auferstehung. Stunden nach dem Tod pulsiert das Leben, dem die Liebe einwohnt. Dies ist die Kraft des Grabtuches: Von dem Antlitz dieses Schmerzensmannes, der das Leiden der Menschen aller Zeiten und aller Orte auf sich genommen hat, auch unser Leiden, unseren Schmerz, unsere Schwierigkeiten, unsere Sünden – „Passio Christi, Passio hominis“ – strahlt eine ernste Majestät aus, eine widersprüchliche Herrlichkeit. Dieses Antlitz, diese Hände und diese Füße, dieser ganze Leib spricht; und dieses Wort können wir in der Stille hören. Wie spricht das Grabtuch? Es spricht durch das Blut, und das Blut ist das Leben! Das Grabtuch ist eine Ikone mit Blut gemalt; Blut eines ausgepeitschten Mannes, mit Dornen gekrönt, gekreuzigt und in seiner rechten Seite durchbohrt. Das Bild, das sich in das Grabtuch eingeprägt hat, ist das eines Toten, aber das Blut spricht von seinem Leben. Jede Spur von Blut spricht von Liebe und Leben. Besonders der übergroße Fleck nahe der Seite, entstanden durch das Blut und das Wasser, das aus einer großen Wunde floss, entstanden durch einen Stoß durch eine römische Lanze, besonders dieses Blut und dieses Wasser sprechen vom Leben. Es ist wie ein Quell, der in der Stille flüstert, und wir können es hören, können ihm zuhören, in der Stille des Karsamstags. Liebe Freunde, loben wir jederzeit den Herrn für seine treue erbarmende Liebe. Von diesem Ort weggehend tragen wir in unseren Augen das Bild des Grabtuches, und tragen wir im Herzen dieses Wort der Liebe, und loben wir Gott mit einem Leben voll des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Danke.

(rv 2.5.2010 ord)








All the contents on this site are copyrighted ©.