Im Monat April stellt
die katholische Theologin Veronika Prüller-Jagenteufel, Chefredakteurin der Zeitschrift
„Diakonia“ die Betrachtung zum Sonntagsevangelium bei Radio Vatikan vor. (rv)
Hier
lesen und hören Sie den gesamten Beitrag von Prüller-Jagenteufel Joh 20,19-31
Aus
Angst hatten sich die Jünger eingeschlossen, heißt es. Wer Angst hat, verschließt
Fenster und Türen – und ist dennoch mit der ganzen Aufmerksamkeit draußen vor dieser
Tür, vor den Fenstern, horchend, ob da jemand kommt, ob jemand das Versteck entdeckt.
In Gestalt der Angst ist die äußere Gefahr schon mit im Raum. Sich zurückziehen, kann
zwar auch bedeuten, zur Ruhe zu kommen, sich zu konzentrieren. Wenn aber Angst im
Spiel ist, geht das nicht. Denn die Angst drängt sich ins Zentrum und überlagert alles
andere.
Die Kirche steht heute weltweit vor großen Herausforderungen und Zerreißproben.
In Deutschland und Österreich hat sich die Situation durch die vielen Fälle von Gewalt
und Missbrauch durch Priester derzeit enorm verschärft. Die Versuchung ist groß, Türen
und Fenster zu verrammeln und sich in die eigenen Kreise zurückzuziehen. Wo wir das
als Kirche aus Angst tun – aus Angst vor neuen Anschuldigungen, aus Angst vor der
Bedeutungslosigkeit in der pluralen Gesellschaft, aus Angst vor der Freiheitskultur
der Moderne – dort bleiben wir in der Angst stecken und kreisen um sie als unser unheiliges
Zentrum.
Der Evangelist betont, dass Jesus in die Mitte seiner Jünger tritt.
Der Auferstandene vertreibt die Angst aus dem Zentrum. Nicht aus Angst sind die Jünger
fortan versammelt, sondern um ihn, um Jesus, den Messias, den Gekreuzigten und Auferstandenen.
Inmitten der Ängstlichkeit finden wir uns in der Kirche heute neu verwiesen in eine
Besinnung auf Christus als unser Zentrum und auf ein neues Hinhören auf seinen Auftrag
an uns. Denn nur aus dieser Mitte heraus wird Erneuerung unter den radikal veränderten
Bedingungen der modernen Weltgesellschaft heute für die Kirche möglich sein.
Der
Auferstandene wünscht den Seinen den Frieden. Friede, Shalom ist das genaue Gegenteil
von Angst. Friede ist da, wo ich gefahrlos sein kann; wo ich sein darf, wie ich bin;
wo ich angenommen bin und nicht auf Verteidigung aus sein muss; wo ich frei da sein
kann. Christus gibt den Seinen diesen Freiraum.
Und in dieser Freiheit werden
die Jünger nun von Jesus gesendet. Sie werden hineingenommen in die Sendung Jesu selbst
– wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Gesendet werden jene, die mitten
in ihrer Angst den Auferstandenen erkannt haben. Wer von der ängstlichen Orientierung
nach außen lassen konnte und in der Umkehr zur Mitte Jesus begegnet, erfährt sich
wieder ausgesandt nach draußen: neu zugehend auf die anderen, nicht mit Furcht, sondern
mit Gottes starkem Beziehungsangebot. Ob diese Beziehung zustande kommt, dafür wird
den Gesandten ein hohes Maß an Verantwortung aufgetragen. Diesem gerecht zu werden,
braucht wohl eine gute eigene Verbindung zum Herrn in ihrer Mitte.
Diesen Herrn
erkennen die Jünger daran, dass er ihnen seine Wunden zeigt. Er ist wirklich der,
der am Kreuz hing, er ist wirklich der Jesus, den sie gekannt haben, mit dem sie durchs
Land gezogen sind, dessen schrecklichen Tod sie mitansehen mussten. Er ist es, er
selbst; an den Wunden ist er erkennbar.
Thomas erlebt das nicht unmittelbar.
Die Erzählungen seiner Kollegen genügen ihm nicht. Er muss Jesus mit eigenen Augen
sehen, möchte mit eigenen Händen begreifen: Erst, wenn er die Wunden des Gekreuzigten
direkt berühren kann, will er an den Auferstandenen glauben.
In diesem Erkennen
an den Wunden steckt eine tiefe Weisheit. Wir erkennen einander wohl am tiefsten,
wenn wir einander unsere Wunden zeigen. Erst wenn ich meine Narben und Verletzungen
nicht mehr zudecken oder wegschminken muss, weiß ich, dass die Zuwendung wirklich
mir gilt und nicht nur meiner Herzeigeseite. Erst wenn ich auch um die Brüche und
Leiden im Leben der und des anderen weiß, weiß ich in der Tiefe um sie, um ihn. Und
diese Art von Erkennen geht nicht vermittelt, dafür genügt es nicht, von Dritten davon
erzählt zu bekommen. Die Offenbarung der Wunden, die uns füreinander in der Tiefe
erkennbar machen, geht nur direkt, von Mensch zu Mensch, in der direkten Begegnung.
Als
Christus wieder zu seinen Jüngern kommt, wendet er sich deshalb direkt an Thomas:
Sieh hierher, greif hierhin, sagt er; lädt Thomas ein in die unmittelbare Begegnung;
macht sich zugänglich für ihn ganz persönlich. Zeigt ihm seine Wunden. Durch die „Fenster
der Verwundbarkeit“, sagte einmal die Theologin Dorothee Sölle, sehen wir mehr von
einander zu sehen und sieht die Welt insgesamt anders aus.
Die meisten, die
es sich leisten können, vermeiden die Berührung mit den Wunden der anderen, den Wunden
der Welt. Sie schauen einfach weg: beim Obdachlosen, bei den Bildern aus den Ländern
der Armut, bei der Drogensüchtigen, bei denen, die ihr Leiden gar nicht mehr verstecken
können, und erst recht bei denen, die eine behutsame Nachfrage, eine aktive, wohlwollende
Suche nach ihrer wunden Seele bräuchten.
In den letzten Wochen sind in meinem
Land viele Wunden sichtbar geworden, die durch Vertreter der Kirche Menschen geschlagen
wurden. Und es wurden Seiten an der Kirche sichtbar, die sie lange Zeit lieber versteckt
hat. Auch hier ist die Wahrheit der Wunden nötig, auch deshalb, damit Christus, dessen
Bild dadurch verdunkelt wurde, von den Menschen wieder erkannt werden kann. Nur dort,
wo wir bereit sind, die Wunden zu sehen und zu zeigen, kann in ihnen Auferstehung
aufleuchten.
Der Wunsch, seinen Finger in die Wunden legen und an den Wunden
Christi die Auferstehung zu begreifen, führt für Thomas in eine tiefe Begegnung mit
Jesus, dem Lebendigen. Thomas erkennt den Auferstandenen und hört: Glaube nur, dass
ich es bin und dass es wahr ist.
Auch heute ist diese Begegnung möglich: In
den Tränen meiner Nachbarin über ihre zerbrochene Ehe; in den Bauern, die von ihrem
kargen Land nicht leben können; in der Slumhütte am Fluss, der schwarz ist und stinkt;
in den stammelnden Worten, mit denen eine Frau nach Jahren von erlittenem Missbrauch
erzählt, zeigt sich Christus und sagt: Sieh her, da sind meine Wunden, lege Deinen
Finger hierher und sei nicht ungläubig, sondern glaube mit mir an die Kraft der Auferstehung,
die heute schon dort beginnt, wo für Gerechtigkeit gesorgt wird und wir einander barmherzig
begegnen.
Thomas konnte nach seinem Blick auf die Wunden Christi nur stammeln:
„Mein Herr und mein Gott“. Angesichts der Verletzungen, in die ein Mensch Einblick
gewährt, sind oft keine Worte nötig; angesichts der Leiden dieser Welt bin ich oft
sprachlos. In sie mit hineingestellt zu werden, ist für uns als Kirche wohl letztlich
heilsam. Und wir dürfen vertrauen, dass es befreiend ist, in denen, die die Wunden
tragen, unseren Herrn und Gott zu erkennen.
Die letzten Sätze des Evangeliums
benennen dann noch, warum das alles aufgeschrieben wurde: damit ihr glaubt, dass Jesus
der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in
seinem Namen.
Um Glauben und Leben geht es; um das Leben, das durch die Angst
hindurch zu neuem Sinn und Auftrag kommt, das in seiner Mitte die Begegnung mit dem
Auferstandenen bereit hält, wenn wir uns an die Wunden herantrauen. Und um den Glauben,
dass in dem, der noch als Auferstandener die Wunden der Kreuzigung trägt, uns wirklich
Gott selbst begegnet.