2010-04-10 11:09:57

Prüller-Jagenteufel: „Lege Deinen Finger hierher“


RealAudioMP3 Im Monat April stellt die katholische Theologin Veronika Prüller-Jagenteufel, Chefredakteurin der Zeitschrift „Diakonia“ die Betrachtung zum Sonntagsevangelium bei Radio Vatikan vor. (rv)



Hier lesen und hören Sie den gesamten Beitrag von Prüller-Jagenteufel
 Joh 20,19-31

Aus Angst hatten sich die Jünger eingeschlossen, heißt es. Wer Angst hat, verschließt Fenster und Türen – und ist dennoch mit der ganzen Aufmerksamkeit draußen vor dieser Tür, vor den Fenstern, horchend, ob da jemand kommt, ob jemand das Versteck entdeckt. In Gestalt der Angst ist die äußere Gefahr schon mit im Raum. Sich zurückziehen, kann zwar auch bedeuten, zur Ruhe zu kommen, sich zu konzentrieren. Wenn aber Angst im Spiel ist, geht das nicht. Denn die Angst drängt sich ins Zentrum und überlagert alles andere.

Die Kirche steht heute weltweit vor großen Herausforderungen und Zerreißproben. In Deutschland und Österreich hat sich die Situation durch die vielen Fälle von Gewalt und Missbrauch durch Priester derzeit enorm verschärft. Die Versuchung ist groß, Türen und Fenster zu verrammeln und sich in die eigenen Kreise zurückzuziehen. Wo wir das als Kirche aus Angst tun – aus Angst vor neuen Anschuldigungen, aus Angst vor der Bedeutungslosigkeit in der pluralen Gesellschaft, aus Angst vor der Freiheitskultur der Moderne – dort bleiben wir in der Angst stecken und kreisen um sie als unser unheiliges Zentrum.

Der Evangelist betont, dass Jesus in die Mitte seiner Jünger tritt. Der Auferstandene vertreibt die Angst aus dem Zentrum. Nicht aus Angst sind die Jünger fortan versammelt, sondern um ihn, um Jesus, den Messias, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Inmitten der Ängstlichkeit finden wir uns in der Kirche heute neu verwiesen in eine Besinnung auf Christus als unser Zentrum und auf ein neues Hinhören auf seinen Auftrag an uns. Denn nur aus dieser Mitte heraus wird Erneuerung unter den radikal veränderten Bedingungen der modernen Weltgesellschaft heute für die Kirche möglich sein.

Der Auferstandene wünscht den Seinen den Frieden. Friede, Shalom ist das genaue Gegenteil von Angst. Friede ist da, wo ich gefahrlos sein kann; wo ich sein darf, wie ich bin; wo ich angenommen bin und nicht auf Verteidigung aus sein muss; wo ich frei da sein kann. Christus gibt den Seinen diesen Freiraum.

Und in dieser Freiheit werden die Jünger nun von Jesus gesendet. Sie werden hineingenommen in die Sendung Jesu selbst – wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Gesendet werden jene, die mitten in ihrer Angst den Auferstandenen erkannt haben. Wer von der ängstlichen Orientierung nach außen lassen konnte und in der Umkehr zur Mitte Jesus begegnet, erfährt sich wieder ausgesandt nach draußen: neu zugehend auf die anderen, nicht mit Furcht, sondern mit Gottes starkem Beziehungsangebot. Ob diese Beziehung zustande kommt, dafür wird den Gesandten ein hohes Maß an Verantwortung aufgetragen. Diesem gerecht zu werden, braucht wohl eine gute eigene Verbindung zum Herrn in ihrer Mitte.

Diesen Herrn erkennen die Jünger daran, dass er ihnen seine Wunden zeigt. Er ist wirklich der, der am Kreuz hing, er ist wirklich der Jesus, den sie gekannt haben, mit dem sie durchs Land gezogen sind, dessen schrecklichen Tod sie mitansehen mussten. Er ist es, er selbst; an den Wunden ist er erkennbar.

Thomas erlebt das nicht unmittelbar. Die Erzählungen seiner Kollegen genügen ihm nicht. Er muss Jesus mit eigenen Augen sehen, möchte mit eigenen Händen begreifen: Erst, wenn er die Wunden des Gekreuzigten direkt berühren kann, will er an den Auferstandenen glauben.

In diesem Erkennen an den Wunden steckt eine tiefe Weisheit. Wir erkennen einander wohl am tiefsten, wenn wir einander unsere Wunden zeigen. Erst wenn ich meine Narben und Verletzungen nicht mehr zudecken oder wegschminken muss, weiß ich, dass die Zuwendung wirklich mir gilt und nicht nur meiner Herzeigeseite. Erst wenn ich auch um die Brüche und Leiden im Leben der und des anderen weiß, weiß ich in der Tiefe um sie, um ihn. Und diese Art von Erkennen geht nicht vermittelt, dafür genügt es nicht, von Dritten davon erzählt zu bekommen. Die Offenbarung der Wunden, die uns füreinander in der Tiefe erkennbar machen, geht nur direkt, von Mensch zu Mensch, in der direkten Begegnung.

Als Christus wieder zu seinen Jüngern kommt, wendet er sich deshalb direkt an Thomas: Sieh hierher, greif hierhin, sagt er; lädt Thomas ein in die unmittelbare Begegnung; macht sich zugänglich für ihn ganz persönlich. Zeigt ihm seine Wunden. Durch die „Fenster der Verwundbarkeit“, sagte einmal die Theologin Dorothee Sölle, sehen wir mehr von einander zu sehen und sieht die Welt insgesamt anders aus.

Die meisten, die es sich leisten können, vermeiden die Berührung mit den Wunden der anderen, den Wunden der Welt. Sie schauen einfach weg: beim Obdachlosen, bei den Bildern aus den Ländern der Armut, bei der Drogensüchtigen, bei denen, die ihr Leiden gar nicht mehr verstecken können, und erst recht bei denen, die eine behutsame Nachfrage, eine aktive, wohlwollende Suche nach ihrer wunden Seele bräuchten.

In den letzten Wochen sind in meinem Land viele Wunden sichtbar geworden, die durch Vertreter der Kirche Menschen geschlagen wurden. Und es wurden Seiten an der Kirche sichtbar, die sie lange Zeit lieber versteckt hat. Auch hier ist die Wahrheit der Wunden nötig, auch deshalb, damit Christus, dessen Bild dadurch verdunkelt wurde, von den Menschen wieder erkannt werden kann. Nur dort, wo wir bereit sind, die Wunden zu sehen und zu zeigen, kann in ihnen Auferstehung aufleuchten.

Der Wunsch, seinen Finger in die Wunden legen und an den Wunden Christi die Auferstehung zu begreifen, führt für Thomas in eine tiefe Begegnung mit Jesus, dem Lebendigen. Thomas erkennt den Auferstandenen und hört: Glaube nur, dass ich es bin und dass es wahr ist.

Auch heute ist diese Begegnung möglich: In den Tränen meiner Nachbarin über ihre zerbrochene Ehe; in den Bauern, die von ihrem kargen Land nicht leben können; in der Slumhütte am Fluss, der schwarz ist und stinkt; in den stammelnden Worten, mit denen eine Frau nach Jahren von erlittenem Missbrauch erzählt, zeigt sich Christus und sagt: Sieh her, da sind meine Wunden, lege Deinen Finger hierher und sei nicht ungläubig, sondern glaube mit mir an die Kraft der Auferstehung, die heute schon dort beginnt, wo für Gerechtigkeit gesorgt wird und wir einander barmherzig begegnen.

Thomas konnte nach seinem Blick auf die Wunden Christi nur stammeln: „Mein Herr und mein Gott“. Angesichts der Verletzungen, in die ein Mensch Einblick gewährt, sind oft keine Worte nötig; angesichts der Leiden dieser Welt bin ich oft sprachlos. In sie mit hineingestellt zu werden, ist für uns als Kirche wohl letztlich heilsam. Und wir dürfen vertrauen, dass es befreiend ist, in denen, die die Wunden tragen, unseren Herrn und Gott zu erkennen.



Die letzten Sätze des Evangeliums benennen dann noch, warum das alles aufgeschrieben wurde: damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.

Um Glauben und Leben geht es; um das Leben, das durch die Angst hindurch zu neuem Sinn und Auftrag kommt, das in seiner Mitte die Begegnung mit dem Auferstandenen bereit hält, wenn wir uns an die Wunden herantrauen. Und um den Glauben, dass in dem, der noch als Auferstandener die Wunden der Kreuzigung trägt, uns wirklich Gott selbst begegnet.








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