D: „Aghet“ – Ein Dokumentarfilm gegen das Vergessen
„Das Letzte,
was ich von den Kindern sah, war der Sonderzug, der sie entführt. Und damit fiel der
Schleier der Dunkelheit über sie – und über mich.“ Die Schweizer Krankenschwester
Beatrice Rohner sieht die Waisenkinder im Jahr 1917 zum letzten Mal. Die Eltern der
Kleinen, armenische Christen im Osmanischen Reich, sind damals bereits tot. Und mit
ihnen 1,5 Millionen Angehörige dieser christlichen Minderheit in Konstantinopel und
den sechs ostanatolischen Provinzen auf dem Gebiet der heutigen Türkei, die innerhalb
von zwei Jahren fast vollständig ausgerottet wird. Kriegsverbündeter Deutschland schaut
zu und webt mit am Mantel des Schweigens. Bis heute leugnet die türkische Regierung
den Genozid, bis heute hat kein Staat der Welt von dem „Fast-EU-Land“ klare Rechenschaft
gefordert.
Beatrice Rohner und andere Zeitzeugen konnten nicht vergessen.
Sie schrieben die Bilder, die sich ins Gedächtnis brannten, nieder: in Briefen, Berichten
und Tagebüchern. Fünfundneunzig Jahre nach dem Morden hat der deutsche Regisseur Eric
Friedler diese Originalstimmen wieder zum Leben erweckt. „Wir geben diese schriftlichen
Aussagen wieder. Nicht mehr und nicht weniger haben wir getan. Und diese Aussagen
sprechen ihre eigene Sprache.“ In seinem Dokumentarfilm „Aghet“ (gesprochen „Achret“,
übersetzt „die Katastrophe“) geben Schauspielergrößen wie Martina Gedeck, Gottfried
John und Joachim Król den Zeugen des ersten Völkermordes des 20. Jahrhunderts ein
Gesicht. „Es war das Ziel, diese Menschen, die damals im Osmanisch-Türkischen Reich
anwesend waren – Krankenschwestern, Missionsschwestern, Missionsärzte, Missionare,
Diplomaten, Botschafter, Politiker, Journalisten – die das, was sie gesehen und erlebt
haben, schriftlich protokolliert haben, wieder lebendig werden zu lassen, um ganz
authentische Aussagen, wie in einer Interviewsituation, wiederzugeben.“
Die
Quellen zum Genozid schlummern weltweit in Archiven, auch ganz in der Nähe, zum Beispiel
im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. In verschiedenen Ländern hat
Friedler recherchiert und Historiker und Wissenschaftler befragt, um den Verlauf des
Völkermords zu rekonstruieren. Auch Vertreter der armenischen Diaspora wie der ehemalige
armenische Außenminister Rafi Hovannisian kommen zu Wort. Für deutsche Ohren ist das
freilich nicht immer angenehm. „Wir bringen das ganz konsequent zur Sprache, dass
Deutschland genau über alle Geschehnisse informiert war und vieles oder das meiste
ignoriert hat aufgrund von Staatraison, weil Deutschland und das Osmanisch-türkische
Reich damals Bündnispartner waren und strategisch-wirtschaftliche Überlegungen dominiert
haben statt in irgendeiner Form einzuschreiten.“ Schauspieler Gottfried John nennt
als deutscher General Kreß von Kressenstein die deutsche Mitverantwortung am Völkermord
deutlich beim Namen. Der minimalistisch gehaltene Film deckt Schicht um Schicht die
strikte Systematik eines unfassbaren Verbrechens auf.
Beklemmend und
authentisch klingt es, wenn dabei auch bis heute unbesungene Heldinnen und Helden
entdeckt und ihre Schicksale offenbart werden. „Wir haben in dem Film auch ganz
klar Positionen wie die des Botschafters Graf Metternich, die alles genau gesehen
haben und versucht haben zu intervenieren, die ihre Regierung mehrfach aufgefordert
haben, den Geschehnissen Einhalt zu gebieten, die aber verzweifelt sind. Botschafter
Metternich wurde abgezogen nach nur zehn Monaten, weil der türkische Bündnispartner
ihn als untragbar erachtete, weiter in der Türkei zu verbleiben. Er musste wieder
nach Deutschland zurückkehren, weil er ganz klar sagte, er wolle nicht weiter mit
ansehen, wie der Bündnispartner weiter mordet.“ Widerständige Täter und mutige
Chronisten – der Film zeichnet ein differenziertes Bild, ohne pauschal Schuld zuzuweisen.
So lässt Regisseur Friedler zum Beispiel den Schriftsteller Amin T. Wagner, damals
deutscher Sanitätsoffizier im Osmanischen Heer, davon erzählen, wie viele türkische
Beamte sich den Mordbefehlen verweigerten.
Am 24. April gedenken Armenier
weltweit dem Mord an ihrem Volk. Dass die Türkei nicht bis zum hundertsten Jahrestag
des Genozids wartet, um Verantwortung zu übernehmen, dazu kann der Film „Aghet“ vielleicht
ein Stück weit beitragen. Zwischen den Opfern und Tätern liegt die Geschichte. „Aghet“
ruft sie ins Gedächtnis. An diesem Freitag um 23.30 Uhr im Ersten Deutschen Fernsehen.