Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann sieht die katholische Kirche wegen der Missbrauchsfälle
in einer tiefen Krise. In einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom
Donnerstag schreibt Lehmann, die Kirche dürfe sich nicht wundern, wenn sie jetzt an
jenen Kriterien gemessen werde, mit denen sie selbst sonst ihre sittlichen Überzeugungen
vertrete. Es habe „keinen Sinn, mit dem Finger zuerst auf andere zu zeigen“, so der
Kardinal wörtlich. Die Kirche werde „auch als Institution ins Mark getroffen, wenn
wir das gelebte Zeugnis des Evangeliums Jesu Christi verweigern“. Zugleich zeigt er
sich aber auch erleichtert darüber, „dass nun vieles an den Tag kommt“.
Lehmann
gesteht ein, dass die Kirche, ebenso wie die Wissenschaft, Pädophilie und damit auch
die Fähigkeit von Tätern zur Umkehr und zur Heilung lange Zeit überschätzt habe. „Im
guten Glauben haben wir uns oft auf den erklärten guten Willen verlassen“, schreibt
der Kardinal. „Deshalb kam es auch zu den falschen und schon seit längerer Zeit gewiss
unverzeihlichen Praktiken, einen überführten und manchmal auch rechtskräftig verurteilten
Täter einfach an eine andere Stelle zu versetzen.“ Lehmann nennt es tragisch, dass
die Lehre der Kirche zwar nie einen Zweifel daran geduldet habe, dass jede Form von
sexuellem Missbrauch verwerflich sei, „die Verantwortlichen in der Kirche im eigenen
Umfeld in manchen Fällen aber doch nicht mit der letzten Akribie und Unabhängigkeit
lückenlose und unbestechliche Aufklärung betrieben haben“.
Der frühere Vorsitzende
der Deutschen Bischofskonferenz führt diesen Umstand auf mehrere Ursachen zurück:
Die Einstellung, „sich mehr um die Täter kümmern zu müssen als um die Opfer“, den
Versuch, „durch schnelles Abwehren und Verdecken eines Verdachts oder gar einer Verfehlung
die Institution Kirche und gerade auch Amtspersonen unter allen Umständen vor einem
Makel zu bewahren“ sowie hier und da „Kumpanei, wie sie in manchen geschlossenen Systemen"
möglich sei. Zugleich nimmt Lehmann die Bischöfe gegen den Vorwurf der Untätigkeit
in Schutz. Die seit 2002 geltenden Leitlinien der Bischofskonferenz hätten sich im
Grundsatz bewährt. Zu bedenken sei bei einer Revision, ob die kircheninternen Ermittlungen
in neutrale Hände gelegt und ob die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden
in jedem Einzelfall zur Pflicht gemacht werden sollte. Bedacht werden muss nach den
Worten des Kardinals auch, „inwieweit die priesterliche Lebensform in höherem Maß
pädophil veranlagte Männer anziehen kann, zumal im Blick auf ein Engagement in kirchlichen
Einrichtungen“.