Wir dokumentieren
hier die Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr.
Robert Zollitsch, in der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Frühjahrsvollversammlung
der Deutschen Bischofskonferenz am Fest Kathedra Petri, den 22. Februar 2010 im Münster
Unserer Lieben Frau, Freiburg.
Bei Anklicken des Podcast-Symbols hören Sie
einen Audio-Zusammenschnitt der Predigt.
Lesung: 1 Petr 5,1-4; Evangelium:
Mt 16,13-19
„In der Gemeinschaft des Glaubens Zukunft erfahren“
Liebe
Mitbrüder im bischöflichen Amt, werte Gäste, Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft
des Glaubens!
In seiner Ansprache zur Eröffnung des 85. Deutschen Katholikentages
1978 hier in Freiburg, der unter dem Leitwort stand „Ich will euch Zukunft und Hoffnung
geben“, wies mein Vorgänger Erzbischof Oskar Saier auf die entscheidende Grundlage
hin, auf die es bei jedem Tun ankommt: „Es geht zuallererst darum, dass wir offen
werden für Gott und uns nicht im Dickicht eigener Analysen und Pläne verlieren. Der
Gang zur Quelle des Lebens, der Wahrheit, der Liebe, also zu Jesus Christus, ist Voraussetzung,
dafür, dass wir in fruchtbarer Weise miteinander überlegen, reden und leben.“ Wir,
liebe Mitbrüder, beginnen unsere Frühjahrsvollversammlung deshalb wie immer ganz bewusst
mit dem Gang zur Quelle des Lebens, der Wahrheit und der Liebe. Ja, wir wollen uns
öffnen für Gott, liebe Schwestern, liebe Brüder, und feiern daher gemeinsam hier im
Münster Unserer Lieben Frau Eucharistie. Seit acht Jahrhunderten lädt dieses Gotteshaus
die Menschen ein, hierher zu kommen, um sich bei IHM, Jesus Christus, zu versammeln,
bei IHM, der unser Leben trägt und ihm Sinn und Ziel gibt, der uns zur Gemeinschaft
des Glaubens ruft und zusammenführt. Unser Einzug führte uns vorbei an den lebensgroßen
Figuren der Apostel, die an den mächtigen Pfeilern des Mittelschiffes stehen. Sie
erinnern an die Worte der Offenbarung des Johannes: „Die Mauer der Stadt (des neuen
Jerusalem) hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die Namen der zwölf Apostel“ (Offb
21,14). Die Kirche ist, wie der Apostel Paulus sagt, „auf das Fundament der Apostel
und Propheten gebaut“ (Eph 2,20). Auf dieses Fundament verweist uns explizit das Fest
Kathedra Petri, das wir heute feiern. Auf Petrus, den Felsen, den Ersten des Apostelkollegiums,
hat Jesus Christus seine Kirche gegründet. In der Nachfolge des heiligen Petrus und
der Apostel steht in Gemeinschaft mit dem Papst die Communio der Bischöfe, unser Bischofskollegium.
In der Nachfolge der Apostel tragen wir in Treue zum Evangelium, das sie verkündet
haben, Verantwortung für die Kirche in Deutschland: Damit sich immer mehr Menschen
öffnen für Gott; damit das Evangelium auch heute verkündet wird, um den Menschen Mut
und Hoffnung aus dem Glauben zu bringen und so zuversichtlich und voll Vertrauen gemeinsam
den Weg in die Zukunft zu gehen. Es ist in meinen Augen eine schöne Fügung, dass wir
gerade am Fest Kathedra Petri unsere Frühjahrsvollversammlung 2010 eröffnen dürfen.
So können wir uns vertieft unserer Verbundenheit mit dem Heiligen Vater, dem Nachfolger
Petri, und untereinander – ja mit der Kirche in der ganzen Welt – bewusst werden.
Dies ist ein ermutigender Ausgangspunkt für unsere Beratungen in den kommenden Tagen.
Die Communio der Kirche, die Communio der Bischöfe, die weltweite Gemeinschaft des
Glaubens stärkt uns und gibt Zuversicht.
Unser Freiburger Münster, ja jedes
Gotteshaus, ist Ausdruck einer beeindruckenden Gemeinschaftsleistung. Menschen ganz
unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters haben ihre Fähigkeiten eingebracht
und ihre Fertigkeiten eingesetzt, damit die Kirche wächst. Sie haben ihre ganze Kunstfertigkeit
und ihr fachliches Können zur Verfügung gestellt – nicht, um sich selbst ein komfortables
Eigenheim zu zimmern, sondern um Gott ein Haus zu bauen. Wir wissen uns mit all denen
verbunden, die über die Jahrhunderte hier gebetet und sich Kraft geholt haben für
ihr Leben aus Glaube, Hoffnung und Liebe; die uns durch ihr Zeugnis diesen Ort der
Sammlung anvertraut haben. Ja, Kirche ist von Gott geschenkte und von Menschen geprägte
Gemeinschaft. Damit versinnbildlicht unser Gotteshaus etwas von dem, was das Zweite
Vatikanische Konzil so formuliert hat: „Gott hat es gefallen, die Menschen nicht einzeln,
unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung zu heiligen und zu retten, sondern
sie zu einem Volk zu machen“ (LG 9). Aus vielen lebendigen Steinen entsteht Kirche.
Und der Schluss-Stein, der alles zusammenhält, ist Jesus Christus (Eph 2,20). Diese
Gemeinschaft im Glauben entfaltet dort ihre Kraft und ihre Wirkung, wo aus dem Nebeneinander
ein Miteinander und Füreinander wird; wo ich im anderen meinen Nächsten sehe; wo mir
selbst der Fremde zum Bruder, die Fremde zur Schwester in Christus wird.
Wo
Gemeinschaft ist, liebe Schwestern, liebe Brüder, da ist Beziehung. Wo Beziehung ist,
da ist Leben. Und Leben ist nicht statisch, sondern dynamisch. Wir sind als Kirche
unterwegs auf den staubigen Straßen der Geschichte. Wir sind unterwegs als pilgerndes
Gottesvolk, als eine Kirche, die immer wieder der Erneuerung bedarf; eine Kirche,
die nicht in der Routine aufgeht und keine Angst hat vor dem Neuen [1]. Auch davon
spricht unser Münster: Bis heute ist es eine Baustelle. Die Münsterbauhütte, die Baugerüste
und der Maschinenlärm zeugen davon. An mehreren Stellen arbeiten Steinmetzen und ersetzen
angegriffene Krabben, Fialen, Wasserspeier, Strebepfeiler. Seit ich das Münster kenne,
wird an ihm gebaut, werden beschädigte Teile erneuert. Es scheint auch bei uns zu
gelten, was die Kölner sagen: Wenn am Dom nicht mehr gebaut wird, ist das Ende der
Welt da. Ja, hier wird eindrucksvoll sichtbar, was zum Wesen der Kirche gehört: „Ecclesia
semper reformanda“ (vgl. LG 9 und UR 6), eine Kirche, die stets der Erneuerung bedarf
und zu Veränderungen bereit sein muss.
Von Anfang an, liebe Schwestern, liebe
Brüder, ist die Kirche, die Gemeinschaft der Glaubenden, keine perfekte und vollkommene,
sondern eine angefochtene: Jesus berief Levi, den korrupten Zollbeamten (Mk 2,13-17);
er kannte die aufbrausenden „Donnersöhne“ Johannes und Jakobus unter seinen Aposteln
(Mk 3,17). Er erlebte, wie ein Petrus fest in seinem Glauben an ihn als den Messias
stand und ihn dann doch verleugnete (Mk 14,66-72); wie ein Thomas zweifelte und erst
dann, als er den auferstandenen Herrn berührte, ausrief: „Mein Herr und mein Gott“
(Joh 20,28).
So weiß der Herr auch um unsere Grenzen – und wir erleben sie
immer wieder. Wir sind eine Kirche, die auch auf Menschen gebaut ist – mit all unseren
Stärken, aber auch unseren Fehlern und Schwächen. Wir bleiben hinter dem Anspruch
des Evangeliums leider häufig zurück. Wir haben den dumpfen Nachhall auch von Jahrzehnten
zurückliegenden Verfehlungen, die menschliche und dunkle Seite der Kirche und der
Gesellschaft in den vergangenen Tagen und Wochen schmerzlich erfahren müssen. Vertrauen
wurde auf abscheuliche Weise missbraucht und zerstört. Wir sind erschüttert über das
Verhalten von Kirchenvertretern und Erziehern. Wir leiden mit den Opfern, die wir
um Verzeihung bitten. Wir erleben, was der Apostel Paulus meint, wenn er sagt: Wir
tragen unseren Glauben „in zerbrechlichen Gefäßen“ (2 Kor 4,7). Wir machen Fehler,
wir laufen Gefahr, uns im Dickicht eigener Pläne und Wege zu verlieren. Wo Vertrauen
zwischen Menschen zerstört wird, da ist auch die Gemeinschaft mit Gott erheblich gestört.
Wie gehen wir damit um? Wir stehen am Anfang der österlichen Bußzeit, die
wir am Aschermittwoch begonnen haben. Sie lädt uns in besonderer Weise ein, den Weg
der Umkehr zu gehen. Jesu Ruf am Beginn seiner Verkündigung: „Kehrt um und glaubt
an das Evangelium!“ (Mk 1,15) gilt der Kirche und jedem Menschen zu jeder Zeit. Was
heißt das: Umkehren und an das Evangelium glauben? Die Evangelien zeigen uns Menschen,
die sich zunächst auf dem Holzweg befinden, die sich in eine Sackgasse verrannt haben;
und sie zeigen uns dann, wie diese Menschen durch Umkehr zur wahren Freiheit finden.
Erinnern wir uns etwa an Zachäus, den Zöllner, der sein Herz öffnet und Jesus einlässt
(Lk 19,1-9). Oder an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der seine vermeintliche Freiheit
bald als Unfreiheit erlebt. Er kehrt um zum Vater, der ihn in seine offenen Arme schließt
und er erfährt wahre Freiheit (vgl. Lk 15,11-24). Da sind die beiden Emmausjünger.
Sie gehen traurig von Jerusalem weg, verlassen enttäuscht die Gemeinschaft der Jünger.
Als Jesus ihnen begegnet, kehren sie um, zurück nach Jerusalem, zurück in die Gemeinde
der Jünger und sie sind voller Freude (vgl. Lk 24,13-35). Das ist es, was Jesus
will: Dass wir uns auf seine Botschaft einlassen, dass wir nicht ein wenig oder zeitweise
die Richtung ändern, sondern entschlossen eine Kehrtwende machen, uns für Gott öffnen
und unser Leben aus der Kraft und Perspektive des Evangeliums bestreiten. Jetzt,
in der österlichen Bußzeit, liebe Schwestern, liebe Brüder, zieht hier im Münster
das große, vierhundert Jahre alte Hungertuch, das den Hochaltar verdeckt, unwillkürlich
unseren Blick auf sich. Den Mittelpunkt bildet die überlebensgroße Darstellung Jesu
Christi: Unser Leben als Christen ist auf Jesus Christus ausgerichtet. Er ist es,
der uns Leben, Licht und Orientierung schenkt auf unserem Weg in die Zukunft. Darum
dürfen wir voll Vertrauen nach vorne schauen, weil Jesus uns den Weg weist und mit
uns geht. Er ist es auch, an dem es für uns Christen stets Maß zu nehmen gilt – auch
wenn wir hinter seiner Liebe und seinem Vorbild immer wieder zurückbleiben. Wir
werden in diesen Tagen auf unserer Frühjahrsvollversammlung nüchtern auf die Gegenwart
schauen, aber auch realistisch in die Zukunft blicken. Unsere Konferenz hat hier in
Freiburg, der Stadt der Caritas, einen eindeutigen Schwerpunkt. Wir stellen uns den
Fakten und Perspektiven der demographischen Entwicklung in unserem Land. Wir tun dies
unter dem Thema „Die alternde Gesellschaft als Herausforderung für die Kirche“. Unsere
Lebenserwartung wird höher und zugleich werden seit Jahren immer weniger Kinder geboren.
Wir wollen einen eigenen Studientag diesen Fragen widmen und gemeinsam überlegen,
was dies für unsere Gesellschaft insgesamt, aber auch für die Seelsorge und für die
Pflege und Pflegedienste bedeutet. Wer sich sein Leben lang in unsere Gesellschaft
eingebracht hat, muss sich auch im Alter willkommen und geachtet wissen. Er verdient
es, dass er gefragt ist und sich und seine Erfahrung einbringen darf und soll – und
auch, dass er sozial abgesichert ist. Jede Gesellschaft lebt von gemeinsamen Werten,
vom Mit¬einander und Füreinander, von der Solidarität. Wir müssen alles tun, dass
die Schere in unserer Gesellschaft nicht weiter auseinander geht, weil allzu viele
nur an sich und kaum an die anderen denken. Es liegt an uns, dafür einzutreten, dass
Alter nicht Isolation und Einsamkeit oder gar Armut bedeutet. So manches in der Diskussion
der letzten Wochen erfüllt mit Sorge. Wir spüren schnell, dass dort, wo man Gott außen
vor lassen will, unser Land immer mehr zu einer Gesellschaft des Nebeneinander wird,
zu einer Gesellschaft, die auseinander zu driften droht und in der der eine immer
weniger für den anderen und das Ganze aufzubringen bereit ist. Wir Bischöfe werden
bei diesem Treffen auch unseren Dienst an der Gesellschaft in den Blick nehmen und
überlegen, wie wir in nächster Zeit und längerfristig unsere christlichen Werte und
Anliegen verstärkt in unsere Gesellschaft einbringen können. Unser Land und unsere
Gesellschaft fragen mit Recht nach dem Beitrag der Kirchen – gerade auch im Blick
auf die Zukunft. Wir werden den Blick über unsere Fragen hinaus auf die Weltkirche
richten. Wir haben Gäste aus der Weltkirche unter uns – auch aus Haiti. Der Blick
auf die Weltkirche lässt uns zugleich dankbar erkennen, wie die Saat des Evangeliums
aufgeht und der christliche Glaube wächst. Dies schärft auch den Blick für das viele
Gute in unserem Land: für die große Spendenbereitschaft unserer Gläubigen, für das
breite ehrenamtliche Engagement so vieler, für das tragende soziale Netz und die vielfältige
Arbeit in unseren caritativen Einrichtungen. Auch wenn in der Einschätzung vieler,
die nach Schlagzeilen suchen, „nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten“ sind, so
dürfen wir nicht übersehen, dass es viel Gutes gibt in unserem Land, in unserer Gesellschaft,
in unserer Kirche. Davon lebt jede Familie, davon lebt unsere Gesellschaft, davon
lebt unsere Kirche. Dafür sind wir dankbar. Dankbarkeit, die oft vergessen wird; Dankbarkeit,
die aber Augen und Herz für Gott und unsere Mitmenschen öffnet. Je mehr wir dazu beitragen,
dass die Menschen sich dessen bewusst werden, umso mehr wachsen Gemeinschaft und Verantwortung;
umso mehr wird unsere Gesellschaft zur Gemeinschaft; umso mehr fassen wir Mut, gewinnen
wir Hoffnung und schöpfen Vertrauen. Trotz aller Grenzen und allen menschlichen
Versagens dürfen wir Christen uns nicht verstecken. Uns ist eine Hoffnung geschenkt
und eine Perspektive gegeben, die tragen. Sie tragen, weil sie nicht aus uns kommen,
sondern weil Gott sie uns zuspricht. Unser Münster zeugt seit Jahrhunderten von dieser
Kraft des Glaubens und der Hoffnung. Zeigen auch wir heute unserer Welt, dass Gott
mit uns ist und wir mit Gott durchs Leben gehen und darum einer vom anderen empfängt
und einer den anderen trägt. Dann werden viele erfahren, was Gottes Zusage bedeutet:
„Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“. Amen.
[1] Kasper, Walter: Kirche
- wohin gehst du? Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils, Paderborn
1994, S. 20.